Fabienne Maissen studierte Maschinenbau an der ETH Zürich und hatte das Gefühl, alle anderen seien viel gescheiter. Doch dann begann sie, in ihrer Freizeit Raketen und Satelliten zu entwickeln – und landete bei einem renommierten Raumfahrtunternehmen.
Thomas Zurbuchen muss niemandem mehr etwas vormachen. Der ehemalige Wissenschaftsdirektor der Nasa hat hinlänglich bewiesen, was er kann. In seiner langen Karriere hat Zurbuchen aber auch gelernt, Dinge zu delegieren, die er nicht kann. Zum Beispiel Jassen. Als er vom Schweizer Radio und Fernsehen zur Sendung «Samschtig-Jass» eingeladen wurde, war für Zurbuchen klar: Ich brauche Unterstützung. Die fand er in der 24-jährigen Studentin Fabienne Maissen, die an der ETH Zürich gerade ihren Bachelor in Maschinenbau gemacht hatte.
Dass die Wahl ausgerechnet auf Maissen fiel, ist kein Zufall. Die junge Schweizerin weiss nicht nur, was ein Differenzler ist. Sie teilt mit Zurbuchen auch die Begeisterung für den Weltraum. Während ihres Studiums war sie in der Akademischen Raumfahrt-Initiative Schweiz (Aris) aktiv. Dabei handelt es sich um eine Vereinigung von Studenten, die in ihrer Freizeit Raketen, kleine Satelliten oder auch Tauchroboter entwickeln, die eines Tages die Monde von Jupiter und Saturn erkunden sollen.
Für Maissen hat sich dieses Engagement bezahlt gemacht. Als sie sich kürzlich bei der in Neuseeland ansässigen Raketenfirma Rocket Lab um ein Praktikum bewarb, war man von ihrem Lebenslauf derart angetan, dass man ihr kurzerhand eine Festanstellung anbot. Damit ist Maissen bei einer der ersten Adressen in der privaten Raumfahrt gelandet. Die von Rocket Lab für kleine Nutzlasten entwickelte Electron-Rakete hat im vergangenen Jahr neun Raketenstarts absolviert, acht davon erfolgreich. Nur die Raketen von Space X sind noch öfters geflogen.
Die Aufgabe von Maissen wird darin bestehen, eine neue Rakete namens Neutron mitzuentwickeln. Diese soll wiederverwendbar sein und mittelschwere Nutzlasten von bis zu 13 Tonnen in den erdnahen Orbit befördern. Der erste Flug könnte noch dieses Jahr stattfinden.
Schon als Kind träumte sie davon, Astronautin zu werden
Ihre Faszination für den Weltraum entdeckte Maissen schon lange vor dem Studium. Schon in der Schule habe sie Vorträge darüber gehalten, wie man Astronautin werde, erzählt Maissen. Trotzdem fiel es ihr nach der Matur an einem musischen Gymnasium schwer, sich für einen Studiengang zu entscheiden. Maissen interessierte sich für viele Dinge. Mathematik und Physik seien für sie ebenso infrage gekommen wie Psychologie oder Schauspielerei. Die Wahl fiel schliesslich auf Maschinenbau.
An der ETH Zürich kam Maissen allerdings auf die Welt. In der Schule sei ihr immer alles leicht gefallen, erzählt sie. Doch an der ETH habe sie das Gefühl gehabt, alle seien viel gescheiter als sie. Schon im ersten Jahr habe sie ein Katapult bauen müssen, das Bälle in einen Trichter katapultiere. Das habe sie völlig überfordert. Anders als viele ihrer männlichen Kommilitonen habe sie als Kind wenig mit Lego und Technik gespielt. In den ersten Monaten an der ETH habe sie sich deshalb unzulänglich gefühlt. Mehr als einmal habe sie sich gesagt: «Ich bin hier fehl am Platz.»
