Mythen der Konsumwelt: Vier Irrtümer über die Lebensmittelverschwendung – und was Konsumenten tatsächlich tun können, um Food-Waste zu vermeiden.
«In der Schweiz wird jedes dritte Lebensmittel weggeworfen. Pro Kopf sind das 329 Kilogramm pro Jahr und insgesamt 2,8 Millionen Tonnen.» Diese Aussage darf in keinem Artikel über Food-Waste fehlen.
Aber es gibt ein Problem: Die Zahlen vermitteln einen falschen Eindruck. Wir stellen die vier wichtigsten Irrtümer zum Food-Waste dar. Gleichzeitig zeigen wir, wo es tatsächlich wichtige Hebel zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung gibt.
Irrtum 1: Es gibt präzise Zahlen zum Food-Waste
329 Kilogramm Lebensmittelverluste pro Person und Jahr – das klingt eindrücklich. Die immer wieder zitierte Zahl stammt aus einer Studie der ETH Zürich von 2019. Das Bundesamt für Umwelt hatte einen Grundlagenbericht in Auftrag gegeben, um einen politischen Aktionsplan gegen Food-Waste auszuarbeiten. Die Studie versucht auf Basis einer Vielzahl von Datenquellen abzuschätzen, wie viele Lebensmittel auf dem Weg vom Feld bis zum Teller verlorengehen.
In der öffentlichen Debatte meist unerwähnt bleibt allerdings, dass es sich um eine Schätzung mit vielen Unsicherheitsfaktoren handelt. «Man sollte sich nicht auf die konkreten Zahlen fixieren», sagt der Hauptautor und Food-Waste-Experte Claudio Beretta, der heute an der Zürcher Hochschule ZHAW arbeitet. «Die Studie illustriert die Grössenordnungen.» Was sich verlässlich sagen lasse, sei, dass es in der Schweiz einen beträchtlichen Food-Waste gebe. «Es lohnt sich, etwas dagegen zu unternehmen – allein deshalb, weil man mit wenig Aufwand viel für den Umweltschutz tun kann.»
Irrtum 2: Migros und Coop sind die grossen Sünder
Wenn man die Schweizer Bevölkerung fragt, wo nach ihrer Einschätzung der meiste Food-Waste entsteht, dann wird an erster Stelle der Detailhandel genannt. Das mag an Bildern im Kopf liegen von herabgesetzten Lebensmitteln, die kurz vor Überschreiten des Haltbarkeitsdatums in den Filialen vergünstigt verkauft werden.
In einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2019 schätzte die Bevölkerung den Anteil der Supermarktketten an der gesamten Lebensmittelverschwendung auf 27 Prozent. Danach folgten gleichauf die Haushalte und die Gastronomie mit 22 Prozent.
Doch die Realität ist eine andere. Migros, Coop und andere Detailhändler entsorgen wenig Lebensmittel. Ihr Anteil am gesamten Food-Waste in der Schweiz liegt laut den Schätzungen der ETH-Studie bei 5 Prozent (wenn man noch den Grosshandel dazuzählt, kommt man auf 10 Prozent).
Die Supermarktketten haben ein grosses Interesse daran, möglichst effizient zu arbeiten. Jedes Produkt, das sie nicht verkaufen können, ist wirtschaftlich für sie ein Verlust. Die Detailhändler unterhalten deshalb optimierte Warenbewirtschaftungssysteme, damit nur so viele Produkte in die Filialen kommen, wie auch verkauft werden können.
Ein Beispiel ist die Migros. Laut Christine Wiederkehr-Luther, Leiterin der Direktion Nachhaltigkeit der Migros-Gruppe, werden knapp 99 Prozent der Lebensmittel in den Migros-Filialen verkauft oder gespendet. Wenn der reguläre Verkauf vor dem Ablaufdatum nicht klappe, würden Artikel zunächst zu reduzierten Preisen angeboten. In einem zweiten Schritt gebe man sie den Mitarbeitenden ab oder verwende qualitativ unbedenkliche Waren in den Migros-Restaurants.
