Die italienische Autorin hat einen langen Brief an ihren Vater geschrieben. Der Roman «Kalte Füsse» ist sowohl persönliche Erinnerung wie historische Recherche.
Schliesst sich hier ein Kreis? Stärker als in anderen Ländern gibt es in Italien von rechts wie von links Verständnis für Putins Krieg in der Ukraine. Für eine imperialistische Politik, in der die Schriftstellerin Francesca Melandri Ähnlichkeiten zur faschistischen Epoche ihrer Heimat sieht.
Mussolini hatte im Juni 1941 der UdSSR den Krieg erklärt und im Bündnis mit Hitler eigene Eroberungstruppen in die Ukraine entsandt. In den Alpen ausgebildete Gebirgsjäger plünderten die Dörfer. Sie kämpften am Donbass und am Donezk-Becken. In Irpin, Sumi und Charkiw. Dort, wo heute die ukrainische Bevölkerung von Putin bedroht wird. Beim Ausheben von Schützengräben stossen die Soldaten auf Skelette, die seit achtzig Jahren in der Erde liegen. Dass Francesca Melandris eigener Vater, damals 23-jähriger Leutnant der Alpini, die Heimat nahezu unversehrt wieder erreicht hat, verdankt sich glücklichen Zufällen. Die Frage aber bleibt: Was wollte er, was wollte das faschistische Italien in der Ukraine?
Wenn die Berichte aus den heutigen Kampfzonen über die Bildschirme und durch die Social-Media-Kanäle flimmern, beginnt die Familiengeschichte Francesca Melandris zu wanken. Damit sich das Private und das Politische nicht vollends ineinander verknoten, hat die Autorin einen langen Brief an den Vater geschrieben. In Buchform heisst diese ergreifende und sehr persönliche Botschaft «Kalte Füsse».
Das Buch ist ein Essay und zugleich ein Erinnerungsversuch. Franco Melandri ist seit einigen Jahren tot und hat die letzte Phase seines Lebens mit Demenz verbracht. Umso aufwendiger gestalten sich die Nachforschungen der 1964 geborenen italienischen Schriftstellerin, deren bisherige Romane «Eva schläft», «Über Meereshöhe» und «Alle, ausser mir» Themen der komplexen und oft verdrängten italienischen Geschichte verhandeln.
Es geht darin um die bleiernen siebziger Jahre mit ihrem linken und rechten Terrorismus und um den 1935 begonnenen faschistischen Kolonialkrieg in Abessinien. Auch der Ukraine-Feldzug im Zweiten Weltkrieg hat in den Geschichtsbüchern drastische Retuschen erfahren. Er ist als Opfererzählung verankert, als «Ritirata di Russia», als entbehrungsreicher und mit Todesopfern gesäumter Rückzug aus Russland. Die Vorgeschichte, das Eindringen der eigenen Truppen in die Gebiete der heutigen Ukraine, ist aus dem Staatsgedächtnis getilgt.
Überzeugter Faschist
Francesca Melandri legt ihr Buch «Kalte Füsse» in drei Strängen an, wenn man so will. Da ist einmal die brutale Gegenwart von Putins Angriffskrieg in der Ukraine. In schockhafter Anteilnahme sieht die Schriftstellerin Bilder aus dem Leben einer todesbedrohten Bevölkerung. Sie liest die öffentlichen Verlautbarungen und Lügen des russischen Imperators. In einem zweiten Strang versucht Francesca Melandri jene historischen Fakten miteinander zu verknüpfen, die das Leben ihres Vaters von der verlorenen Jugend bis ins Alter geprägt haben müssen.
Und als Drittes sind da noch die sehr persönlichen Erinnerungen an einen feinsinnigen und kulturell interessierten Menschen, dessen Wesen politisch umschattet blieb. Franco Melandri zog als überzeugter Mussolini-Anhänger in den Krieg. Als Journalist verfasste er noch zu Zeiten, als das Regime nicht mehr zu retten war, einen Leitartikel, in dem er den Faschismus als einzig mögliche Zukunft des Landes pries.
Mit ihrem Buchtitel «Kalte Füsse» spielt Francesca Melandri auf die schlechte Ausrüstung der Armir, der Armata Italiana in Russia, an. «Hühnersoldaten» nannten die Sowjettruppen ihr feindliches Gegenüber, weil sie seltsame Federn auf den Helmen trugen. An den Füssen trugen sie trotz der arktischen Kälte kaum taugliches Schuhwerk. Viele italienische Soldaten erfroren beim grossen Rückzug im Winter 1942/43.
Zum Anekdotenschatz von Melandris Vater gehörte die Geschichte von den «Walenki», von den warmen Filzstiefeln, die die von ihm geführte Kompanie in einem Lager mitten in der Steppe gefunden haben soll. Mit dieser unverhofften Beute an den Füssen schaffte man es schliesslich zurück bis nach Italien. Zuvor allerdings spielte man mit den übermächtigen feindlichen Formationen Katz und Maus.
Franco Melandri höchstpersönlich wollte die Sowjetsoldaten von einem Vorrücken abgehalten haben. Er habe am Don das Heulen der Wölfe so täuschend echt nachmachen können, dass es selbst ein später in anderer Funktion berühmter Truppenführer des Feindes mit der Angst zu tun bekommen habe: Nikita Chruschtschow.
Franco Melandri hat versucht, Herr seiner eigenen Geschichte zu bleiben. Er war ein verschwiegener Mensch und konnte beim Erzählen von Anekdoten aufleben oder indem er der Tochter beim Autofahren historische Vorträge hielt. Über seine Zeit als Soldat in der Ukraine hat der Vater sogar einen Roman geschrieben, der aber nur in kleiner Auflage erschien. Ursprünglich hiess das Manuskript «Es war kalt», später «Rückkehr mit dem Verrückten».
In diesem Roman, der im März 1945 entstanden ist, sucht Francesca Melandri nach Spuren der Irritation, nach Einsichten, dass der faschistische Weg ein Irrtum gewesen sein könnte. War ihr Vater ein Geläuterter? Offenkundig war er das nicht, wie Francesca Melandri bei ihren Recherchen herausgefunden hat. In der «Gazzetta del Popolo» veröffentlicht er im letzten Kriegsjahr jenen Leitartikel, der auf ein Wiedererstarken des Faschismus hofft.
Geschichte ohne wahren Kern
Italien ist damals nur noch eine Marionettenrepublik von Hitlers Gnaden. Bald darauf wird Mussolini erschossen. Franco Melandri bekommt Berufsverbot als Journalist, das so lange hält, bis sich ausgerechnet ein namhafter Antifaschist für ihn starkmacht.
«Kalte Füsse» erzählt die italienische Geschichte, als hätte sie die Gestalt einer Zwiebel. Schicht liegt an Schicht, aber es gibt keinen wahren Kern. Linke wie Rechte kämpfen heute mehr denn je um die Deutungshoheit. Die Verbrechen des Faschismus stehen neben der über das Kriegsende hinaus wirksamen Moskautreue der italienischen Kommunisten. Sie werden das kulturelle Leben der Nation nach dem Krieg noch über Jahrzehnte prägen.
Giorgia Meloni und die italienischen Postfaschisten sehen sich als endgültige Überwindung dieser Zeiten. Francesca Melandri befragt in ihrem dramatisch erzählten Buch Italiens Historie aus privaten Gründen, aber sie hat damit ein höchst politisches Dokument geschaffen. Es ist für Zeiten geschrieben, in denen man weltweit kalte Füsse bekommen kann.
Francesca Melandri: Kalte Füsse. Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach-Verlag, Berlin 2024. 288 S., Fr. 35.90.