Chaïm Soutine war ein Künstler voller Widersprüche. Das Kunstmuseum Bern widmet dem Aussenseiter eine grosse Schau.
Das Leben des Malers Chaïm Soutine ist eine wundersame Erfolgsgeschichte und zugleich eine Tragödie. Als Chaïm Solomonowitsch Sutin wurde er 1893 in Smilawitschy geboren, einem weissrussischen Dorf in der Nähe von Minsk. Er war das zehnte von elf Kindern eines Flickschusters und kannte in seiner Jugend nichts anderes als Armut und die strenge Glaubensgemeinschaft im jüdischen Schtetl.
Bildermalen war verpönt. Doch der junge Chaïm Soutine setzte sich durch und erlernte schliesslich in einer Malschule in Minsk die Anfänge seines Handwerks. Der Wille, sich künstlerisch auszudrücken, muss in ihm wie ein natürlicher Instinkt gewesen sein. Die Malerei war seine Sprache. Das wusste er, ohne es in Worte fassen zu können.
Von Minsk zog Soutine an die Akademie in Vilnius und von dort nach Paris. Am Ort seiner Sehnsucht angekommen, war er glücklich, suchte die grossen Maler in den Museen und hauste in heruntergekommenen Ateliers. Er fand Freunde und Förderer wie den Maler Amadeo Modigliani. Doch die Armut nahm er mit. Auch in Paris war sie für ihn anfangs so selbstverständlich wie in seiner Jugend. Soutines chronisches Magenleiden, an dem er mit knapp fünfzig Jahren sterben sollte, hat wohl im unsteten Leben dieser frühen Jahre seine Ursache. Der Hunger war sein Begleiter. Oft legte er sich abends, ohne zu essen, einfach neben seinen Bildern schlafen.
Als der amerikanische Millionär und Kunstsammler Albert C. Barnes ein Bild von Soutine sah und spontan kaufen wollte, musste er den Schöpfer des Werks – das Porträt eines Kochs – erst einmal suchen. Sein Chauffeur fand Soutine schmutzig und abgerissen auf einer Parkbank. Barnes liess ihn ein Bad nehmen und neu einkleiden. Später kaufte er 51 weitere Bilder des Malers. Die Bezahlung des Kunstsammlers war nicht sehr üppig, doch Soutine konnte sich ab da eine Wohnung leisten und einen besseren Lebensstil. Der Ankauf von Barnes hatte indes spektakuläre Wirkung in der Szene. Schon wenige Jahre später erzielten Bilder von Soutine 10 000 Francs und mehr.
Die Geschichte klingt wie ein Märchen, und für Soutine war sie wohl auch wundersam. Doch er blieb ein Aussenseiter in Paris, seiner Wahlheimat. Er schloss sich keiner Bewegung an, seine Vorbilder waren einzig die grossen Meister in den Museen. Er eignete sich die Kunst an, die er für sich nutzen konnte und die ihn überzeugte: Rembrandt, Cézanne, van Gogh. Alles wandelte er zu einem unverkennbar eigenen Stil. Instinktiv schien er zu wissen, dass sein Malen immer direkter Ausdruck von ihm selber war. Soutine ist nicht verwechselbar.
Chaïm Soutine: «Le cuisinier de Cagnes», um 1924, Öl auf Leinwand (links); «Glaïeuls», 1919, Öl auf Leinwand (rechts).
Krass und ungeschönt
Menschen, Tiere, Bäume, Häuser – alles ist von gewaltsamer Bewegung erfasst. Wellen gehen durch Landschaften wie Erdbeben, Gesichter schauen uns aus Porträts gleichsam in existenzieller Nacktheit entgegen. Tierkadaver in Stillleben scheinen noch immer zu leiden wie Opfer brutaler Gewalt. Soutines Bilder sind ungeschönt; er wühlt in den Farben, als müsste er diese dem Fleisch anverwandeln. Was kam da aus ihm heraus? Der Maler scheint sich mit jedem seiner Motive zu identifizieren. Auch heute noch wirkt vieles krass durch die mit leuchtender Farbschönheit gepaarte Gewalt. Soutine ist expressiv, aber kein Maler des Expressionismus erreicht solche Intensität.