Zudem arbeitet die Migros wie andere Detailhändler mit caritativen Organisationen wie der «Schweizer Tafel» oder «Tischlein deck dich» zusammen. Diese holen Lebensmittel, die kurz vor dem Ablaufdatum stehen, in den Supermärkten ab und verteilen sie an Bedürftige. Die Detailhändler spenden die Lebensmittel und zahlen einen Betrag an die Logistik der Hilfsorganisationen, denn sie können so auch Entsorgungskosten sparen. Schliesslich hat die Migros im Jahr 2022 laut Wiederkehr-Luther rund 300 000 Lebensmittelpakete über die Smartphone-App «Too Good To Go» abgegeben, die unverkaufte Produkte stark vergünstigt an Selbstabholer vermittelt.
Der grösste Teil des Food-Waste fällt also nicht bei den Detailhändlern an. Die Orte mit der meisten Verschwendung sind andere: die Haushalte und die Nahrungsmittelindustrie. Beide stehen laut den ETH-Zahlen für rund ein Drittel der Lebensmittelverluste in der Schweiz.
Irrtum 3: Die Lebensmittel landen allesamt im Müll
Es mag überraschen, dass gerade in Verarbeitungsbetrieben viele Lebensmittel verlorengehen – also beispielsweise in Getreidemühlen, Käsereien oder Fleischverarbeitungsbetrieben. Denn die Unternehmen haben ein finanzielles Interesse daran, Rohstoffe möglichst vollständig zu verwerten. Für den scheinbaren Widerspruch gibt es jedoch eine einfache Erklärung: Die Firmen werfen gar nichts weg. Food-Waste bedeutet nicht zwingend, dass Lebensmittel im Müll landen.
Ein Beispiel ist das Brot. Laut den ETH-Schätzungen fällt beim Brot rund die Hälfte des Food-Waste in den Müllereibetrieben an. Für diesen hohen Wert gibt es zwei Gründe. Einerseits bauen die Schweizer Landwirte zu viel Brotgetreide an. Rund 30 Prozent der Ernte werden laut der ETH-Studie zu Futtermittel deklassiert und an Tiere verfüttert. Anderseits fragen die Schweizer Konsumenten vor allem helles Brot und nur wenig Vollkornprodukte nach. Bei der Herstellung von Weissmehl in den Müllereien fällt als Restprodukt viel Kleie an, die zwar für den Menschen sehr nahrhaft wäre, aber hauptsächlich für die Tierfütterung verwendet wird.
Ähnlich ist es beim Käse. Bei der Herstellung entstehen als Nebenprodukt grosse Mengen von Molke. Rund ein Viertel davon wird für Menschen weiterverarbeitet, zum Beispiel als Molkegetränk. Aber der grösste Teil geht in die Schweinefütterung oder wird als Proteinfutter für die Aufzucht von Ferkeln und Kälbern eingesetzt.
Vergleichbares passiert beim Fleisch, dem Lebensmittel mit dem grössten Umweltfussabdruck. «Aus Respekt vor dem Tier streben wir die Vollverwertung an», heisst es bei Micarna, dem Fleischverarbeitungsbetrieb der Migros. Von einem geschlachteten Huhn beispielsweise gehen 65 Prozent in Produkte für den menschlichen Verzehr – Pouletbrust, Schenkel, Flügel und Charcuterie. Aber es gibt auch Teile, die Schweizer Konsumenten nicht kaufen wollen, obwohl sie essbar sind, wie Hälse oder gewisse Innereien. Aus den restlichen 35 Prozent macht Micarna deshalb sogenannte Nutzprodukte. Das ist hauptsächlich Tierfutter für Katzen und Hunde.
Ist es Food-Waste, wenn Lebensmittel nicht in menschlichen Mägen landen, sondern in jenen von Tieren? Die Frage ist auch unter Experten umstritten. «Wenn Nahrungsmittel, die ursprünglich für den Menschen hergestellt worden sind, als Futter für Tiere verwendet werden, dann zählen wir das in der Wissenschaft zu den Lebensmittelverlusten», sagt der Forscher Claudio Beretta. Der Grund dafür sei, dass es effizienter wäre, wenn die Menschen direkt die entsprechenden Nahrungsmittel verzehren würden. Praktiker halten dagegen, dass Nährstoffe nicht verlorengingen, sondern in der Verwertungskette blieben. Sie wollen in diesem Zusammenhang nicht von Food-Waste sprechen.
Klar ist: Die Nahrungsmittel landen bei den Verarbeitungsbetrieben nicht im Müll. Das gilt im Übrigen für den grössten Teil des Food-Waste in der Schweiz.
