Zur Zeit des Nationalsozialismus gab es eine illustre deutschsprachige Gemeinde in der Türkei, auch wegen der vielen Exilanten. Ein Jahr vor Kriegsende änderte sich die Situation aber schlagartig.
Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist eng, komplex und vielschichtig. Besonderen Anteil daran haben die drei Millionen Menschen türkischer Herkunft, die in Deutschland leben – und die noch grössere Zahl derer, die nach einiger Zeit in Deutschland in die alte Heimat zurückgekehrt sind.
Doch die engen Beziehungen reichen weit vor die Ankunft der ersten Gastarbeiter in den sechziger Jahren zurück. Das deutsche Kaiserreich war mit der Hohen Pforte verbündet. Kaiser Wilhelm II. und Sultan Abdülhamid pflegten engen Kontakt. Die Bagdad-Bahn fällt einem ein und die preussischen Militärberater, die zur Modernisierung der osmanischen Armee beitrugen – aber auch die deutsche Gleichgültigkeit gegenüber dem Massenmord an den Armeniern 1915.
Atatürk holte in der Zwischenkriegszeit ebenfalls deutsche Gelehrte und Experten ins Land, um seine junge Republik zu modernisieren. Unter ihnen waren viele, die in Deutschland von den Nazis verfolgt wurden, wie der spätere Regierende Bürgermeister Berlins Ernst Reuter oder der Architekt Bruno Taut, die beide an der neugegründeten Hochschule von Ankara unterrichteten. Für sie und viele andere wurde die Türkei zum rettenden Exil. All das ist hinlänglich bekannt.
Zwangsumsiedlung in die Provinz
Ein weitgehend unbekanntes Kapitel der deutsch-türkischen Zeitgeschichte beleuchtet nun aber das Orient-Institut in Istanbul. Das deutsche Forschungsinstitut am Bosporus zeichnet das Schicksal deutschsprachiger Bewohner der Türkei nach, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nach Anatolien zwangsumgesiedelt wurden. Die Ausstellung wird auch an ausgewählten Orten in Deutschland und Österreich zu sehen sein.
Die Türkei blieb im Krieg lange neutral. Als nach der Schlacht von Stalingrad der Krieg weitgehend entschieden war, brach Ankara auf Drängen der Alliierten am 3. August 1944 doch noch die diplomatischen Beziehungen zu Berlin ab. In der Folge mussten innert weniger Tage alle Menschen mit deutschem Reichspass, also auch Österreicher, entweder das Land verlassen oder in die interne Verbannung gehen. Ausgenommen waren hohe Angestellte im Staatsdienst, Ärzte oder Universitätsprofessoren wie die eingangs genannten Wissenschafter Reuter und Taut.
Mehr als 600 Personen, jüdische oder kommunistische Flüchtlinge, aber auch die sogenannten Bosporus-Deutschen, deren Vorfahren bereits im 19. Jahrhundert nach Istanbul gekommen waren, und sogar einige Nazi-Sympathisanten zogen in eines der drei zugewiesenen Städtchen östlich von Ankara: Corum, Yozgat und Kirsehir.
Intervention des späteren Papsts
«Der Umsiedlungsbefehl löste Panik aus. Die Menschen dachten, sie würden interniert», erzählt der stellvertretende Leiter des Orient-Instituts, Richard Wittmann, der die Ausstellung konzipiert hat. Bei den Betroffenen schwangen Bilder aus den Lagern in Nazi-Deutschland mit. Auch war die Erinnerung an den Massenmord an den Armeniern noch wach, der ebenfalls mit Umsiedlungsbefehlen einherging.
Angelo Giuseppe Roncalli, der damalige Erzbischof von Istanbul und spätere Papst Johannes XXIII., erklärte im August 1944: «Alle Deutschen im Land werden in Konzentrationslager gesteckt!» Roncalli bat deutschsprachige Geistliche aus dem österreichischen St.-Georgs-Werk in Istanbul, das Land nicht zu verlassen, sondern sich um die Verbannten zu kümmern. Die Aufzeichnungen des Priesters Siegfried Pruszinsky sind für Wittmanns Forschung eine wichtige Quelle.
