Ramin Mazur
Die Stimmbürger der Moldau entscheiden über eine Verfassungsänderung: Die EU-Mitgliedschaft soll als Ziel aufgenommen werden. Russland versucht das mit aller Kraft zu verhindern.
Diese EU könne ihm gestohlen bleiben, sagt Michail und spuckt durch die Lücke zwischen seinen goldenen Zähnen auf den Boden. Der Rentner sitzt mit zwei Nachbarn vor dem Tor zu seinem Hof in Chirsova, einem kleinen Strassendorf im Süden der Moldau, und bespricht die Weltlage.
Wie die meisten Häuser im Ort ist auch jenes von Michail aus Holz gebaut, hat ein zinnbeschlagenes Dach und ist auf die asphaltierte Hauptstrasse ausgerichtet, die hier immer noch Lenin-Strasse heisst. Alle anderen Wege im Dorf bestehen aus festgetretener Erde.
«Wenn wir in die EU gehen, nehmen sie uns die Häuser weg, um ihre verfluchten Militärbasen zu bauen», sagt Michail und schickt einen derben Fluch hinterher. Nein, seinen Nachnamen wolle er nicht nennen.
Neues Ausmass der Einflussnahme
Die Moldau steht vor einem richtungsweisenden Urnengang. Am Sonntag findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Gleichzeitig stimmt die Bevölkerung der kleinen, zwischen Rumänien und der Ukraine eingeklemmten Republik darüber ab, ob der EU-Beitritt als strategisches Ziel in der Verfassung verankert werden soll. Besonders die zweite Frage lässt die Wogen hochgehen.
Das Land ist seit vergangenem Jahr Beitrittskandidat. Die prowestliche Regierung um Präsidentin Maia Sandu möchte mit dem Referendum sicherstellen, dass der Kurs auch im Falle eines Machtwechsels beibehalten wird. Die geopolitische Ausrichtung der ehemaligen Sowjetrepublik ist seit der Unabhängigkeit ein dauernder Streitpunkt.
Russland betrachtet das Land mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern, von denen ein Drittel russischsprachig ist, als Teil der eigenen Interessensphäre und nimmt seit je starken Einfluss auf die hiesige Politik. In Transnistrien, der seit mehr als drei Jahrzehnten abtrünnigen Region östlich des Dnjestr, stehen sogar russische Truppen. Auch deshalb wirkt sich der Kriegsverlauf in der Ukraine unmittelbar auf die Sicherheitslage in der Moldau aus.
Seitdem Präsidentin Maia Sandu die Annäherung an den Westen entschieden vorantreibt und dabei unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine Unterstützung aus Brüssel erhält, haben die russischen Störmanöver ein neues Ausmass angenommen.
In prorussischen Medien und vor allem in den sozialen Netzwerken wimmelt es von Beiträgen, die vor den Gefahren einer weiteren Annäherung an den Westen warnen. Manches ist offensichtlich absurd, wie die Behauptung, die Westannäherung verschärfe das demografische Problem der Abwanderung, weil die Männer wegen der Militarisierung durch die westliche Kriegstreiberei keine Zeit mehr hätten, eine Familie zu gründen. Das meiste ist subtiler.
Die implizite Gleichsetzung von EU und Nato, die auch bei Michails krudem Kommentar anklingt, zielt auf das alte Feindbild des Nordatlantikpakts und die Sorge, in den Konflikt in der Ukraine hineingezogen zu werden. Anders als für den Beitritt zur EU gibt es für eine Nato-Mitgliedschaft keine Mehrheit im Land.
Vergleiche zwischen dem Wachstum in der EU und jenem in der auf Hochtouren laufenden Kriegswirtschaft in Russland wiederum spielen auf die ökonomischen Nöte im ärmsten Land Europas an. Hinzu kommen Verleumdungskampagnen, die teilweise mithilfe von künstlicher Intelligenz persönlich auf Maia Sandu zielen. Und immer wieder werden die «traditionellen Familienwerte» des Landes beschworen, im Gegensatz zum verderbten Westen.
Träumen von der Sowjetunion
Chirsova liegt in der autonomen Region Gagausien. «Das russische Narrativ fällt in unserem Teil des Landes auf einen besonders fruchtbaren Boden», sagt Piotr Garciu, ein Journalist aus der gagausischen Hauptstadt Comrat. Als Treffpunkt hat er einen Park am Stadtrand vorgeschlagen, in dem ein sowjetischer Panzer aus der Weltkriegszeit steht. «Der Ort ist sehr beliebt für Hochzeitsfotos», sagt Garciu trocken.
