Ein sensationeller Fund von Briefen zeigt den Dichter als Berichterstatter aus dem Krieg. Dem französischen Kaiser wünscht er unverhohlen den Tod.
In Napoleon (rechts) erkannte Heinrich von Kleist seinen Todfeind, der das Verhängnis über Preussen gebracht hatte.
Am 22. Mai 1809 erklimmt Heinrich von Kleist einen Hügel bei Wien. Mit dem Fernrohr schaut er Richtung Südosten und gleichzeitig ins eigene Herz. Beim Kampfgetümmel Zehntausender Soldaten fühlt sich der Dichter heroisch erhoben. Er sieht das Ende der Schlacht bei Aspern, die Niederlage, die die österreichischen Truppen Napoleons Heer bereiten. Noch den Kanonendonner im Ohr, schreibt er am nächsten Tag an seinen Freund Joseph von Buol: «Es ist mir unschätzbar, dass ich den Kampf, der die Freiheit von Deutschland entschied, mit Augen gesehen habe.» Was er noch gesehen hat: «Die Strasse, die wir gefahren sind, ganz von Blessierten bedeckt.»
Selten sind Schauplätze der Weltliteratur symbolisch so gut ausgeschildert wie hier. Heinrich von Kleist, der adelige preussische Offizierssohn, glaubt sich nach einer von Fieber begleiteten Reise endlich am Ziel. Als schreibender Todfeind Napoleons bei dessen Vernichtung mit dabei zu sein, ist das eine. Das andere ist der Glaube, dass die deutsche Nation nun gerettet werden kann.
Als publizistisches Begleitfeuer hat Kleist wütende lyrische Tiraden gegen die französischen Besatzer im Gepäck und sein nationalistisch-hetzerisches, noch ungedrucktes Drama «Die Hermannsschlacht». Der 31-jährige, bis dahin weitgehend erfolglose Schriftsteller sieht sich schon vor einer Karriere als Stimme neuer und glanzvoller Zeiten.
Die Euphorie wird sich nicht lange halten. Am 5. und 6. Juli 1809 findet die Schlacht bei Wagram statt. Österreichs Erzherzog Karl verliert den Fünften Koalitionskrieg gegen Napoleon. Heinrich von Kleist ist ein Häufchen Elend und reist in Etappen nach Berlin. Die Spuren dieser Reise sind verwischt, über Monate gibt es keine Korrespondenz.
Nachrichten aus dem Krieg
Umso grösser ist die Sensation, dass jetzt Briefe über die Expedition des Dichters nach Wien aufgetaucht sind. Mit dem bedeutendsten Fund von Kleist-Autografen seit über hundert Jahren lässt sich nicht nur ein entscheidender Wendepunkt im Leben Kleists rekonstruieren. Die Briefe illuminieren auch das Innenleben eines Zerrissenen.
Es ist ein kurzer Weg von der Euphorie über den Ausgang der Schlacht bei Aspern bis zu jenem kurz nach Wagram geschriebenen «Klagegesang», in dem autobiografisch das Los des vaterländischen Autors beschrieben wird. «Machtlos schlägt sein Ruf an jedes Ohr», heisst es da. Der imaginäre Dichter schliesst sein Lied, «er wünscht mit ihm zu enden, / Und legt die Leier weinend aus den Händen».
Auf abenteuerlichem Weg sind die fünf Briefe der Jahre 1809 und 1810 in die Archive des Tiroler Landesmuseums gelangt und dort nach einer nicht weniger abenteuerlichen Suche des Germanisten Hermann F. Weiss entdeckt worden. Sie stammen aus den Hinterlassenschaften des ehemaligen österreichischen Legationsrates Joseph von Buol-Berenberg, der in Dresden zu Kleists deutsch-nationalem Freundeskreis gehörte. Dass Buol, der Mitkonspirant gegen Napoleon, ein enger Freund war, kann man vermuten. In kühnem Überschwang setzt Kleist die Zeilen «Adieu mein liebster Freund; ich drücke einen heissen Kuss auf Ihre Lippen» unter einen Brief vom 24. Juli 1809.
