Der 91-jährige Architekt Bryan Cyril Thurston hat sich ein Leben lang für seine Vorstellungen von gutem Bauen eingesetzt – und für Bergwelten. Seinem Kampf für die Greina ist nun ein Filmporträt gewidmet. Ein Hausbesuch.
In dieses Land kam er vor siebzig Jahren der Liebe wegen. Und er blieb, weil er so viele Bauten hier schrecklich fand: Bryan Cyril Thurston setzte sich in den Kopf, die Schweiz mit seinen Vorstellungen von Architektur zu retten oder zumindest zu verbessern. Er fand, man orientiere sich hier in allen Bereichen zu oft am Machbaren und Rationalen, statt das Unmögliche zu versuchen.
Das findet der 91-jährige Brite noch heute. Er zieht die roten Socken in den Sandalen hoch und ruft uns bei aller Sympathie für seine Wahlheimat zu: «Switzerland, pull up your socks!» Das Land brauche einen Weckruf, auch in ökologischen Fragen, und einen Aufbruch in die Utopie.
Vom Kongresshaus bis zum Tessinerplatz reicht die Palette von Zürcher Grossprojekten, für die er selbst in den letzten Jahrzehnten Alternativvorschläge mit oft verspielter Note einreichte. Dass keiner umgesetzt worden ist, ficht ihn nicht an. «Der Architekt muss ein Visionär sein und braucht viel Phantasie. Ich habe vielleicht zu viel davon», erklärt er dem Besucher bei sich daheim.
Der Pfad zum Paradies
Der Weg zu Bryan Thurstons Zuhause mutet an wie der Pfad zum Paradies: 150 Treppenstufen führen vom Bahnhof Uerikon durch einen Weinberg hinauf zur Anhöhe mit phantastischem Seeblick. Im Quartier erwartet einen aber kein Engelsgesang, sondern das Dröhnen der Presslufthammer. Hier wird viel gebaut, ganze Wohnsiedlungen hat man in den letzten Jahren aus dem Boden gestampft. Das meiste davon missfällt Thurston, der sich als «unerhörten Ästheten» bezeichnet. Das von der Seeseite abgewandte Reihenhaus aber, in dem er seit Jahrzehnten lebt, hat er so umgestaltet, dass es ihm gefällt.
Im Greisenalter verbringt er fast den ganzen Tag auf dem Sofa, wo er auch den Besucher empfängt. Die listig dreinblickenden Äuglein werden hellwach, wenn das Gespräch auf die Kunst kommt. Sie hält ihn am Leben, wie er sagt, die Schaffenskraft ist nicht erlahmt. Sein Tag beginnt um fünf Uhr früh im Bett mit Zeichnen, auch wenn er nachts wach liegt, greift er zum Skizzenbuch. Das ist für viele Künstler weit mehr als ein Sudelheft, es ist ein zentrales Arbeitsinstrument, gerade im hohen Alter. Nicht nur das verbindet ihn mit einem geistesverwandten Utopisten in Zürich, Harald Naegeli, den er nie traf.
Gute Architektur, davon ist Thurston überzeugt, atmet den Geist der Poesie, soll «vibrieren und einen aus dem Häuschen bringen». Er war beteiligt an der Projektierung der Zürcher Kantonsschule Rämibühl, bald darauf entstand sein Hauptwerk, die 1980 erbaute Berufsschule. Bekannt machte ihn damals jedoch sein Einsatz für die Greina: Er bekämpfte das Vorhaben für ein Wasserkraftwerk samt Staumauer in dieser Hochebene zwischen Graubünden und dem Tessin mit den Waffen der Poesie. Das Lied der Greina sang er, führte die Schönheit und damit Schutzwürdigkeit dieser Auen in grossartigen Stichen vor Augen.
Bildende Kunst kann die Welt verändern – oder zumindest die Wahrnehmung von dieser. Die Baupläne scheiterten, die Greina steht inzwischen unter Schutz.
Die Suche nach der Heimat
Diese Aktion stellt Patrick Thurston, einer seiner Söhne, ins Zentrum seines Filmporträts über den Vater, das am Donnerstag unter dem Titel «Greina» in die Kinos kommt. Die Aufnahmen dieser Landschaft legen die Frage nahe, ob er mit ihr auch die Heimat verteidigte, die er im Herzen trägt: Fand er dort Schottland wieder? «Absolutely!», sagt er. «Ich suchte es, seit ich in der Schweiz angekommen war, wanderte viel in den Bergen, und da entdeckte ich die Greina.» Heute sei sie leider überlaufen, «aber solange sie keine Seilbahnen bauen, geht es ja noch». Inzwischen gebe es andere Landschaften, um die man sich kümmern sollte, etwa die Glarner Freiberge.