Die Gagausen sind eine turksprachige, aber orthodoxe Volksgruppe, die sich traditionell stark an Moskau orientiert. Für die meisten der 130 000 Bewohner ist Russisch die Erstsprache. Mit der Forcierung der rumänischen Identität der Moldau, die von der Regierung auch als Ausdruck eines Zugehörigkeitsgefühls zum Westen verstanden wird, kann man hier wenig anfangen.
Umso stärker verklärt die Bevölkerung die sowjetische Vergangenheit. «In Weissrussland sind die Preise stabil, wie zu Sowjetzeiten», sagt Ana, eine Nachbarin von Michail, dem Rentner in Chirsova. In der Moldau könne sie sich mit einer Pension von 2700 Lei, umgerechnet 135 Franken, kein würdiges Leben leisten. «Wenn wir in die EU kommen, wird es noch schlimmer!»
Gegenüber von Anas Haus hängt ein Plakat an einem Telefonmasten. Darauf wird die Verschuldung des Landes mit der Annäherung an die EU in Zusammenhang gebracht. Die Moldau verliere an Wettbewerbsfähigkeit, während Russlands Verbündete in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft grosszügig den Sozialstaat ausbauten, heisst es da. Von den enormen wirtschaftlichen Folgekosten des Krieges in der Ukraine für die Moldau ist nicht die Rede.
Fragwürdiges Vorgehen gegen Medien
Die Desinformation wird von der prowestlichen Seite ernst genommen. Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen dokumentieren Fake News und veröffentlichen Faktenchecks. Die Regierung gründete im Sommer ein Zentrum für den Kampf gegen Falschinformationen, das von einer ehemaligen Innenministerin geleitet wird.
Sie sperrte mehrere Kanäle auf der Plattform Telegram, und bereits im vergangenen Jahr waren einigen Fernsehsendern die Lizenzen entzogen worden. Allerdings genügte das Verfahren nicht allen rechtsstaatlichen Anforderungen: Der Grat zwischen wehrhafter Demokratie und autoritärem Machtmissbrauch in der Moldau ist schmal. Das hemdsärmlige Vorgehen brachte der Regierung Kritik auch von Stimmen ein, die in der Sache mit ihr eigentlich einig sind.
Auch die Unterstützung aus dem westlichen Ausland im Kampf gegen die Desinformation bietet Angriffsflächen, vor allem kurz vor dem Urnengang. Diese Woche reisten die Aussenminister der acht nordischen und baltischen Staaten ins Land und stellten sich dabei auch den Fragen der Bevölkerung.
Die lettische Aussenministerin Baiba Braze sprach in der Universität von Comrat über die Erfahrung ihres Landes mit der europäischen Integration. Mit der sowjetischen Vergangenheit des baltischen Staates, der grossen russischen Minderheit und der gemeinsamen Grenze zu Russland gibt es durchaus Parallelen zur Moldau. Ihr Aufruf an die Zuhörer, sich nicht von aussen beeinflussen zu lassen, war angesichts des eigenen Auftritts aber nicht frei von Widersprüchen.
Einflussreicher Oligarch im Exil
Das weiss man auch in der Regierung. Viele prowestliche Beobachter sind allerdings der Meinung, dass Chisinau noch robuster vorgehen sollte. «Wir befinden uns in einem hybriden Krieg. Den kann man nicht mit Samthandschuhen führen», sagt der Journalist Garciu.
Ein wichtiger Akteur in diesem Konflikt ist Ilan Sor. Der Oligarch ist seit Jahren in der moldauischen Politik aktiv. Die Loyalität seiner Unterstützer sicherte er sich früher durch ein Netzwerk von Supermärkten mit subventionierten Produkten. Noch bekannter ist er wegen seiner Verwicklung in den spektakulärsten Betrugsfall des Landes.
Im November 2014 wurden von den drei grössten Banken innert weniger Tage mindestens 750 Millionen Dollar an Scheinfirmen im Ausland überwiesen. Seit 2019 lebt Sor im Exil, zuerst in Israel und nun vermehrt in Russland. Im vergangenen Jahr wurde er dafür in Abwesenheit zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Auch die nach ihm benannte Partei wurde verboten.
Dennoch nimmt der flüchtige Oligarch weiterhin Einfluss auf die moldauische Politik, besonders in Gagausien. Evghenia Gutul, eine ehemalige Mitarbeiterin eines Callcenters und spätere Sekretärin in Sors Partei, wurde im vergangenen Jahr zur Gouverneurin der autonomen Region gewählt.
Gutul reist seither oft nach Moskau und beklagt sich dort über die Missachtung der Minderheitenrechte durch die Regierung in Chisinau. Auch die Möglichkeit eines Referendums über die Abspaltung der Region brachte sie ins Gespräch. Das weckt Erinnerungen an das russische Narrativ im Donbass vor dem Einmarsch in die Ukraine.
