Auf der Insel vor Afrika entfaltet sich ein kulturelles Kaleidoskop. Es offenbart die tropischen Landschaften als faszinierendes Tor zu Spirituellem.
Ajay surft im Internet. Der angeklickte Wetterbericht meldet trocken: Es regnet in Strömen. Der Monsun hat den indischen Gliedstaat Bihar wieder mächtig erwischt. Im Nordosten des Subkontinents sind die grossen Flüsse Son, Gandaki und Ganges über die Ufer getreten. Die jährlichen Überschwemmungen fordern Tote, mehrere Millionen Menschen verlieren auch diesmal ihr Hab und Gut. Bihar mit fast zwölfmal mehr Einwohnern als die Schweiz zählt zu den ärmsten und instabilsten Gliedstaaten Indiens.
Ajays Computer steht knapp 6000 Kilometer südwestlich von der Überschwemmungsregion entfernt. Die Sonne scheint. Das ist fast immer so auf Mauritius, diesem kleinen Fleck auf der Landkarte, östlich des Festlands von Afrika, versteckt im grossen Ozean. Ein Räucherstäbchen neben dem PC glimmt, und die mit Girlanden liebevoll geschmückte, etwa 20 Zentimeter grosse Ganesha-Figur daneben soll gegen die Überschwemmungen zu Hause in Bihar helfen. Das ist Ajays Heimat. Seine Hoffnung für die Heimat ruht auf Ganeshas Hilfe. In Ajays Glauben verehrt man den Hindu-Gott mit dem Elefantenkopf und den vier Armen als Beseitiger von Hindernissen und als Glücksbringer. Für viele gläubige Hindus ist das Erste, was in eine neue Wohnung kommt, eine Ganesha-Statue – so war es auch bei Ajay. Er verneigt sich mit gefalteten Händen vor seinem Ganesha, weil er zur Arbeit muss. Als Gärtner ist er quasi im Paradies beschäftigt, im Hotel «Long Beach» an der Ostküste, mit 1,3 Kilometer Strand und 5000 Palmen. Ajay ist sicher: «Dass ich diese Arbeit habe, verdanke ich Ganesha», dem Glücksbringer. Von den 600 Franken Monatsgehalt, 50 Prozent mehr als der Mindestlohn auf Mauritius, fliessen jeden Monat einige Rupien nach Bihar zu seiner Familie, in den Monsunmonaten immer etwas mehr als sonst.
Die Hälfte der Einwohner stammt ursprünglich aus Indien
Am Long Beach ist Mauritius, wie man Mauritius von Reiseprospekten kennt: Sonne, Strand, Palmen und Filaos, wie die Kasuarinen auf der Insel heissen. Mauritius ist sowohl geografisch als auch politisch eine afrikanische Insel, auf der Touristen ein vertrautes europäisches Niveau in exotischer Landschaft vorfinden. Deshalb fliegen sie auf die Insel im Indischen Ozean. Aber: Mauritius ist auch ein Eiland mit indischem Gesicht. Rund die Hälfte der 1,25 Millionen Insulaner haben indische Vorfahren. Die meisten von ihnen kommen aus Bihar.
Die ersten indischen Einwanderer wurden im 19. Jahrhundert von den englischen Kolonialherren zur Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern der Insel geholt – nachdem die Sklaverei 1835 verboten worden war. Die Inder brachten ihre Traditionen mit, überlieferten sie, und die Nachkömmlinge zelebrieren und leben sie bis heute.
