Fouad Ahidar und Bart De Wever triumphierten bei den belgischen Wahlen. So unterschiedlich sie auch agieren: Beide verkörpern eine gespaltene Gesellschaft, in der Rechtsextreme erstmals an die Macht kommen.
Ausser dass sie belgische Politiker sind und bei den Lokalwahlen vom Sonntag zu den grossen Siegern gehören, haben Fouad Ahidar und Bart De Wever wenig gemeinsam. Nichts illustriert dies so anschaulich wie ihr Verhältnis zum israelischen Staat: Der eine verachtet ihn, der andere unterstützt ihn bedingungslos. Ahidar verdankt seine Popularität der grossen muslimischen Gemeinschaft in Belgien, die sich von den traditionellen Parteien nicht genügend vertreten fühlt. De Wever holt seine Stimmen bei jenen Bürgern, die genau diese Bevölkerungskreise kritisch beäugen und dabei Tendenzen zur Parallelgesellschaft erkennen. Und doch beeinflussen sich die beiden gegenseitig und stehen symbolisch für ein Land, das tief gespalten ist.
Ahidar, der als Sohn marokkanischer Einwanderer im flämischen Landesteil geboren wurde, seit der Kindheit aber in der Brüsseler Gemeinde Molenbeek wohnt, ist in der belgischen Politik kein unbeschriebenes Blatt. Seit 2004 amtet er als Abgeordneter des Regionalparlaments, während einer Legislatur gar als dessen Vizepräsident.
Lange Jahre politisierte der fünffache Familienvater bei den Sozialdemokraten. Sein eigentlicher Aufstieg begann aber ausgerechnet mit einem Eklat. Im Nachgang der Hamas-Greueltaten vom 7. Oktober 2023 sagte Ahidar öffentlich, dass die Bevölkerung von Gaza seit 75 Jahren «massakriert» werde und die Terrorattacke lediglich «eine klitzekleine Antwort» darauf gewesen sei. Er entschuldigte sich später dafür, goss aber gleichzeitig zusätzliches Öl ins Feuer, indem er Israels Kriegsführung im Gazastreifen mit der Shoah verglich. Eine Strafanzeige von jüdischen Organisation ist hängig.
Eine Partei nur für ihn
Das war auch für die israelkritischen Sozialdemokraten zu viel: Sie wollten ihn bei den folgenden Wahlen mit dem letzten Listenplatz bestrafen. Doch Ahidar zog selbst die Reissleine und gründete im Handumdrehen eine Partei, die nunmehr ganz auf ihn zugeschnitten ist: das Team Fouad Ahidar.
Seiner Popularität scheint der Eklat nicht geschadet zu haben, im Gegenteil: In vier Gemeinden des Grossraums Brüssel, die zusammen mehr als eine halbe Million Einwohner haben, erreichte das «Team» am Sonntag über oder knapp 10 Prozent der Stimmen. Dass es allesamt Stadtviertel mit einem überdurchschnittlichen Anteil von Bewohnern mit Migrationshintergrund sind – auf Gemeindeebene haben Ausländer unter gewissen Voraussetzungen das aktive Wahlrecht –, erstaunt nicht sonderlich.
Zwar vereinigt Ahidars Wahlprogramm klassische Themen wie die Forderung nach mehr Sauberkeit und Sicherheit im öffentlichen Raum oder den Zugang zu bezahlbarem Wohnraum. Das Wort Islam kommt auf 23 Seiten nicht vor. Aber der Absolvent einer Ausbildung zum Sozialarbeiter, den in diesen Vierteln praktisch jeder kennt, wurde in erster Linie darum gewählt, weil er Anliegen von muslimischen Bürgern transportiert.
So setzt er sich etwa gegen das Kopftuchverbot für Beamtinnen ein oder kämpft für das Recht auf rituelles Schächten. Seine bedingungslose Unterstützung für Palästina verleiht ihm im gegenwärtigen Kontext zusätzliche Sichtbarkeit. «Wir haben einen Leader gesucht – und wir haben einen gefunden», zitierte die Zeitung «La Libre» einen Molenbeek-Bewohner.