Dasselbe gilt für den Nachlass des Künstlers und Philologen Traugott Fuchs. Fuchs war 1934 seinem Marburger Professor Leo Spitzer nach Istanbul gefolgt, der als Jude bereits kurz nach der Machtergreifung emigriert war. Während der Verbannung in Corum malte Fuchs Dutzende Alltagsszenen aus dem Leben in Zentralanatolien. Als einer der wenigen deutschen Emigranten kehrte er nach Kriegsende nach Istanbul zurück, wo er bis zu seinem Tod 1997 blieb.
«Halbherzige Verbannung»
Die Sorge der Deutschen über lagerähnliche Zustände in Anatolien war unbegründet. Die Umgesiedelten mussten auf die Annehmlichkeiten einer Grossstadt verzichten und waren am neuen Ort zahlreichen Einschränkungen unterworfen. Feindselig sei die neue Umgebung aber nicht gewesen, sagt der Historiker Wittmann. Der Kontakt zur lokalen Bevölkerung war gut.
«Wie heute immer noch war man den Deutschen in der Türkei damals grundsätzlich wohlgesinnt.» Die Anordnung aus Ankara sei deshalb mit einer gewissen Nachlässigkeit umgesetzt worden. Anders wäre sie der türkischen Bevölkerung auch gar nicht vermittelbar gewesen. Wittmann spricht von einer «halbherzigen Verbannung». Daran änderte auch die offizielle türkische Kriegserklärung ans Deutsche Reich im Februar 1945 nichts.
Nach Kriegsende erklärte Präsident Ismet Inönü offenherzig, man habe den Bruch mit Deutschland nur auf äusseren Druck vollzogen. Ankaras damit verbundene Hoffnung, in der Nachkriegsordnung vom Status einer Siegermacht zu profitieren, blieb aber unerfüllt.
Denn die Türkei war der wichtigsten alliierten Forderung nie nachgekommen: der direkten Teilnahme am Kampfgeschehen. Vielleicht war die Türkei auch deshalb nur wenige Jahre später der erste Staat nach den USA, der 1950 eigene Truppen in den Koreakrieg entsandte. Das türkische Engagement in Korea war ein wichtiger Wegbereiter für die Aufnahme in die Nato.
Vielschichtige Verbindungen
In den drei anatolischen Provinzstädten erinnert heute nichts mehr an die verbannten Menschen aus dem Westen, ausser einigen persönlichen Erinnerungen und Familiengeschichten lokaler Bewohner. In einer Videoinstallation erzählt Ülkü Schneider-Gürkan in ihrer Wohnung in Frankfurt, wie sie als junges Mädchen die fremden Menschen in ihrer Heimatstadt Corum erlebt hat.
Die Lebensgeschichte der heute 85-jährigen Frau ist selber ein Beispiel für die Vielschichtigkeit der deutsch-türkischen Geschichte. Ein Jahrzehnt nachdem sie den verbannten Deutschen in ihrer anatolischen Heimat begegnet war, fuhr die Tochter kemalistischer Bürokraten 1956 zum Studium nach Frankfurt.
Statt Zahnmedizin, wie von den Eltern gewünscht, studiert sie dort Politik und hört Vorlesungen von Adorno und Abendroth. Mit ihren Sprachkenntnissen findet sie eine Stelle bei der Gewerkschaft und wird zu einer der wichtigsten Fürsprecherinnen der türkischen Gastarbeiter in der Bundesrepublik.
Später sollte sie einen Sohn türkischer Einwanderer in Schwaben kennenlernen und ihn ermutigen, in die Politik zu gehen. Heute ist Cem Özdemir der erste Minister einer deutschen Bundesregierung mit Wurzeln in der Türkei.