Nach dem Tod des Hamas-Chefs Yahya Sinwar scheint Israel eine Wiederaufnahme der Verhandlungen voranzutreiben. Mit Blick auf Libanon stellt es Bedingungen für eine Waffenruhe. Washington hat erneut hochrangige Vermittler in die Region geschickt.
Israel kann derzeit einen militärischen Erfolg nach dem nächsten verbuchen: Die libanesische Schiitenmiliz Hizbullah ist infolge der massiven Bombardements arg dezimiert und geschwächt, ihr Anführer Hassan Nasrallah ist tot, und vergangene Woche wurde im Gazastreifen eher zufällig auch Yahya Sinwar getötet, der Chef der Hamas und Hauptverantwortliche für das Massaker des 7. Oktober.
Nach Angaben der israelischen Streitkräfte (IDF) verläuft auch die Bodenoffensive in Libanon nach Plan: So gehen sie davon aus, dass lediglich 30 Prozent des Raketenarsenals des Hizbullah übrig sind, wie sie am Montagabend mitteilten. Derweil bekunde die schiitische Miliz Mühe, weitere Kämpfer ins Gefecht zu schicken, wo ihr inzwischen fünf israelische Divisionen gegenüberstehen, hiess es. 1200 Hizbullah-Kämpfer sollen seit Beginn der Offensive getötet worden sein.
Laut Medienberichten sind die IDF überzeugt, die Bodenoperationen in Südlibanon innert «einigen Wochen» abschliessen zu können. Sobald die Infrastruktur des Hizbullah im Grenzgebiet zerstört sei, würden die evakuierten Bewohner von Israels Norden in ihre Häuser zurückkehren können. Allerdings betonten die namentlich nicht genannten Militärs, dass militärischer Druck allein nicht ausreichen werde – es brauche auch eine politische Lösung, um die Rückkehr der Evakuierten zu ermöglichen, sagten sie am Montag.
Will Israel ein «1701-Plus-Abkommen»?
Selbst wenn dem Hizbullah tatsächlich nur noch 30 Prozent seiner Raketen bleiben, verfügt die Miliz immer noch über Zehntausende Geschosse, die sie auf Israel abfeuern und damit die latente Bedrohungslage für die nordisraelischen Städte aufrechterhalten kann. Seit Beginn der Bodenoffensive am 1. Oktober hat sich die Zahl der Raketenangriffe aus Libanon vervierfacht. Und bei einem Rückzug der Israeli aus Südlibanon könnte sich der Hizbullah wohl relativ schnell wieder in dem Gebiet breitmachen.
So scheint inzwischen auch die israelische Regierung die Möglichkeiten für einen Waffenstillstand auszuloten. Wie mehrere Medien berichten, hat Israel vergangene Woche den USA ein Dokument geschickt, in dem verschiedene Vorschläge für ein Abkommen dargelegt werden. Gemäss diesem Dokument fordert Israel etwa freien Zugang zum libanesischen Luftraum und militärische Handlungsfreiheit in Südlibanon, um die Entwaffnung des Hizbullah «aktiv durchzusetzen».
In Diplomatenkreisen ist offenbar die Rede von einem «1701-Plus-Abkommen», benannt nach der Resolution 1701 des Uno-Sicherheitsrats, die den Libanonkrieg von 2006 beendete. Es scheint allerdings unwahrscheinlich, dass sich der Hizbullah oder die libanesische Regierung auf die von Israel gestellten Forderungen einlassen. Trotzdem hat Washington zum erneuten Mal seinen Nahostbeauftragten Amos Hochstein nach Beirut entsandt, um die Verhandlungen voranzutreiben. Die Lage sei ausser Kontrolle geraten, sagte er am Montag. Die Resolution 1701 allein reiche nicht aus, um den Konflikt zu beenden. Die israelischen Forderungen erwähnte er dabei nicht.
Die israelischen Geheimdienste weibeln für Gaza-Abkommen
Am Dienstag ist zudem auch in Israel Besuch aus den USA eingetroffen. Zum mittlerweile elften Mal seit Kriegsbeginn ist der amerikanische Aussenminister Antony Blinken in den jüdischen Staat gereist. Danach sollen Besuche in Ägypten und Katar folgen. Blinken verfolgt offenbar das Ziel, die eingefrorenen Verhandlungen für ein Abkommen über die Freilassung der Geiseln wiederzubeleben und den Krieg im Gazastreifen zu beenden. Allerdings heisst es aus amerikanischen Beamtenkreisen, dass die Chancen auf eine Einigung trotz der Tötung Sinwars nach wie vor relativ gering seien. Weder Israel noch die Hamas hätten ihre Verhandlungspositionen wesentlich geändert.
Dazu kommt, dass aufseiten der islamistischen Terrororganisation ein Ansprechpartner fehlt – bislang hat sie keinen Nachfolger für Sinwar ernannt. Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP, der sich auf Quellen in der Hamas beruft, soll ein fünfköpfiges Gremium aus den Reihen der Hamas-Exilführung in Katar vorübergehend die Leitung übernehmen.
Noch wurden die Verhandlungen nicht wieder aufgenommen. Dennoch scheint Israel an einer Neuauflage der Gespräche mit der Hamas durchaus interessiert zu sein. So reiste der Chef des israelischen Inlandgeheimdienstes Shin Bet am Sonntag nach Kairo, wo in der Vergangenheit immer wieder verhandelt wurde. Dabei soll er offenbar über die Möglichkeit einer zweiwöchigen Waffenruhe gesprochen haben, in deren Rahmen fünf israelische Geiseln freigelassen würden. Gleichzeitig plädiert der Direktor des Auslandsgeheimdienstes Mossad laut Medienberichten für ein umfassendes Abkommen, mit dem sowohl der Krieg in Gaza wie auch jener in Libanon beendet und die Rückkehr aller Geiseln ermöglicht werden sollen. Details sind derzeit nicht bekannt.
Israels Ministerpräsident Netanyahu selbst hat bisher keine Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Zuletzt hatte sein Büro am Sonntag mitgeteilt, dass Israel den Krieg nicht beenden werde, bevor alle Ziele erreicht seien. Ohnehin halten es Experten für unwahrscheinlich, dass bei den Verhandlungen mit der Hamas signifikante Fortschritte erzielt werden könnten, solange unklar ist, wie sich der Konflikt zwischen Israel und Iran entwickelt. Nach wie vor hat Israel nicht auf den iranischen Angriff mit 180 ballistischen Raketen vor drei Wochen reagiert.
Zudem hat Israel erst vor zwei Wochen eine neue Offensive im nördlichen Gazastreifen gestartet. Auch wenn es nun erste Anzeichen für diplomatische Vorstösse gibt, dürfte es noch ein weiter Weg sein, bis die Waffen im Nahen Osten tatsächlich schweigen.