Gelder aus Russland
Für den gegenwärtigen Wahlkampf hat Sor laut der Staatsanwaltschaft in Chisinau allein im September 15 Millionen Dollar aus Russland ins Land geschleust und an insgesamt 130 000 Menschen verteilt. Dies belegt auch die Recherche einer jungen Investigativjournalistin.
Mariuta Nistor gelang es, sich in ein Netzwerk bezahlter Aktivisten einzuschleusen, das im Auftrag Sors Wahlkampf betreibt. Dort eröffnete man für sie bei einer russischen Bank ein Konto und überwies ihr Geld für die Anwerbung von Wählern. Sie sollen dafür am Sonntag Sors Empfehlung folgen: Nein zum EU-Referendum, und die Stimme für jenen Kandidaten, den Sor am Tag vor dem Urnengang bezeichnet. Früher will er sich nicht festlegen, um eine Disqualifikation der entsprechenden Person zu vermeiden.
Politische Überzeugungen spielen laut Nistor nur am Rande eine Rolle. Menschen, die am Existenzminimum lebten, wollten eine unmittelbare Verbesserung ihrer Situation, sagt Nistor. Sor biete das an. «Aber mit den Versprechen für Strukturreformen und Investitionen dank EU-Annäherung erreicht man diese Menschen nicht. Daran ändern auch 1,8 Milliarden Euro aus Brüssel nichts.» Vergangene Woche hat die EU-Kommission der Moldau ein Hilfspaket in dieser Grössenordnung zugesagt.
Wie viele im Land glaubt Nistor, dass Sor nicht seine persönlichen Mittel einsetzt, sondern dass es sich um russische Gelder handelt. Belegen lässt sich das nicht. Aber dass Sors Engagement mit der Zustimmung Moskaus geschieht, bezweifelt angesichts seiner politischen Positionen und der gemeinsamen Auftritte mit Kreml-Vertretern niemand.
Russland verzerrt das Meinungsbild
Wie gross ist die Wirkung solcher Einflussversuche? Die Jugend und die grosse Diaspora denken sowieso proeuropäisch. Bei den letzten Wahlen gewann die Partei von Maia Sandu mit grosser Mehrheit. Unmittelbar bestehe keine grosse Gefahr, sagt Valeriu Pasa von der Organisation Watchdog in Chisinau. «Alles andere als eine Wiederwahl Sandus wäre eine Überraschung, und auch beim Referendum hat das Ja-Lager einen Vorsprung.»
«Russland verzerrt das Meinungsbild und schafft dadurch eine künstliche Ambiguität», erklärt Pasa. Laut Umfragen seiner Organisation unterstützen 63 Prozent der Bevölkerung den Beitritt zur EU. Beim Referendum haben aber nur 53 Prozent vor, Ja zu stimmen. «Das ist ein grosser Erfolg für Moskau.»
Aber vielleicht werde die Präsidentin ja in die Stichwahl gezwungen, was ihre Position schwächen würde. Dasselbe gelte für einen knappen Ausgang des Referendums. Nur ein klares Votum könne die EU-Mitglieder von der Zuverlässigkeit der Moldau überzeugen.
Russland spiele auf Zeit, sagt Pasa. «Sandu kann bei der nächsten Wahl nicht mehr kandidieren. Und wer weiss, was bis dahin in der Ukraine geschieht?» Sollten russische Truppen dereinst doch bis Odessa vorstossen, würden vermutlich auch die Verbände in Transnistrien in den Krieg eingreifen. Dann wäre auch eine Abspaltung Gagausiens ein realistisches Szenario.
Unrealistische Erwartungen
Doch selbst wenn alles gutgeht, stellt sich die Frage, was nach der Annahme des Referendums geschieht. Die Regierung nennt das Jahr 2030 als Zielmarke für die Beitrittsfähigkeit. Unabhängige Stimmen äussern sich zurückhaltender. Doch grundsätzlich glauben die meisten EU-Befürworter, dass die Moldau nur ihre Hausaufgaben erledigen müsse – etwa bei der Justizreform –, um den Weg in die Union zu ebnen.
Dass die Erweiterungspolitik seit Jahren völlig festgefahren ist und es grosse interne Widerstände gegen die Aufnahme neuer Mitglieder gibt, kommt in der öffentlichen Debatte überhaupt nicht zur Sprache. Auch der Blick auf den Westbalkan, wo in den Beitrittsverhandlungen seit Jahren keine Fortschritte mehr zu verzeichnen sind, fehlt.
Deshalb dürfte auf die Regierung bald eine neue Herausforderung zukommen: Erwartungsmanagement. Denn von einem EU-Beitritt ist das Land in jedem Fall noch sehr weit entfernt.