Nahe Wien agiert der Dichter als eine Art Kriegsberichterstatter für Buol. Mit wirkungsbedachtem Schwung schildert Heinrich von Kleist, was er selbst sieht oder was ihm zugetragen wird. Furioses Geschick beweist das österreichische Heer, wenn es die feindlichen Truppen «kanonirt», wie man dem Brief vom 23. Mai 1809 entnehmen kann. «Erzherz. Carl haubizirte sie mörderisch». Die Franzosen stecken in Sümpfen und Gebüschen an der Donau fest, «immer enger zusammengepresst».
Einen politstrategischen Kommentar hat der Schriftsteller auch zur Hand: «Man hat jetzt die fr. Armee auf dem Punct, um an ihr Rache zu nehmen, für Ulm und Jena und Austerlitz; und ich denke, der Erzh. Carl wird diesen Augenblick nicht entschlüpfen lassen.» Die genannten Orte symbolisieren den Aufstieg Napoleons über europäische Schlachtfelder. Vor allem die Niederlage Preussens bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 radikalisiert Heinrich von Kleist.
Eine Kugel für den Diktator
Die Linien zwischen den Napoleon-Apologeten unter den deutschen Intellektuellen der Zeit und den Gegnern sind klar gezogen. Kleists Intimfeind Goethe gehört zu den Bewunderern des französischen Kaisers genauso wie der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Am Vorabend der grossen Schlacht wird Hegel in Jena angesichts des leibhaftigen Napoleon von «einer wunderbaren Empfindung» ergriffen, wie er selbst schreibt: «Ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt hinausgreift und sie beherrscht.»
In seinem idiosynkratischen Verhältnis zum Kaiser der Franzosen ist es aber ausgerechnet Kleist und nicht Hegel, der hier den Weltgeist beschwört. «Warum sich nur nicht einer findet, der diesem bösen Geiste der Welt die Kugel durch den Kopf jagt. Ich möchte wissen, was so ein Emigrant zu tun hat.» Paradox dabei: In einem Anfall von Umnachtung und Todessehnsucht hatte sich Kleist 1803 darum bemüht, in Napoleons gegen England aufgestellte Truppen aufgenommen zu werden. Auf irgendeinem Schlachtfeld zu sterben, schien ihm eine wenig anrüchige Form von Selbstmord.
Kleists Blick auf das Phänomen Napoleon ist modern. Er erkennt, dass der Aufstieg des nichtdynastischen Kaisers an seine Siege gebunden bleibt. Jede kleine Niederlage könnte das symbolische Kapital augenblicklich vernichten. Europas Herrscherhäuser denken in Jahrhunderten, aber der Mann, den Kleist als «Allerwelts-Konsul» bezeichnet, braucht jeden Erfolg, um das Pyramidenspiel rund um den schnellen Aufstieg zur Macht nicht zu gefährden.
In einem Brief vom 24. Juli trauert Kleist der bei Wagram vertanen Chance nach und meint, dass «der erste widerwärtige Vorfall, der einen von der Gunst des Volkes emporgehobenen Parvenü träfe, denselben völlig darin stürzen würde». In Napoleon sieht Kleist, ohne es ahnen zu können, schon den Typus heutiger Diktatoren wie Putin. Er erkennt den erfolgreichen PR-Aufwand rund um Napoleon, der sich vom volksnahen politischen Hoffnungsträger nach der Französischen Revolution zum Gespenst wider die Freiheit verwandelt.
Szenarien der Gewalt
Kleist ist der Überzeugung, dass man Herrschern wie diesen nur durch vernichtende und endgültige Niederlagen beikommen kann. Grausamkeit ist dabei ein Mittel der Wahl. Jene Grausamkeit, die auch durch das Werk Heinrich von Kleists schillert.
