Ihr Schlepper kostete 5500 Dollar. Die Honduranerin Rita ist eine von schätzungsweise 11 Millionen Migranten, die sich illegal in Amerika aufhalten. Donald Trump verspricht, diese auszuschaffen. Also auch Rita?
Ihr Toyota hält etwas abrupt vor dem Bahnhof des Küstenstädtchens im Einzugsgebiet von New York City. Sie ist im Schuss, das ist sie eigentlich immer. Im Auto riecht es scharf nach Ammoniak, das als Fettlöser Putzmitteln beigefügt wird. An diesem Sonntagmorgen musste noch eine Wohnung gereinigt werden. Rita T.* arbeitet immer, wenn es Arbeit gibt, auch sonntags. Denn das Leben am Rand von New York ist teuer. Von ihren sechs Kindern leben vier noch bei ihr. Eine eigene Wohnung? Hat sie im Moment nicht.
Um 21 Uhr 30, sagt sie, müsse sie zurück im «shelter» sein, einer Unterkunft für Migranten, die von einer christlichen Stiftung finanziert wird und wo Ankömmlinge in der Umgebung von New York für kurze Zeit kostenlos Unterschlupf finden. Nach über 20 Jahren in den USA ist auch Rita zum ersten Mal in eine solche Notunterkunft gezogen.
Sie und ihre Familie leben dort in zwei kleinen Zimmern und teilen sich mit den anderen Bad und Küche. Es ging nicht anders. Während Covid haben sich bei ihr die Schulden angehäuft, und die Finanzen, sowieso immer knapp, sind aus dem Ruder gelaufen.
Rita wird von der Stiftung unterstützt, weil ihr Aufenthaltsstatus in den USA auch nach 20 Jahren immer noch derselbe ist. «Undocumented», sagen die Linksliberalen. Donald Trump und seine Anhänger sagen: illegal.
Wüster Wahlkampf um die Migranten
Kaum ein Thema wird im amerikanischen Wahlkampf so heftig diskutiert wie die Einwanderung. Diese nahm unter Joe Biden rasant zu und nach einschränkenden Massnahmen in letzter Zeit wieder ab. Donald Trump hingegen hatte zwischen 2017 und 2020 mit teilweise drastischen Massnahmen illegal eingewanderte Migranten abgeschreckt.
Im derzeitigen Wahlkampf beschuldigt Trump die Migranten, den Amerikanern die Jobs wegzunehmen. Mit seiner radikalen Rhetorik lässt er alte, rassistische Formeln wieder aufleben: Ihr Blut «vergifte» das Land. Haitianer ässen gar Hunde und Katzen. Schätzungen gehen davon aus, dass sich in den USA 11 Millionen Personen illegal aufhalten, rund 3 Prozent der Bevölkerung.
Den Rio Grande überquert Rita auf einem Schwimmring
Rita überquerte den Grenzfluss Rio Grande im Herbst 2003 an einer seichten Stelle auf einem grossen Schwimmring – ihre vierjährige Tochter Mia auf dem Bauch und ihren ungeborenen Sohn Allan im Bauch. Ihr Schlepper sagte ihr, sie solle auf der anderen Seite nach der Grenzwache Ausschau halten, die sie dann zum nächsten Ort mitnehme.
Diese griff die damals 19-Jährige wenig später auf und erfasste ihre Personalien. Rita erhielt ein Datum, an dem sie vor einem Richter hätte erscheinen müssen. Doch sie nahm den Termin nie wahr und tauchte stattdessen unter – wie Tausende Honduraner vor ihr. Ihr Aufenthaltsstatus wurde nie verhandelt.
«Damit habe ich», sagt Rita, «gegen das amerikanische Gesetz verstossen.» Donald Trump verspricht seinen Wählern, Internierungslager zu bauen und «Illegale» massenhaft abzuschieben. Rita wäre eine von ihnen, so surreal das für sie klingt.
Denn die 40-Jährige zieht Amerikaner gross. Fünf ihrer sechs Kinder sind in den USA geboren und haben den amerikanischen Pass. Wer nicht in den USA geboren wird, hat es schwer, Amerikaner zu werden. Heirat wäre eine Möglichkeit. Doch die Männer, in die sich Rita verliebte, waren Migranten wie sie, Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben, illegal im Land – so wie ihr jetziger Mann.
Von Amerika erwartet Rita, was Einwanderer seit Generationen vom Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten erwarteten: dass es sie ihr Leben leben lässt und ihr und ihren Kindern eine Zukunftsperspektive bietet. Diese Erwartung wird in Amerika zunehmend infrage gestellt.
Vor 22 Jahren: Schweizerin trifft Honduranerin
Ein Jahr vor ihrer Abreise, vor 22 Jahren, haben sich schon einmal unsere Wege gekreuzt: 2002 in einem Vorort der Stadt San Pedro Sula, der zweitgrössten Stadt im zentralamerikanischen Honduras. Rita lebte damals als 18-Jährige bei den Eltern ihres Freundes Elvin. Eine gemeinsame Schweizer Freundin, Barbara, wohnte damals in San Pedro Sula im gleichen Haushalt. Die kleine Mia versteckte sich während meines Besuchs zwischen den Beinen ihrer Mutter .
Rita war eine herzliche junge Frau, kleingewachsen, gewieft – und früh erwachsen. Sie wurde mit 15 Jahren zum ersten Mal Mutter. Die Schule hat sie vorzeitig beendet, einen Beruf hat sie nicht gelernt, wie viele Mädchen in Zentralamerika. Die Unterschiede zu mir, der jungen Schweizerin, hätten nicht grösser sein können. Mein Aufenthalt in Honduras war ein Sozialeinsatz in einem Land, von dem ich zuvor kaum etwas mitbekommen hatte. Nach meiner Abreise fand Rita viele Jahre nur in Erzählungen von Barbara statt.
Schon ihr Vater wanderte in die USA aus
Und so erfuhr ich von Barbara, dass Elvin ein Jahr nach meinem Besuch starb. Er sei ertrunken, hiess es. Wenig später reiste Rita in die USA. Bald kam die Nachricht, dass sie es geschafft habe und nun bei ihren Eltern angekommen sei.
Obwohl Elvin einer war, der sich von Drogenhandel und Bandenkriminalität fernhielt, regte der Vorfall daheim in der Schweiz unsere Phantasie an. In Honduras starben in den nuller Jahren täglich junge Männer. Der Drogenkrieg grassierte. San Pedro Sula galt mit fast 180 Toten pro 100 000 Einwohnern damals als eine der gefährlichsten Städte der Welt.
Schon Ritas Vater war 1988 in die USA ausgewandert und verdiente als Gelegenheitsarbeiter den Unterhalt für die Familie daheim. Es war ein Leben in Einsamkeit. Die Kinder sah er kaum aufwachsen. Er reiste damals mit dem Bus. Ein Schlepper war noch nicht nötig. Als die Kinder grösser waren, zog auch die Mutter nach New York.
Rita erinnert sich, wie die Familie ihrem «Kojoten», dem Schlepper, 5500 Dollar bezahlte. Es war ein Freundschaftspreis für eine junge Frau mit Kleinkind. Rita schlief in diesen zwölf aussergewöhnlichen Tagen ihrer Reise in der Hängematte, im Zelt, in einer einfachen Pension. Durch Mexiko reiste sie teilweise auf dem Pferd. Rita weiss, wie gefährlich für junge Frauen die Reise durch Zentralamerika sein kann. «Ich hatte Glück», sagt sie. «Ich fühlte mich immer sicher.»
Einzig als sie an einer Tankstelle «irgendwo in der texanischen Wüste», so Rita, mit ihrem Kleinkind die erste Nacht auf amerikanischem Boden verbrachte, stellte sie sich vor, was ihr jetzt alles Schlimmes passieren könnte. Sie deckte Mia mit einem Karton zu und kauerte sich neben sie, bis die Schwester von Elvin, die in Texas wohnt, endlich mit dem Wagen vorfuhr. Von Texas reiste Rita mit dem Bus weiter nach New York.
Wucherpreis für die Wohnung
Vom amerikanischen Staat dürfen Einwanderer nicht viel erwarten, schon gar nicht als «Illegale». In den USA muss man es selber schaffen. Rita bekommt ausser einer Art Kinderzulage keine staatliche Unterstützung, eine Krankenversicherung hat sie nicht. Rita bezahlt für vieles deutlich mehr als Personen mit einem legalen Status. Die Autoversicherung berechnet ihr den Maximalbetrag. Auch eine Kreditkarte gibt es nur zu teuren Konditionen.
