Eine überragende Kate Winslet als Kriegsfotografin: «Lee» ist ein einnehmendes Drama, das ohne patriotischen Kitsch auskommt.
Sie fotografiert, sie trinkt und hat Sex. So oft wie möglich und wo auch immer. Und vermutlich in der umgekehrten Reihenfolge. Das sagt Lee Miller einem Fotografen mit ihrer rauchigen, vom Tabak zerstörten Stimme.
Die beiden arbeiten für das Modemagazin «Vogue», er mit der Kamera, sie als Model. Das Jahr ist 1938, in Nizza am Ufer des glitzernden Mittelmeers. Das Magazin richtet ein Fest aus, man lacht, raucht, trinkt und schäkert. Niemand weiss, was in Deutschland vorgeht; keiner ahnt, was Frankreich bevorsteht.
Längst hat Lee das Modeln aufgegeben. Sie hatte es satt, vor der Kamera zu stehen statt dahinter. Seit dem Ende der zwanziger Jahre – Lee lebt in Paris – fotografiert sie selber, beeinflusst von den befreundeten Surrealisten und ihrem Liebhaber Man Ray. Er wird sich von ihrer Trennung nie erholen.
Fast vierzig Jahre später sitzt Lee Miller einem schüchternen jungen Mann gegenüber, der sie interviewen möchte. Wer er ist, erfahren wir viel später im Film. Das Jahr ist nun 1977, Lee ist 70 Jahre alt und wird im selben Jahr an Krebs und den Folgen ihres Alkoholismus sterben. Den hatte sie sich im Krieg angetrunken. Alkohol ist das Medikament der Soldaten.
Und über diese Jahre während des Zweiten Weltkriegs will der Interviewer die Fotografin befragen. Die Siebzigjährige begegnet ihm zunächst mit barschem Sarkasmus. Er wolle sie nicht verhören, entschuldigt er sich. «Alle Interviews sind Verhöre», gibt sie zurück, «jedenfalls die guten.»
Kate Winslet spielt die Fotografin mit einer überwältigenden Präsenz und in allen Nuancen der Frau, die sie verkörpert. Mal glättet sich ihr Gesicht zur Mütterlichkeit, wenn sie ein verängstigtes deutsches Mädchen beruhigt und dann fotografiert. Dann wieder tobt sie vor Wut, wenn man ihr als Frau den Zugang zu einer Pressekonferenz verweigern will. Wenn sie vor toten Zivilisten steht, die mit aufgerissenen Augen am Strassenrand liegen, vergittert sich ihr Gesicht zu einem harten Durchhaltewillen. Lee will alles zeigen, um allen zu zeigen, was Menschen einander antun.
Sie sorgt sich um die Verschwundenen
Zwischen 1942 und über das Kriegsende hinaus folgt Lee Miller als eingebettete Kriegsreporterin der amerikanischen Armee durch Europa. In London hat sie die Folgen des Blitzkriegs fotografiert. In Frankreich sieht sie, was die Nazis angerichtet haben. Während die Leute auf den Pariser Strassen die Befreiung feiern, sorgt sie sich um die Verschwundenen.
Mit ihren schonungslosen Bildern wird Lee Miller aus Upstate New York zur berühmtesten Kriegsfotografin der Welt. Nicht nur, weil sie als eine der wenigen Frauen in diesem Beruf arbeitet, den 2001 schon der Schweizer Regisseur Christian Frei in seinem Oscar-nominierten Dokumentarfilm «War Photographer» auf beklemmende Weise gezeigt hat. Sondern auch, weil ihre Bilder das Grauen des Krieges ohne Zynismus überbringen; man spürt die Empathie ihres Blickes.
Lee Miller fotografiert einen Soldaten im Lazarett, dem der Chirurg ein Bein absägt; Flüchtlinge mit vollen Koffern und leeren Gesichtern; schiessende, beschossene, verletzte, sterbende und tote Soldaten; tote, aufgeschichtete Zivilisten; Städte in Ruinen, hungernde Kinder, Menschen in Fetzen. Lee Miller geht überall so nahe heran wie möglich. Sie trägt ihre Hasselblad vor sich her, als würde die Kamera die Fotografin vor dem schützen, was sie sieht.
Weil sie auch das Täterland verstehen möchte, reist sie nach der deutschen Kapitulation mit David Scherman (Andy Samberg) im Jeep durchs Land. Er arbeitet als Fotograf für das amerikanische Magazin «Life». Sie werden schnell Freunde und bleiben es das Leben lang. 800 Kilometer fahren sie durch Deutschland, zeitweise mit der US-Armee, manchmal alleine. Um schliesslich an einen Ort zu gelangen, der alles Grauen übertrifft, das sie in diesem Krieg erlebt haben.
Fassungslos schaut sie in den Güterwagen
Als ihr Jeep auf die Goethestadt Weimar zufährt und die beiden an stehenden Güterwagen vorbeikommen, bemerken sie einen bestialischen Gestank. Sie halten an, als ein Soldat einen Güterwagen öffnet. Er ist voller Leichen von Menschen, welche die Nazis auf ihrer Flucht vor den Alliierten verdursten liessen.
Fassungslos schauen die Fotografen auf die Toten, dann steigt Lee auf den Wagen. Mit ausdrucksloser Miene fotografiert sie die Leichen. Als die beiden Fotografen in das Konzentrationslager Buchenwald fahren, vor einem Tor anhalten und Lee es öffnet, sieht sie die ausgemergelten Körper weiterer Ermordeter. Ihre Arme sind flehend gestreckt, ihre Münder gellend offen.
Erst brechen Lee und David in Tränen aus. Dann steigt sie in die Leichenkammer und fotografiert. Ihre Bilder gehören zu den ersten, die der Welt den Holocaust überbringen. Die englische «Vogue» getraut sich nicht, sie zu veröffentlichen, das amerikanische Original bringt Lees Bildreportage im Juni 1945 mit dem Titel «Believe it». Glaubt es.
«Lee», das Drama der Kamerafrau Ellen Kuras in ihrer ersten Arbeit als Regisseurin, überzeugt als starker Film fast ohne sentimentale Momente. Vor allem bleibt er keinen Moment lang im Pathos des Patriotismus kleben, der manche amerikanische Kriegsfilme zur Propaganda degradiert.
So geht Lee einmal mit einem Messer auf einen GI los, der ein französisches Mädchen vergewaltigen will. «Die sollten doch dankbar sein», sagt er, lässt sich von der wutentbrannten Fotografin aber abschrecken. Dann schenkt Lee dem Mädchen das Messer.