Was Kunst ist, bestimmt oft der Kontext. Warum selbst ein Pissoir zum Kunstwerk werden kann, ist eine Frage der Betrachtung. Eine Winterthurer Ausstellung liefert Anschauungsmaterial.
Im Foyer des Zürcher Hotels Dolder Grand sitzt ein Obdachloser. Darüber hat sich neulich ein deutscher Journalist aufgeregt. «In der Lobby denke ich, ich sehe nicht richtig. Dort scheint ein Mann zu schlafen. Zerzauste Haare, offenes Hemd, er wirkt erschöpft. Erst als ich näherkomme, sehe ich: Es ist nur eine täuschend echt aussehende Figur!»
Dabei hat der Obdachlose unter dem Dach des Hotels längst ein Obdach gefunden, er ist schon seit Monaten dort. Es handelt sich bei ihm um ein aus Fiberglas und Polyesterharz hergestelltes, hyperrealistisches Werk des amerikanischen Bildhauers Duane Hanson (1925–1996).
«Ist das noch Kunst oder einfach nur geschmacklos?», empörte sich der Journalist der deutschen «Bild»-Zeitung in seinem Artikel. An der Figur «Traveller» aus der hoteleigenen Kunstsammlung mag man vielleicht tatsächlich Anstoss nehmen, weil sie im Rahmen eines Luxushotels ausgestellt wird. Aber ist das jetzt Kunst im falschen Kontext?
Kunst und Kontext
Die Irritation jedenfalls ist beabsichtigt. Duane Hanson wollte auf soziale Probleme aufmerksam machen. Dies tat er mit dem Mittel eines visuellen Stolpersteins. Wir glauben, es mit echten Menschen zu tun zu haben, wann immer Hansons lebensgrosse Figuren, die meistens Leute aus dem amerikanischen Prekariat repräsentieren, in einem Museum platziert sind.
In einem Museum erwartet man keine erschöpften Arbeiter wie etwa Hansons berühmten «Delivery Man» mit Sprite-Dose in der Hand. Auch mit einsamen Menschen, wie jener alten Frau von Hanson, die vor zwei Jahren in der Fondation Beyeler auf einem Stuhl sitzend mit leerem Blick vor sich hin starrte, rechnet man nicht unbedingt in einer Kunstinstitution.
Und natürlich ist man im Umfeld einer luxuriösen Hotellobby nicht auf einen Obdachlosen gefasst. Mit prominenter Kunst aber ist an einem solchen Ort durchaus zu rechnen. Und dass Besucher auf solche Kunst auch irgendwie ansprechen, wünscht sich wohl nicht nur ein Hotelmanagement, sondern selbst jeder Museumskurator.
Was Hanson bei den irritierten, empörten oder gar geschockten Betrachtern seiner Kunst bisweilen auslöst, ist so etwas wie menschliches Mitgefühl. Damit hat der Künstler sein Ziel erreicht. Denn dieses bestehe darin, «den Betrachtern meiner Arbeit zu ermöglichen, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und dabei vielleicht auch nach Wegen zu suchen, sie zu verbessern», erklärte er einmal lapidar.
Kunst als Kult und Kommerz
Kunst ist manchmal richtig gute Kunst, wenn sie in einem Kontext auftaucht, der nicht ihr gewohnter ist. Gerade das vermeintlich falsche Umfeld kann bisweilen Kunst überhaupt erst zu Kunst werden lassen. Das war so mit Marcel Duchamps berühmtem Pissoir. Indem der französisch-amerikanische Konzeptkünstler 1917 auf die Idee kam, ein Urinoir – eigentlich das Anti-Kunstwerk schlechthin – auf einen Sockel zu stellen und unter dem Titel «Fountain» in einer Kunstausstellung zu platzieren, erfand er das sogenannte Readymade.