Vor allem das Wohnen, sagt sie, sei hier im Einzugsgebiet von New York City eigentlich viel zu teuer für sie. Doch hier leben ihr Vater – ihre grosse Stütze –, der ihr mit den Kindern hilft, sowie ihre Onkel. Die Mutter ist vor ein paar Jahren an Krebs gestorben. Und hier gibt es Arbeit. Für die letzte Wohnung bezahlte Rita über 4000 Dollar pro Monat. Ihr Mann verdient 600 Dollar die Woche in einem mexikanischen Restaurant. Den Rest muss Rita verdienen, was gerade während der Pandemie fast unmöglich war.
In den USA gibt es eine Art unausgesprochenen Deal: Die amerikanischen Unternehmen erhalten billige Arbeitskräfte, Privathaushalte günstige Dienstleistungen, der Staat schaut weg. Firmen, Konsumenten, Migranten und Herkunftsländer – alle profitieren vom Deal. Rita hat nach ihrer Ankunft jahrelang bei der Fast-Food-Kette Dunkin’ Donuts gearbeitet. Der Einstiegslohn lag bei 8 Dollar 50 pro Stunde. Ihr Arbeitgeber verbuchte sie über eine gefälschte Sozialversicherungsnummer, wie das millionenfach im Land geschieht.
Rita gründete vor ein paar Jahren ihr eigenes Putzinstitut. Auch die Frauen, die sie beschäftigt, haben keinen legalen Aufenthaltsstatus. Sie bekommen von Rita 120 Dollar am Tag. Die Kunden sind es gewohnt, dass die Dienstleistung schnell und günstig ist. Nach dem Aufenthaltsstatus fragt hier niemand.
Auch die Steuerbehörde schaut weg
Auch die Steuerbehörde IRS will nicht wissen, ob jemand legal im Land ist. Sie will nur wissen, ob jemand Steuern zahlt. Das tut Rita, damit man ihr nichts vorwerfen kann, sollte sich einmal ein Weg zur Einbürgerung auftun. Über 60 Milliarden Dollar an Steuern haben Personen ohne legalen Status 2021 auf staatlicher, gliedstaatlicher und kommunaler Ebene bezahlt, rechnete der American Immigration Council aus.
Unter Ökonomen gibt es einen Konsens, dass Amerika von der Migration, auch von der illegalen, profitiert. Die Wirtschaft läuft, Arbeitskräfte werden dringend gesucht. Gerade jene ohne legalen Status verrichten Arbeiten, für die sich Amerikaner längst zu schade sind.
Rita will, dass ihre Kinder es besser haben, als sie es hatte. Dafür schläft sie wenig, arbeitet hart. Und daneben nimmt sie sich Zeit, auch noch andere mit ähnlichem Schicksal zu beraten. Rita weiss, wo es Ärzte gibt, die günstig behandeln. Oder wo man Medikamente wie Blutdrucksenker günstiger erhält. Ihr Telefon klingelt ständig: Arbeit, Kinder, Bekannte.
Schämt sie sich dafür, dass sie nun, nach 20 Jahren in den USA, in eine Notunterkunft ziehen musste? Rita zieht die Schultern hoch, sagt: «So ist das Leben, es geht immer weiter.»
Sie möchte nach Honduras, zu Besuch
Bald wird sie wieder in eine Wohnung ziehen können, teuer zwar, aber nicht ganz so teuer wie die letzte. Im kommenden Jahr wird zudem Allan, den sie bei der illegalen Einreise im Bauch trug, 21 Jahre alt und somit in Amerika volljährig. Er hat dann das Recht, für seine Mutter und Mia, seine ältere Schwester, einen Antrag zu stellen, damit sie endlich Amerikanerinnen werden können.
Rita glaubt nicht, dass Trump, falls er wiedergewählt würde, ihr diesen Weg versperren könnte, ausgerechnet ihr, die fast akzentfreies Englisch spricht. Rita sagt, sie sei längst eine honduranische Amerikanerin oder eine amerikanische Honduranerin, egal. Hauptsache, Amerikanerin. Trumps Härte gegenüber Migranten kann sie sogar teilweise verstehen. «Er beschützt das Land.»
Rita sass im letzten Jahr zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Flugzeug, ein Inlandflug. «Ich war richtig nervös», sagt sie. Sie kneift die Augen zusammen und lacht. Die Reise zu ihrer Tante nach San Francisco war ein Abenteuer.
Wenn sie dann aber den Pass hat, möchte sie nach Honduras reisen. «Zu Besuch», betont sie. Sie träumt davon, endlich wieder am Grab ihres verstorbenen Freundes Elvin zu stehen.
* Für alle Personen in diesem Artikel wurde ein Pseudonym verwendet. Die Namen sind der Redaktion bekannt.