Die Arbeit bei Aris half Maissen, Selbstvertrauen zu fassen. Hier habe sie zum ersten Mal gemerkt, «doch, ich kann das», sagt Maissen. Vor allem merkte Maissen, dass es für die Arbeit in einem Team nicht schlecht ist, wenn Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen. Was sie anfangs als Schwäche empfunden hatte, konnte Maissen plötzlich als Stärke sehen.
Bei Aris gehörte Maissen zum Competition-Team, das 2022 an einem Wettbewerb in New Mexico teilnahm. Die Aufgabe bestand darin, eine kleine Nutzlast in eine Höhe von 10 Kilometern zu befördern und die Rakete anschliessend wieder heil zum Boden zurückzubringen. Maissen war für den Mechanismus zuständig, der den Hauptteil der Rakete nach dem Erreichen der Flughöhe von der Raketenspitze trennt.
Beim Wettbewerb in New Mexico habe das zum ersten Mal geklappt, erzählt Maissen stolz. Der Hauptteil der Rakete sei an Fallschirmen zur Erde zurückgesegelt und in der Nähe des Startplatzes gelandet. Nach der vielen Arbeit in den Monaten zuvor sei das ein sehr befriedigender Moment gewesen.
Auch die Neutron-Rakete, die Maissen bei Rocket Lab mitentwickeln soll, wird teilweise wiederverwendbar sein. Der Gedanke der Nachhaltigkeit sei ihr ein grosses Anliegen, sagt Maissen. Das klinge vielleicht widersprüchlich. Denn für viele Leute seien Raketen nicht besonders umweltfreundlich. Maissen erinnert jedoch daran, dass man im Kampf gegen den Klimawandel und die Umweltverschmutzung auf verlässliche Satellitendaten angewiesen sei. Deshalb wolle sie dazu beitragen, Raketen so umweltfreundlich wie möglich zu machen.
In Neuseeland wartet ein Knochenjob
Über das, was sie in Neuseeland erwartet, macht sich Maissen keine Illusionen. Der Bau von Raketen sei ein kompetitives Business. Deshalb werde der Job vermutlich hart. Darauf habe sie auch Thomas Zurbuchen hingewiesen, der die Firma Rocket Lab und ihren Gründer gut kenne. Dennoch freue sie sich auf die neue Herausforderung. Sie sei ein neugieriger und zuversichtlicher Mensch: «Das kommt schon gut.»
Maissen hofft, dass sie auch ein Vorbild sein kann. Es gebe immer noch zu viele Frauen, die an ihren Fähigkeiten zweifelten. Diese wolle sie ermutigen, an sich zu glauben und etwas zu wagen.
Und wenn alle Stricke reissen? Dann kann sich Maissen vorstellen, zurück in die Schweiz zu kommen und an der ETH Zürich ihren Master in Weltraumwissenschaft und -technologie zu machen. Ohne Master gelte man in der Schweiz wenig. Dennoch habe sie sich dagegen entschieden, gleich nach dem Bachelor ein Masterstudium anzuhängen. Zunächst wolle sie ins Ausland gehen, Arbeitserfahrung sammeln und sehen, wohin es sie ziehe. Danach werde sie weitersehen.
Und dann gibt es da noch den alten Kindheitstraum, Astronautin zu werden. Insgeheim hege sie diesen Wunsch immer noch, gesteht Maissen. Sie wolle deshalb nicht ausschliessen, sich in zehn Jahren auf eine Stellenausschreibung zu bewerben und zu schauen, wie weit sie komme. Thomas Zurbuchen würde das vermutlich unterstützen. Wie sagte er einst gegenüber der NZZ? «Wenn es jemand aus Heiligenschwendi schafft, Wissenschaftsdirektor der Nasa zu werden, dann kann wirklich jede Person das erreichen, wovon sie träumt.»
Die Sendung «Samschtig-Jass» mit Fabienne Maissen und Thomas Zurbuchen wird am 20. 1. um 18.40 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt.