Bis im Frühjahr 2024 will der Bundesrat eine Schweizer Tech-Regulierung ausarbeiten, die sich an europäisches Recht anlehnt. Eine der wichtigsten Forderungen aus der Öffentlichkeit ist darin voraussichtlich nicht enthalten.
Die EU hat gehandelt, jetzt kann die Schweiz nachziehen: Im April, also nach dem Inkrafttreten des europäischen Gesetzes über digitale Dienste (Digital Services Act), hat der Bundesrat entschieden, «eine Regulierung von grossen Kommunikationsplattformen anzustreben».
Plattformen wie Instagram, Facebook oder Tiktok sollen künftig einen Rechtsvertreter in der Schweiz benennen, Werbung transparenter kennzeichnen und Hass, Drohungen und Gewaltdarstellungen stärker verfolgen müssen. Weiter sollen sie eine unabhängige Schlichtungsstelle finanzieren, an die sich Schweizerinnen und Schweizer wenden können, falls sie sich ungerecht behandelt fühlen, weil ihre Posts oder Profile gelöscht wurden.
Das neue Schweizer Gesetz soll damit weitgehend Recht aus der EU übernehmen, sofern dies «sinnvoll und machbar» sei, schreibt der Bundesrat Mitte August in einer Antwort auf einen parlamentarischen Vorstoss.
Wird der öffentliche Diskurs verzerrt?
Mit seinem Bestreben, Tech-Plattformen strenger zu regulieren, nimmt der Bundesrat ein altes Anliegen auf. Seit dem Jahr 2016 gab es immer wieder konkrete Forderungen aus der Politik nach strengeren Gesetzen für soziale Netzwerke. Das Lobbying für eine strikte Regulierung erreichte im vergangenen Herbst einen Höhepunkt, als sich vierzehn Schweizer Digitalorganisationen – darunter Algorithm Watch, die Digitale Gesellschaft und die Stiftung Mercator – in einem «Joint Statement» für zehn konkrete Massnahmen aussprachen. Eine ihrer wichtigsten Forderungen wurde vom Bundesrat nun aber mit keinem Wort erwähnt: dass Forschende und Medienschaffende Zugang zu Daten der Plattformen erhalten sollen.
Konkret wollten die Digitalorganisationen erreichen, dass man Analysen durchführen kann, um zu sehen, welche Posts besonders stark verbreitet und welche in ihrer Reichweite zurückgestuft werden. Insbesondere Twitter und Facebook, aber auch anderen Plattformen aus dem liberalen Kalifornien, wurde immer wieder vorgeworfen, sie würden politischen Standpunkten aus dem rechten Spektrum die Reichweite kürzen und damit den demokratischen Diskurs im Netz verzerren. Ausserdem stehen sie im Verdacht, dazu beigetragen zu haben, dass sich Verschwörungstheorien und Falschnachrichten verbreiten.
Hätten Forschende und Medienschaffende Zugang zu den Daten der Plattformen, könnten sie analysieren, inwiefern dies tatsächlich zutrifft. Die Gesetzgebung der EU schreibt den grossen Onlineplattformen vor, dass sie mit unabhängigen Analytikern kollaborieren müssen. Eine solche Regelung wäre auch für die Schweiz wichtig, um zu wissen, «was überhaupt in unserer digitalen Öffentlichkeit passiert», argumentiert die Digitale Gesellschaft Schweiz.
Im «Joint Statement» führen die Organisationen aus, man könne derzeit «kaum mehr als spekulieren, wie Onlineplattformen uns als Menschen und als demokratische Gesellschaft tatsächlich beeinflussen». Die Öffentlichkeit habe aber ein Anrecht darauf, zu prüfen, ob die Entscheide der Netzwerke «unserer Vorstellung einer gesunden öffentlichen Debatte» entsprächen.
Forderung nach besserem Datenzugang chancenlos
Die Forderung nach einem Zugang zu den Unternehmensdaten sei gerechtfertigt, aber voraussichtlich chancenlos, sagt der Anwalt Martin Steiger, der sich auf das Recht im digitalen Raum spezialisiert hat und sich als Sprecher der Digitalen Gesellschaft engagiert. Die Schweiz könne eine solche Forderung im Alleingang nicht durchsetzen.
Theoretisch könnte die Schweiz zwar Firmen per Gesetz dazu verpflichten, Daten mit der Öffentlichkeit zu teilen. Doch dann würde sich ein Grundsatzproblem bei der Schweizer Tech-Regulierung zeigen: Weil die Firmen ihren Sitz im Ausland haben, kann die Schweiz eigene Regeln kaum durchsetzen. «Im Moment entscheiden Plattformen faktisch selbst, welche Schweizer Gesetze sie einhalten – oder eben auch nicht», sagt Steiger. Weiter sei die Schweiz abhängig von den Unternehmen. «Stellen Sie sich vor, Apple, Meta, Microsoft und Co. würden ihre Dienste in der Schweiz plötzlich nicht mehr anbieten. Wir wären zurück in der digitalen Steinzeit.»
«Im Moment entscheiden Plattformen faktisch selbst, welche Schweizer Gesetze sie einhalten – oder eben auch nicht», sagt der Anwalt Martin Steiger.
Die Schweiz könne im Grunde immer nur so weit regulieren, wie dies die EU bereits getan habe, sagt Steiger, denn Plattformen würden für den kleinen Schweizer Markt keine wesentlichen Abweichungen akzeptieren. Typischerweise gehe die Schweiz aber weniger weit in der Regulierung als die EU. Hierzulande dürften sich Unternehmen darauf verlassen, dass der Gesetzgeber ihre Geschäftsgeheimnisse respektiere – also den Zugang zu Daten und Algorithmen kaum einfordere.
Mit dem neuen Gesetz werden voraussichtlich also nur eine Schlichtungsstelle und mehr Transparenz geschaffen – aber mit schmerzhaften Konsequenzen müssen die Firmen deswegen nicht rechnen.
Neue bürokratische Hürden benachteiligen kleine Firmen
Steiger gibt weiter zu bedenken, dass Regulierung den Plattformen unter Umständen auch helfen könnte. Firmen in der Grösse von Google, Meta, Microsoft oder Tiktok könnten sich grosse Rechtsabteilungen leisten und hätten genügend Ressourcen, neue bürokratische Vorschriften einzuhalten. Kleine Firmen mit wenigen Angestellten würden durch die zusätzliche Bürokratie aber im Wettbewerb behindert. «Innovative Konkurrenz kommt gar nicht auf, weil die bürokratischen Hürden irgendwann zu hoch sind», sagt Steiger.
Sollte sich diese Befürchtung bewahrheiten, würde die neue Regulierung den kleinen Firmen schaden, und den grossen Tech-Plattformen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.