Die geplante Umsetzung einer EU-Verordnung sorgt in Deutschland für heftige Kontroversen. Ein Experte schlägt aufgrund der schwammigen Formulierungen der Bundesnetzagentur Alarm.
Eine neue EU-Verordnung soll sicherstellen, dass illegale Inhalte im Internet zügiger gelöscht werden. In Deutschland wird das Gesetz durch zertifizierte Meldestellen umgesetzt. Diese Stellen sind dafür zuständig, Inhalte zu prüfen und den digitalen Plattformen zu melden. Dafür gibt es einen eigenen Leitfaden der Bundesnetzagentur.
Der Verfassungsrechtler Josef Franz Lindner schrieb auf X über den Leitfaden für Meldestellen: «Wenn man später einmal den Niedergang der Meinungsfreiheit in Deutschland und den Einstieg in den Zensurstaat rekonstruieren will», werde dem Leitfaden zu den Trusted Flaggern «die Rolle eines Schlüsseldokuments zukommen».
Die geplante Umsetzung des Digital Service Act (DSA) durch die Bundesnetzagentur mittels beauftragter Meldestellen sorgt für heftige Kritik, insbesondere von Verfassungsrechtlern und Juristen, die, wie Lindner, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit bedroht sehen. Der EU-Leitfaden will private Etikette-Polizisten im Internet motivieren und fördern. Der Leitfaden der Behörde, der nun in den sozialen Netzwerken kursiert, hat die Bedenken noch verstärkt.
Denn dieser enthält eine Liste von «unzulässigen Inhalten». Gerichtet ist die Liste an sogenannte Trusted Flagger, also «vertrauenswürdige Hinweisgeber». Diese sind Organisationen, deren Mitarbeiter das Internet nach problematischen Inhalten durchforsten. Sie suchen nach Hassrede oder Terrorpropaganda und sollen ihre Ergebnisse den Plattformbetreibern melden, auf denen die Inhalte erschienen sind. Dadurch soll die EU-Verordnung umgesetzt werden.
Leitfaden ist laut Verfassungsrechtler unpräzise
Josef Franz Lindner, Rechtswissenschafter an der Universität Augsburg, erläutert seinen getweeteten Vorwurf gegenüber der NZZ: «Der Leitfaden nennt nicht nur unpräzise gefasste, sondern auch rechtlich kaum greifbare Bereiche unzulässiger Inhalte.»
Lindner kritisiert, dass die Definitionen noch unklarer würden, weil im Leitfaden der Begriff «Andere» stehe. Beispielsweise heisst es unter dem Punkt «Online-Mobbing»: «Stalking», «Sexuelle Belästigung» und eben «Andere». Das könne alles heissen, meint Lindner warnend. Und damit zu willkürlichen Entscheidungen darüber führen, welche Inhalte als illegal gelten und welche nicht.
Laut dem Leitfaden können auch solche Inhalte geprüft, gemeldet und entfernt werden, die «negative Auswirkungen auf den zivilen Diskurs oder Wahlen» haben. Unter einem Unterpunkt wird konkretisiert, dass das etwa «Ausländische Informationsmanipulation und Einmischung» betreffen würde. Doch wer trifft diese Entscheidungen – wer bestimmt, ob ein Inhalt Wahlen oder Diskussionen beeinflusst? Eine Antwort liefert der Leitfaden nicht. Wie problematisch sich diese Unschärfe auswirken kann, zeigt ein Fall des bayrischen Verfassungsschutzes.
Meldestelle «Respect!» von Bundesnetzagentur zugelassen
Dieser musste kürzlich seinen eigenen Bericht korrigieren, da er fälschlicherweise mehreren Medienmarken die Verbreitung «russischer Narrative» unterstellt hatte. Das Beispiel zeigt, dass Behörden im Kampf gegen ausländische Informationsmanipulation durchaus irren können.
Dass die Mitarbeiter von Meldestellen nicht ähnlichen Fehleinschätzungen unterliegen würden wie der Verfassungsschutz, ist fraglich. Ein vorschnell gelöschter Inhalt käme einer Zensur im Internet gleich. Es läge dann am Nutzer, den Rechtsweg zu beschreiten.
Anfang Oktober hat die deutsche Bundesnetzagentur den ersten Trusted Flagger in Deutschland zugelassen: Die Meldestelle «Respect!», die in Baden-Württemberg sitzt, kann nun ihre Arbeit aufnehmen. Auf der Website der Meldestelle können Besucher direkt «Hetze melden». Die Meldestelle besteht bereits seit 2017. Seit ihrer Gründung sind mehr als 70 000 Meldungen eingegangen.
Über ein simples Kontaktformular können Nutzer den jeweiligen Fall beschreiben, einen Screenshot hochladen und Beratung erbitten. «Wir wenden uns an alle, die im Netz auf Hasskommentare stossen und etwas dagegen unternehmen möchten», schreibt «Respect!» auf ihrer Homepage.
Kubicki: «EU-Verordnungen sind nicht sakrosankt»
In einem Gastbeitrag für das Magazin «Cicero» kommentierte der Bundestagsvizepräsident und FDP-Politiker Wolfgang Kubicki die Einführung der Trusted Flagger und fragte: Warum «der Staat einen privaten Dritten mit dem Aufspüren solcher Inhalte» beauftrage?
Auch den Leitfaden der Bundesnetzagentur betrachtet der Rechtsanwalt Kubicki mit Skepsis: «Diese Liste enthält Offensichtliches, wie beispielsweise Holocaustleugnung oder Kinderpornografie.» Aber dies wäre zunächst einmal ein Fall für die Staatsanwaltschaft, so der FDP-Politiker.
Kubicki betonte, dass seine Kritik sich jedoch nicht gegen den deutschen Gesetzgeber oder die Bundesnetzagentur richte, sondern gegen das europäische Recht. «EU-Verordnungen sind keine göttlichen Eingebungen und nicht sakrosankt.» Er resümiert in seinem Text: «Zu oft haben wir in der deutschen Geschichte einmal erstrittene Grundrechte preisgegeben.»