Im Archiv des Folk Museum of Indian Immigration auf Mauritius versuchte sich Ajay einmal an der Ahnenforschung zu seiner Familie aus Bihar, kam allerdings nicht sehr weit. Aber er erinnert sich genau, dass seine Eltern gar nicht erfreut waren, als Ajay schon mit 18 Jahren die Heimat verliess, um auf Mauritius sein Geld zu verdienen. Der Vater war Feldarbeiter, die Mutter Hausfrau, arme Leute. Aber der Sohn wollte raus, wollte mehr und folgte Freunden aus seinem Dorf, die auf Mauritius gute Erfahrungen gemacht hatten. Ajay landete ausgerechnet in «Le Touessrok» auf Mauritius, damals noch mit dem Alleinstellungsmerkmal, das einzige Weltklasseresort auf der Insel zu sein. Und fast war es mit dem Arbeitgeber so, als ob Ajay die falsche Schwiegertochter vorgestellt hätte. Denn jeder Hindu-Papa ist über den Wunsch seiner Kinder, jemanden einer anderen Ethnie zu heiraten, wenig erfreut – das gilt mehrheitlich auch heute noch.
Mischehen nehmen auf der Insel zu
Der Hindu-Priester Satish Dayal, 69 Jahre alt, oberster Priester der 620 000 Hindus auf Mauritius, bestätigt das: «Es ist zwar besser geworden, aber Hindus heiraten weiterhin gerne unter sich.» Mischehen seien zwar inzwischen möglich, bei Christen sowieso, aber bei Muslimen immer noch unmöglich. «Da muss die Nichtmuslimin dann schon konvertieren.» Es gibt sogar Fälle, in denen die konvertierte Ehefrau ihre christliche oder hinduistische Familie nach der Eheschliessung nicht mehr sehen darf. Muslimische Männer konvertieren so gut wie nie. Der Priester Satish malt dem Reporter derweil mit grellroter Farbe das dritte Auge auf die Stirn: «Es schützt den ganzen Menschen», sagt er ruhig, und «es schärft die Wahrnehmung, erhellt unseren Lebensweg».
Die Hindus festen auf Mauritius, als lebten sie in Indien
«Als Priester wird man nicht gewählt wie ein Politiker. Das kommt von innen, quasi von selbst. Es ist eine Berufung», sagt Satish im Tempel am Grand Bassin auf Mauritius, den die Hindus Ganga Talao nennen. Er war selbst einst Parlamentsabgeordneter und ist seit vierzig Jahren Priester: «Besonders am Wochenende und feiertags wird der Kratersee von gläubigen Hindus besucht, die dort beten, opfern, meditieren.» Am Pilgerfest zu Ehren Shivas im Februar, des Gottes, der alles Schlechte zerstört, wurden schon 300 000 Gläubige gezählt, ein Viertel der Inselbevölkerung!
Die Geschäfte sind dann geschlossen, und die Pilger strömen, die meisten ganz in Weiss gekleidet und grösstenteils zu Fuss, aus allen Himmelsrichtungen an den Heil versprechenden Ort. Es ist das grösste hinduistische Fest ausserhalb Indiens. Auch zu Ehren von Ganesha pilgern Tausende zum Grand Bassin. Das nächste Mal am 27. August 2025. Schon Wochen vor dem eigentlichen Geburtstag, Ganesh Chaturathi, werden Tonfiguren von Ganesha hergestellt, geschmückt, von einem Priester geweiht und im Haus, in der Schule oder auf öffentlichen Plätzen aufgestellt. Schliesslich werden sie am Festtag in Prozessionen zum Grand Bassin getragen, um dort versenkt zu werden – «und mit ihnen alles Unglück dieser Welt», sagt der Priester.
Auch Reis, Früchte und Blumen werden auf Bananenblättern geopfert, flankiert von einigen Rupien. Die Pilger reinigen sich rituell im Wasser. Dabei stehen die Betenden knöcheltief und in sich versunken im See. Andere schöpfen das heilige Wasser in goldenen Bechern, Flaschen und Plastiktüten, benetzen ihre Stirn und giessen es Ganesha über den Kopf, um ihn zu verehren. Familienmitglieder halten sich aneinander fest, damit alle Kraft auf alle übergeht. Die Götterfiguren bekommen goldene Gewänder und bunte Tücher, sind über und über mit Blumenketten behangen. Schreine und Götterstatuen werden umrundet, Räucherstäbchen glimmen, Öllampen brennen, Blüten treiben im Wasser. Ajay sagt: «Der See ist unser Schlüssel zum Glück.» In diesen Momenten scheint Mauritius am Ganges zu liegen.