Genau dieses Alleinstellungsmerkmal von Motiv und Malweise machte Soutine bereits zu Lebzeiten zu einem Künstler für Künstler. Die Retrospektive im Kunstmuseum Bern geht auf dieses Phänomen ein und lässt in einem parallel zur Ausstellung realisierten Film Künstler der Gegenwart zu Wort kommen. Auch der Engländer Francis Bacon, der nicht dabei ist, nannte Soutine immer als seinen wichtigen Impulsgeber. Die Resonanz des Werks war in Amerika, Frankreich und England gross, während die deutschen Expressionisten es eher ignorierten. In jedem Fall saugt es noch heute die Blicke an und zeigt einmal mehr, dass Soutine eine extrem eigenwillige Wahrnehmung der Welt besass.
Eine schwierige Beziehung hatte er zu seinen Modellen. Er brauchte sie, denn ohne direkte Anschauung konnte er überhaupt nicht malen. Er umfasste die Dorfkinder, Dienstmädchen und Hotelpagen mit seiner ganzen Empathie, und zugleich machten sie ihn wütend, wenn sie müde und lustlos wurden. Die Malsitzungen waren für beide Seiten anstrengend, und wahrscheinlich waren die Modelle eher abgestossen von dem, was Soutine aus ihnen machte.
Er malte ihre Unsicherheit und ihr Misstrauen, ihre Ängste und ihre Ärmlichkeit. Die Gesichter sind meist verformt, die Hände riesig. Wir erfahren im Grunde nichts über diese Porträts von Menschen der unteren Schichten, denen sich Soutine zweifellos nahe fühlte. Ihr ganzes Dasein liegt im Auge des Malers, der uns lehrt, wie er selber sah.
Chaïm Soutine: «Le groom», 1925, Öl auf Leinwand (links); «Le tzigane», 1926, Öl auf Leinwand (rechts).
Ein Gezeichneter
War Soutine eine empathische Persönlichkeit? Auf den wenigen Fotos, die es von ihm gibt, sieht er naiv und seltsam verschlossen aus, als käme die Aussenwelt nicht wirklich an ihn heran. Selten sieht man ihn lächeln. Schriftliches hat er wenig hinterlassen. Wer etwas über die Wesensart des Malers wissen will, muss auf die Erzählungen anderer zurückgreifen. Erst viele Jahre nach dem Wegzug aus Smilawitschy nahm er Kontakt mit der Heimat auf. Anders als Chagall, der sein Witebsk gleichsam nach Paris mitnahm und zeitlebens verklärte, hatte Soutine seine Herkunft offenbar bewusst hinter sich gelassen. Er meldete sich 1914 sogar als Freiwilliger bei der französischen Armee. Sein Magenleiden sorgte allerdings für eine rasche Entlassung.
Lässt man die Stationen von Soutines Leben Revue passieren und parallel dazu seine Kunst, verdichtet sich der Eindruck, dass er ein Gezeichneter war. Er fand nirgends Ruhe, obwohl Frankreich erklärtermassen seine neue Heimat war. Auch in der Zeit seines Erfolgs wechselte er mehrmals im Jahr die Wohnung, lebte oft bei Freunden und Förderern seiner Arbeit. Die dramatische Wendung, die sein Leben mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung von Paris durch die Nationalsozialisten nahm, konnte er nicht mehr verkraften. Soutine bewegte sich ab 1941 illegal im Untergrund und versteckte sich bei Bekannten aus der Widerstandsbewegung. Zwei Jahre später starb er nach einer Magenoperation in einem Pariser Krankenhaus.
Geht man durch die Ausstellung in Bern, durch das Chaos der Landschaften, die anrührenden Menschenbilder und Tierstillleben, wird immer wieder deutlich, dass das Werk als Ganzes wie eine Interpretationsfläche ist. In allem sehen wir das Wesen des Malers – seinen Blick, seine Suche und sein Leiden. Umso mehr, da er nur wenig über seine Bilder gesagt hat. In seiner Kunst ist er anwesend. Chaïm Soutine war ein Künstler voller Widersprüche, ein Getriebener, der es an einem Ort nie lange aushielt. Sein Ort war in der Malerei, nur dort konnte er sich selbst sein.
Chaïm Soutine: «Le poulet pendu devant un mur de briques», 1925, Öl auf Leinwand (links); «La tricoteuse», um 1924/25, Öl auf Leinwand (rechts).
«Chaïm Soutine. Gegen den Strom». Kunstmuseum Bern, bis 1. Dezember.