Laut der ETH-Studie werden 37 Prozent der nicht von Menschen verzehrten Lebensmittel in der einen oder anderen Form für die Tierfütterung verwendet. Weitere 19 Prozent gehen über Grüntonnen in Vergärungsanlagen. Dort entsteht Biogas, das von Haushalten und Unternehmen zum Heizen verwendet wird.
Ferner fallen 13 Prozent der Lebensmittelverluste an, weil Pflanzen bei der Ernte auf dem Feld liegen bleiben – ein Beispiel sind zu kleine Kartoffeln. Allerdings sind auch diese Nahrungsmittel nicht gänzlich verloren. Sie werden von den Bauern untergepflügt, was die Bodenfruchtbarkeit verbessert.
Schliesslich landen rund 17 Prozent der Lebensmittelverluste im Müllsack. Die Kehrichtverbrennungsanlagen stellen daraus Strom und Fernwärme her. Auch dies hat einen Wert. Jedoch gilt dieser Weg als die ineffizienteste Form der Verwertung von Lebensmitteln.
Irrtum 4: Die Konsumenten können wenig tun
Auch wenn es die Schweizer Bevölkerung selbst nicht so wahrnimmt: Am meisten Lebensmittel werden in den Haushalten weggeworfen. Wenn Brotanschnitte, welkes Gemüse oder Essensreste im Müll landen, handelt es sich tatsächlich um Verschwendung. Einerseits entsteht ein ökonomischer Verlust: Die Konsumenten haben Geld für ein Produkt ausgegeben, das sie nicht verzehren. Anderseits ist der Umweltschaden bei den Haushalten besonders gross: Je weiter der Weg ist, den ein Lebensmittel in der Kette vom Feld bis zu den Konsumenten bereits zurückgelegt hat, desto grösser sind der Ressourcenverbrauch und der ökologische Fussabdruck.
Die Haushalte haben ebenfalls ein finanzielles Interesse, Lebensmittelverschwendung zu vermeiden. Aber dieser Anreiz scheint wenig zu wirken. Das erstaunt, denn Konsumenten könnten viel tun.
«Die Vermeidung von Food-Waste ist eine tief hängende Frucht», sagt der Experte Claudio Beretta. «Es ist ein Bereich, in dem Konsumentinnen und Konsumenten mit wenig Aufwand viel für den Umweltschutz bewirken können.» Sie müssen dafür nicht einmal verzichten – wie es etwa bei einer Reduktion des Fleischkonsums oder von Flugreisen nötig wäre. Es reicht, bewusster einzukaufen und weniger wegzuwerfen.
Worauf können Konsumentinnen und Konsumenten konkret achten?
- Haltbarkeitsdaten werden immer noch häufig falsch interpretiert. Nur die Bezeichnung «zu verbrauchen bis» heisst, dass ein Produkt zwingend bis zu jenem Tag verzehrt werden muss. Hingegen bedeutet «mindestens haltbar bis» eigentlich «oft länger gut». Joghurts beispielsweise sind oft noch zwei Wochen nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums bedenkenlos geniessbar – mit Augen und Nase lässt sich das leicht erkennen. Bei Teigwaren beträgt die Frist ein Jahr oder mehr.
- Konsumenten machen oft den Fehler, dass sie zu viel einkaufen – und die Mengen dann nicht verzehren können. Ein einfaches Gegenmittel ist, vor dem Einkaufen mit dem Smartphone ein Foto des Kühlschrankinhalts zu machen.
- Wenn Food-Waste anfällt, sollte dieser wenn möglich nicht in den Müll gegeben werden. Bei den meisten Produkten ist es ökologischer, sie zu vergären (Biogasproduktion) oder zu kompostieren, statt sie mit dem Kehricht zu verbrennen.
- Der Schaden ist am grössten, wenn Lebensmittel mit einem grossen ökologischen Fussabdruck verschwendet werden. Das sind vor allem tierische Produkte wie Fleisch, Butter, Käse oder Eier. Wenn beispielsweise ein halbes Kilogramm Rindfleisch weggeworfen wird, ist das von der Umweltbelastung her gleichbedeutend mit der Entsorgung von 20 Broten oder 54 Kopfsalaten. Konsumenten sollten sich also überlegen, wo sie mit Verhaltensänderungen am meisten für den Umweltschutz tun können.