Ahidar wehrt sich gegen den Vorwurf, kommunitaristische Politik zu betreiben. Er sei Brüsseler und für alle Brüsseler da, sagt er. Aber er ist das Gesicht einer Bevölkerungsgruppe, deren streng religiöser Teil säkulare Errungenschaften des belgischen Bundesstaats ablehnt und dem radikalen Islamismus einen idealen Nährboden bietet. Nirgends zeigt sich dies besser als in den heruntergekommenen Vierteln im Westen Brüssels, in denen sich die Versäumnisse fehlender Stadtplanung türmen.
Vlaams Belang zum ersten Mal an der Macht
Gegen diese Tendenzen bildet sich politischer Widerstand von zahlreichen Seiten. Der Unmut gegen eine allzu multikulturelle Gesellschaft prägt – wie fast überall in Europa – auch in Belgien die politische Debatte. Rechte Parteien haben über das ganze Land hinweg Aufwind.
Die extremsten Ansichten vertritt der flämische Vlaams Belang. Weil dessen Positionen gegen die Zuwanderung, die EU oder das französischsprachige Wallonien derart weit gehen – und zuweilen offen rassistisch sind –, haben ihm die anderen Parteien per «cordon sanitaire» bisher den Zugang zur Macht versperrt. Doch nun ist das nicht mehr möglich: Zum ersten Mal in der Geschichte Belgiens hat der Vlaams Belang in der Provinzstadt Ninove eine absolute Mehrheit erreicht und wird mit Guy D’haeseleer fortan den Bürgermeister stellen können.
Gemässigter, dafür umso erfolgreicher agiert Bart De Wever. Er ist der belgische Politiker der Stunde. Aus den föderalen Wahlen vom Juni ging seine Neu-Flämische Allianz (N-VA) als stärkste Kraft hervor, nun bestätigte die Partei das Resultat auch auf lokaler Ebene. In Antwerpen, der zweitgrössten Stadt Belgiens, wurde der 53-Jährige am Sonntag mit einem Glanzresultat als Bürgermeister wiedergewählt.
Der Politiker im Quiz-Finale
Die N-VA ist vor gut zwanzig Jahren in einer politischen Landschaft entstanden, die nun deutlich polarisierter ist als zuvor. Parteien wie der Vlaams Belang, die erstaunlich erfolgreiche Arbeiterpartei oder auch Ahidars Team besetzen die Ränder. Der latent schwelende Konflikt zwischen den Sprachregionen erschwert die Zusammenarbeit zusätzlich. Die Neu-Flämische Allianz wirkt im Vergleich zu diesen Parteien geradezu staatstragend, ihre separatistischen Forderungen sind – obwohl noch immer prominent in den Statuten verankert – in den Hintergrund gerückt.
Experten streiten seit Jahren darüber, wie man die Partei einordnen soll. In der Ausländerpolitik fährt die N-VA jedenfalls einen harten Kurs, die Rhetorik ist prägnant. Erst vor wenigen Tagen sorgte De Wever für Aufsehen, als er nach dem Diebstahl einer Ambulanz sagte, dass solche Taten «fast immer von jungen Menschen mit nichteuropäischem Migrationshintergrund» ausgingen.
Dass er wandelbar ist, demonstrierte De Wever buchstäblich am eigenen Leib: 2012 nahm er innerhalb weniger Monate 60 Kilogramm ab und war danach kaum mehr wiederzuerkennen. Zudem ist er volksnah und vertraut seinem breiten Allgemeinwissen selbst vor laufender Kamera: Beim äusserst populären TV-Quiz «Der intelligenteste Mensch der Welt» scheiterte er 2010 erst im Finale, was wesentlich zu seiner Popularität beitrug.
Es wäre auch von besonderer Ironie, wenn der «begabteste Politiker seiner Generation» («La Libre») weiterhin mit Nachdruck auf eine Abspaltung Flanderns hinarbeiten würde. Denn er ist drauf und dran, nächster Ministerpräsident von ganz Belgien zu werden. Der König hatte ihn bereits im Juni mit der Regierungsbildung beauftragt, aufgrund von Differenzen unter den designierten Koalitionspartnern scheiterte der erste Anlauf aber. Nun, nach dem abgeschlossenen Wahlzyklus, scheint der Weg frei – die Verhandlungen gehen diese Woche wieder los. Es wäre für De Wever eine späte Genugtuung: Wenn er schon nicht der intelligenteste Mensch der Welt ist, so immerhin Regierungschef im Herzen Europas.