Mit der Tötung des Hamas-Chefs hat Israel eines seiner Kriegsziele erreicht. Nach wie vor verbleiben jedoch unzählige Geiseln in Gaza. Wird Netanyahu verhandeln oder weiterkämpfen?
Wie so oft in den vergangenen Wochen richtete sich Benjamin Netanyahu auch am Donnerstagabend in einer Fernsehansprache an sein Volk. Nachdem seine Armee innert weniger Wochen die gesamte Führung des Hizbullah inklusive ihres Chefs Hassan Nasrallah getötet hat, dürfte Israels Ministerpräsident inzwischen eine gewisse Routine im Verkünden von Erfolgsmeldungen haben.
Doch mit der Tötung des Hamas-Chefs Yahya Sinwar ist es Israel nicht nur gelungen, einen weiteren seiner prominenten Feinde auszuschalten. Der Architekt des Massakers vom 7. Oktober galt in den letzten zwölf Monaten als Ziel Nummer eins von Israels Sicherheitsdiensten – und seine Ausschaltung als eines der Ziele des Krieges in Gaza.
Noch immer sind über hundert Geiseln in Gaza
Mit seinem Tod stellt sich nun die Frage: Wie geht es im zerstörten Küstenstreifen weiter? Netanyahu liess sich dabei erst einmal nicht in die Karten schauen. Der Krieg in Gaza sei noch nicht vorbei, sagte er. Gleichzeitig liess er aber durchblicken, der Tod Sinwars stelle zumindest «den Anfang vom Ende» des blutigen Feldzugs dar.
Immer noch befinden sich bis zu 101 israelische Geiseln in der Hand der Hamas oder anderer Gruppen. Vertreter von Angehörigen der Geiseln beeilten sich deshalb, sogleich die Aufnahme von Verhandlungen zur Freilassung ihrer verschleppten Familienmitglieder zu fordern. «Die Regierung muss jetzt handeln und so schnell wie möglich ein Abkommen erzielen», sagte eine Angehörige der Nachrichtenagentur Reuters.
Ob sich Netanyahu darauf einlassen wird, ist jedoch fraglich. Zwar sagte der Ministerpräsident, die Rettung der verbliebenen Geiseln sei nun Israels oberste Priorität. Wie er dieses Ziel verfolgen will, ist aber unklar. Bisher sind sämtliche Versuche, die verbliebenen Verschleppten durch ein Abkommen freizubekommen, gescheitert. Das lag an Sinwar – aber auch an Netanyahu selbst, der die Verhandlungen immer wieder mit neuen Forderungen erschwerte.
Kein Grund, den Kampf einzustellen
Zudem dürfte sich der Ministerpräsident, der militärisch derzeit auf einer Welle des Erfolgs reitet, mit der Tötung Sinwars in seinem harten Kurs bestätigt fühlen. Entsprechend stellte er den Palästinensern in Gaza am Donnerstag eine Art Ultimatum: Jeder, der Geiseln freilasse und die Waffen niederlege, werde verschont, versprach er. «Aber mit denjenigen, die sie misshandeln, werden wir abrechnen.»
Allerdings ist unklar, wie viele der Geiseln überhaupt noch am Leben sind – und in wessen Händen sie sich befinden. Denn die Hamas – die zwar angekündigt hat, nach dem Tod ihres Führers weiterzukämpfen – hat die Kontrolle über Gaza verloren. So waren die meisten Beobachter eigentlich davon ausgegangen, Sinwar verschanze sich mit den Verschleppten in einem Bunker. Stattdessen wurde er in einem Gefecht ausserhalb der Hamas-Tunnelanlagen getötet.
Für Netanyahus rechts-religiöse Koalitionspartner ist der Tod des Hauptverantwortlichen des Massakers vom 7. Oktober noch lange kein Grund, den Kampf einzustellen. Das Ziel sei die totale Kapitulation der Hamas, sagte der Finanzminister Bezalel Smotrich. Damit wäre Israels Armee in dem zerstörten Küstenstreifen aber weiterhin in einen Guerillakrieg verstrickt, der das Leben der verbliebenen Verschleppten gefährden könnte.
Biden mahnt einen Waffenstillstand an
Zudem droht Israel, das inzwischen auch in Südlibanon eine Bodenoffensive gegen den Hizbullah begonnen hat, ein langwieriger Zweifrontenkrieg mit unklarer Zielsetzung. Denn weder die libanesische Schiitenmiliz noch die Hamas in Gaza verhalten sich wie reguläre Armeen, die nach dem Tod ihrer Führer die Waffen strecken. Stattdessen drohen ihre fanatischen Kämpfer trotz allen Rückschlägen weiterzukämpfen.
Israels Verbündete hoffen, nach dem Tod Sinwars wenigstens das Sterben in Gaza beenden zu können. Der brutale Krieg, der Zehntausende Zivilisten das Leben gekostet hat, ist vor allem für die im Wahlkampf-Endspurt steckenden Amerikaner eine Bürde. Zwar gratulierte US-Präsident Joe Biden Netanyahu zur Tötung Sinwars. Gleichzeitig mahnte er, es sei nun an der Zeit, den Krieg in Gaza mit einem Waffenstillstand zu beenden.
Jüngst waren die beiden Länder immer wieder aneinandergeraten. So hatten die Amerikaner Netanyahu erst kürzlich mit einer Überprüfung der Militärhilfe gedroht, als dieser sich anschickte, im erneut umkämpften Norden von Gaza die Hilfe für die geschundene Zivilbevölkerung zu blockieren. Zwar lenkte Netanyahu ein. Doch wieder einmal zeigte sich, wie tief die Gräben zwischen den Verbündeten geworden sind.