In der Novelle «Das Erdbeben in Chili» sind es Naturgewalten, die «Marquise von O» ist die verschlüsselte Geschichte einer Vergewaltigung, und das Drama «Penthesilea» schildert die höchste Eskalationsstufe der Liebe: den Hass. Hier werden Küsse zu Bissen. Im Kannibalismus am Ende des Stücks, als Penthesilea Achill zu Tode beisst, wird aus Begehren Mord. «Der ganze Schmutz zugleich und der Glanz meiner Seele», stecke darin, hat Kleist geschrieben. Heiner Müller hat es etwas anders gesagt. Der Dichter gehe «mit seinen Stoffen um wie ein Triebtäter mit einer Frau».
Sich selbst immer nur halb durchschauend, hat Kleist den Blick auf das Drama menschlicher Affekte geöffnet. So ist es auch kein Zufall, dass sich die Modernität seines Werks parallel zu den Affekthaushalten offizieller Politik entwickelt hat. Das hält dieses Werk auf seltsam mehrschichtige Art modern.
«Die Hermannsschlacht» ist ein krudes Agitprop-Drama, das den mythischen Freiheitskampf Hermann des Cheruskers gegen die Römer symbolisch mit dem Kampf Preussens gegen Napoleon in eins setzt. Hermann, «der Befreier Germaniens», wie ihn Tacitus nennt, ist Kleists unheiliger Heiliger. Als Springteufel des Völkischen hat der Nationalsozialismus die Figur der «Hermannsschlacht» einzusetzen gewusst. Natürlich aber kann man das Stück auch gegen den Strich lesen. Dann ist es Aufklärungsarbeit über ein kollektives Unbewusstes, über völkische und ideologische Raserei.
In den jetzt aufgetauchten Briefen Heinrich von Kleists zeigt sich das in Klarsicht und Wahn gespaltene Ich besonders deutlich. Mit erhitzter Begeisterung arbeitet der Dichter zu dieser Zeit an einem Zeitungsprojekt, das «Germania» heissen soll, und schreibt blutrünstige Gedichte.
Ein letzter Sprung in den Abgrund
Der Zusammenprall von Kleists hochfliegenden patriotischen Plänen und der Realität hat fast schon slapstickhafte Züge. Mit seinem Begleiter, dem Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, wandert Kleist im Mai 1809 ganz ungerührt über das Schlachtfeld bei Aspern. Beide werden aufgegriffen und für französische Spione gehalten. Um das Gegenteil zu beweisen, zieht der Schriftsteller ein paar Hymnen auf den österreichischen Kaiser Franz aus der Tasche, was die anwesenden Offiziere noch mehr irritiert. Nur sehr mühsam lässt sich die Lage beruhigen.
Der romantische Dichter, der das Debakel des Individuums auch immer in die grossen politischen Zusammenhänge hineinprojiziert hat, kennt keine Kompromisse. Alles oder nichts, Aufstieg oder Fall. Kleist hat sein eigenes Leben auf tragische Weise in dieser Dichotomie geführt. Er ist ein vielfach Gescheiterter. Zu Lebzeiten kaum gelesen und kaum gedruckt, den früh mit Emphase zurechtgelegten «Lebensplan» verfehlend, immer in Geld- und Liebesnöten.
Sein gemeinsam mit der Freundin Henriette Vogel am Ufer des kleinen Wannsees inszenierter Selbstmord ist ein letzter, willentlich vollzogener Sprung in den Abgrund. Ein Ereignis, das als Akt der Verzweiflung, aber auch als symbolische Tat von Kleist schon angekündigt war. Einen Tag vor seinem Tod am 21. November 1811 betrauert Kleist sich selbst in einem Brief an die Schwester Marie – und zwar seines Lebens wegen: «das allerqualvollste, das je ein Mensch geführt hat».
Eine weitere Sensation, die sich im jetzt gefundenen Brief-Konvolut findet: der Hinweis auf ein bisher unbekanntes Werk des Dichters und preussischen Nationalisten mit dem Titel «Don Quixote». Sollte es je gefunden werden, es könnte von einem Ritter trauriger Gestalt handeln, wie Heinrich von Kleist einer war.