Stolz auf die Wurzeln
Schon die ersten indischen Immigranten, 1856 per Schiff vom heutigen Kolkata nach Mauritius gekommen, brachten Wasser des Ganges zum Grand Bassin, weshalb die Hindus auch Ganga Talao, See des Ganges, sagen. Sogar Mauritius’ Premierminister Pravind Jugnauth, selbst Hindu, schöpfte Wasser im Ganges, um es mit dem des Ganga Talao zu vereinen. «Er ist unser Ganges», sagt der Priester Satish. «Unser Seewasser machen wir durch Wasser vom Ganges und durch Zeremonien heilig und damit dem Ganges adäquat.»
Zu den hohen Festtagen können schliesslich nicht alle zum Ganges nach Indien reisen. So eine Reise ist teuer, und das Geld hat nicht jeder, selbst wenn Mauritius das zweithöchste Pro-Kopf-Einkommen Afrikas hat (nach den Seychellen) und mit rund 11 000 Franken pro Kopf und Jahr weit über dem Wert Indiens mit knapp 2500 Franken liegt. «Ich bin stolz, Mauritierin zu sein, aber ich glaube, alle mauritischen Hindus wollen einmal nach Indien, in das Dorf ihrer Herkunft», meint Reshma, die wie Ajay ihre Wurzeln in Bihar hat und als Spa-Managerin ebenfalls in einem Hotel arbeitet, im «Sugar Beach» am berühmten Flic-en-Flac-Strand auf der Westseite der Insel. «Ich war schon in Indien, «aber ich konnte die Armut nicht ertragen. Das war schrecklich», sagt sie.
Vielfalt der Gottheiten am See
Das Grand Bassin, ein im Inselinneren gelegener Kratersee, wird fast jedes Wochenende und immer feiertags von gläubigen Hindus besucht, die dort beten, opfern, meditieren. Auch Ajay und Reshma sind fast jedes Wochenende dort. Der Legende nach ist der Ganga Talao mit dem heiligen Fluss Ganges eng verbunden, weil der Gott Shiva, der auf einer Reise um die Erde den Ganges auf seinem Kopf trug, auf Mauritius ein paar Tropfen verschüttete und so das Grand Bassin, das grosse Becken, erschuf. «Um den gesamten See gibt es nicht nur für Ganesha und Shiva Tempelanlagen, sondern Schreine für weitere 34 Götter», sagt Reshma. Der Hinduismus kennt schliesslich eine beinahe unbegrenzte Zahl von Gottheiten, universale Herrscher, die für alle Aspekte des Lebens zuständig sind: Fruchtbarkeit, Gesundheit, Reichtum, Macht, Tod. Für viele der westlichen Betrachter wirkt der Hinduismus mit seinen Skulpturen, Mythologien und unzähligen Hindu-Gottheiten daher oft wie eine Mischung aus Religion, Kult und Fantasy. Reshma schmunzelt über diese westliche Ansicht, wohlwissend, wie komplex die Hindu-Welt ist.
Gemeinschaft über Grenzen hinweg
Neben den rund 50 Prozent Hindus leben auch 25 Prozent Christen und 20 Prozent Muslime auf der Insel. Indern, Afrikanern, Europäern und Chinesen gelingt aber offensichtlich ein weitgehend friedliches und problemloses Zusammenleben – trotz den wenigen Mischehen und trotz den unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen. «Mauritius ist das einzige Land auf Erden, wo man den Fremden nicht fragt: ‹Wie gefällt Ihnen unsere Gegend?› Alles Reden über die Insel geht von den Bewohnern aus, der Reisende braucht nur zuzuhören», soll Mark Twain 1896 gesagt haben, als er während einer Weltreise Mauritius besuchte.