Der Film spürt auch Thurstons immensem grafischem Werk nach, von dem manches in den Archiven der Nationalbibliothek ruht. «Ich wusste selbst nicht, dass ich so viel geschaffen habe!», ruft er im Gespräch und fügt in seiner wunderbaren Spielart der Schweizer Mundart an: «Ick bin völlig überrumpflet!» Einzelne Werke habe er allerdings vergeblich renommierten Sammlungen in Grossbritannien angeboten. Sie hätten keinen Platz, habe es geheissen. «In Gotts Name, forget the Bryan», sagt er, der gerne in der dritten Person von sich spricht.
So legt sich eine leise Melancholie über die Begegnung mit diesem wunderlichen Herrn, alt und unbeugsam wie die Berge, die er so liebt wie das gute Bauen. Er hätte seine Heimat nie verlassen sollen, seufzt er, in der englischen Grafschaft Suffolk in einfachen Verhältnissen geboren und mit sieben Jahren zum Halbwaisen geworden. Er schwärmt von Englands Küste, zählt dessen Regionen, die vorgelagerten Inseln auf, zitiert Shakespeare: «This precious stone set in the silver sea.» Seine grösste Liebe gilt Schottland, die zweitgrösste England.
Den Prinzen Philip, den Einzigen im britischen Königshaus, den er noch mochte, hat er mittlerweile überlebt. Den Tod fürchtet er nicht mehr, er malt sich seine schlichte Erdbestattung ohne Brimborium aus, schildert, wie man ihn ins Grab hinunterlassen und dabei Bratschenmusik von Quincy Porter erklingen wird. Dann sei er wieder eins mit der Natur, der es zu dienen gelte und deren Trennung von der Baukunst er 1987 in seinem Buch «Landschaft und Architektur» beklagte.
Bauwerke aus aller Welt beschreibt er bis ins Detail aus dem Gedächtnis, sein Verdikt über die Stars der hiesigen Szene ist aber wenig schmeichelhaft. Mario Botta? Leider irgendwann einer Monumentalität verfallen, die es heute nicht brauche. Peter Zumthor? Thurston fährt sich über die Glatze, die paar am Hinterkopf verbliebenen Haare stellen sich widerspenstig auf. «Ach, es ist ein Auf und Ab mit ihm!» Er tadelt ihn für wenig benutzerfreundliche Details in den Valser Thermen, und sein Siegerprojekt für den Gastbetrieb auf der Insel Ufenau hatte er schon kritisiert, bevor das Bundesgericht es aus Gründen des Moorschutzes beerdigte.
Selbstverständlich hatte Thurston damals selbst einen Vorschlag im Köcher, wie auch für die Kunsthauserweiterung in Zürich, die schliesslich sein berühmterer Landsmann David Chipperfield realisierte. Dessen Ergebnis findet er «architektonisch nicht schlecht, aber trotzdem völlig daneben»: Es fehle an Möglichkeiten, den Lichteinfall zu variieren, was zur Inszenierung von Kunstwerken essenziell sei.
Pläne für das Bundeshaus
Seine Pläne, das Bundeshaus in Bern mittels eines vorgelagerten Baukörpers zu «regenerieren», schickte Bryan Thurston einst an den damaligen Bundesrat Moritz Leuenberger persönlich: «Ich hörte nie von ihm, keine Antwort, dabei schätzte ich ihn sehr.» Die Frage, was genau er dort vorgeschlagen habe, verschwindet in den Mäandern des nächsten Themas, das sich in seinem Kopf vordrängelt.
So kommen Antworten nicht immer passgenau zu den Fragen, aber inspirierend ist dieser Freigeist alleweil, der im Filmporträt sagt: «Ich bin ein Befreier, ich will jeden und alle befreien.» Wovon musste er sich selbst befreien? Die Frage führt zurück zur ersten grossen Liebe, die ihn in den fünfziger Jahren verliess. Da habe er sich von der Idee gelöst, jemanden besitzen oder verändern zu können.
Es folgt eine Liebeserklärung an die Liebe an sich und an Cécile, seine zweite Gattin: Wer das hohe Alter in einer guten Behausung mit einer solchen Frau verbringen könne, erfahre die zweitschönste Phase im Leben. Besser habe er’s wohl nur als Baby gehabt.