Und so erzählt Reshma spontan: «Meine Mutter ist Christin und bleibt Christin. Ich gehe als Hindufrau mit ihr in die Kirche, singe mit ihr.» Allerdings «isst sie kein Rindfleisch mehr und holt einmal die Woche Wasser vom Ganga Talao für unser Haus». Welches Geheimnis hinter dem friedlichen Zusammenleben steckt, beantwortet Reshma mit einem Lächeln: «Wir sind doch alle zusammen aufgewachsen.» «Wir sind alle Mauritier, schwarz, weiss, schoko, egal», sagt die Meeresbiologin Nitisha.
«Rassismus? Gibt’s zumindest unter uns nicht!», sagt Loawsing, der einzige Parfümeur auf der Insel. Und offenbar ist es wie beim Essen: «Die Currys stammen aus Indien, von den Afrikanern übernahmen wir das Grillieren, die Chinesen brachten ihre Suppen, die Franzosen die Baguette», sagt Vik Mungroo, «und alle von uns lieben alle diese Einflüsse.» Vik ist einer der besten Köche der Insel und Head Chef bei den Sunlife Hotels. Einmal fragte ihn ein Gast nach dem «Indian Quarter». «Ich verstand erst nicht ganz. Ganz Mauritius ist doch ein indisches Viertel.»
Höherer Lebensstandard
Wer sein Hotel verlässt – und das sollte man trotz den All-inclusive-Angeboten allerorten unbedingt tun –, der wird dieses Indien im Kleinformat finden. Reshma sagt: «Meine Heimat Mauritius ist im Vergleich zu Bihar, der Heimat meiner Vorfahren, so klein wie unsere berühmte blaue Briefmarke.» Sie trägt, wie viele andere Frauen, häufig einen Sari, einige Männer auch noch einen Dhoti, das tuchähnliche indische Beinkleid.
Auch auf dem Zentralmarkt der Hauptstadt Port Louis geht es zu wie in Indien. Das Einwanderungslager Apravasi Ghat ist heute Weltkulturerbe und im Seewoosagur Ramgoolam Museum kann man sich mit der ganzen Einwanderungsgeschichte auseinandersetzen. Beides ist ebenfalls in Port Louis zu finden.
Die meisten Ärzte auf Mauritius sind Inder. Glück bringt der Bindi, der rote Punkt auf der Stirn. An den Street-Food-Ständen werden Roti, Tali, Daal und Tandoori-Gerichte gegessen. Nur die Kühe auf den Strassen und auch Rikschas fehlen im Alltag. Es gibt kein Elend wie am Rand jeder indischen Grossstadt und keine Armut wie auf dem Land in Indien. Der Lebensstandard ist deutlich höher auf der Insel, wobei der Gigant Indien den Zwerg Mauritius finanziell unterstützt, wenn auch nur mit knapp 20 Franken pro Kopf und Jahr. Auch deshalb beobachtet man genau, welche Politik Indiens Premierminister Modi macht.
Amtssprache ist zwar Englisch, 80 Prozent der Insulaner sprechen jedoch lieber Morisyen, die auf dem Französischen basierende Kreolsprache auf Mauritius. In den grossen Hotels wird auch Deutsch verstanden, aber die Bollywood-Filme im Fernsehen laufen alle auf Hindi. Nicht nur dann scheint das Mauritius der Strände und Hotels weit weg. So weit weg, wie Bihar von Mauritius entfernt liegt. Nur leider kann auch Ganesha trotz allen Opferungen und Bitten nicht helfen, die jährliche Überschwemmungsflut in Bihar zu verhindern. Offenbar haben sogar Götter ihre irdischen Grenzen.
Die Reportage wurde möglich dank der Unterstützung von Sunlife Hotels (www.yoursunlife.com) und Condor (www.condor.com).