Ein Readymade ist ein Alltagsgegenstand, der zum Kunstwerk erklärt wird. Dies oft allein durch den Akt seiner Verortung in einem musealen Rahmen. Denn als Kunst erscheint uns in der Regel, was in Kunstmuseen ausgestellt ist. «Fountain» wurde 1917 an der Ausstellung der New Yorker Society of Independent Artists zwar nicht zugelassen, nachdem eine hitzige Diskussion darüber entbrannt war, was denn wirklich Kunst sei. Erst dadurch aber wurde das weisse, mit dem Pseudonym R. Mutt signierte und mit der Jahreszahl 1917 datierte Pissoir berühmt. Es gilt heute als ein Schlüsselwerk der modernen Kunst.
Duchamps kühner Kniff nennt sich auch Dekontextualisierung. Und diese ist in der Kunst der Moderne gang und gäbe. Das begann schon mit den Avantgardisten rund um Picasso. Als diese die afrikanische Kunst als Inspirationsquelle entdeckten, machten sie im Grunde etwas Ähnliches wie Duchamp. Sie erblickten Kunst dort, wo es gar keine solche gab.
Eine afrikanische Fetischfigur ist kein Kunstwerk. Sie wurde angefertigt, um böse Geister abzuwehren. In westlichen Galerien und Museen aber in Vitrinen ausgestellt und schön ausgeleuchtet, erhält sie für die ästhetische Empfindung heutiger Kunstbetrachter eine neue Bedeutung.
Mit solchen afrikanischen Fetischfiguren wurden Kultgegenstände zu Kunst. Diese Bedeutungsverschiebung nimmt der afroamerikanische Künstler Matthew Angelo Harrison zum Anlass seiner Kunst. Er giesst afrikanische Holzskulpturen und Tanzmasken in Polyurethan-Klötze. Mit seinen Plastiken will er auf den Fetischcharakter von Kunstwerken aufmerksam machen. Seine jüngsten, 2024 entstandenen Objekte stehen jetzt im Kunstmuseum Winterthur in einer Ausstellung unter dem Titel «Form Matters, Matter Forms». Darin wird über den Bedeutungswandel von Objekten im musealen Kontext nachgedacht.
So können Luxusuhren grosser Marken zu Kunst werden, wenn sie ein Künstler wie der Amerikaner Richard Prince fotografiert und die Aufnahmen in Bilderrahmen steckt («Watches» 1977/78). Oder auch Modemagazine wie die «Vogue», zu Zeitungsbündeln geschnürt. Die Schweizerin Sylvie Fleury hat solche Kunstobjekte geschaffen, so etwa «Mixage» von 2021, das jetzt in Winterthur zu sehen ist.
Bei diesen Beispielen von Warenfetischismus geht es um Kultgegenstände der modernen Konsumgesellschaft. Das Kunstpotenzial von Konsumgütern hatte bereits Andy Warhol genutzt. Er deklarierte Tomatensuppenbüchsen und Waschmittelkartons als Kunstwerke der Pop-Art. Die berühmten «Campbell’s Soup Cans» und «Brillo Boxes» wurden zum Markenzeichen seiner Kunstproduktion der sechziger Jahre.
Derweil gleicht der Kunstmarkt immer mehr einem Supermarkt der Extraklasse, in dem Kunst feilgeboten wird wie eine Ware. Der Konsumrausch hat sich längst auf die Kunst ausgedehnt und der Kunstbetrieb kultartige Züge angenommen. Sobald sie als Kunstwerk deklariert sind, werden aus simplen Alltagsgegenständen wie im Fall von Warhols Werken immense ökonomische und ideelle Werte geschaffen.
Auf Messen wie der Art Basel mit ihren astronomischen Verkaufszahlen gilt das Credo: «I shop, therefore I am.» Ich kaufe, also bin ich – einen solchen Spruch kann man jetzt in Winterthur auf einer von der Amerikanerin Barbara Kruger gestalteten Einkaufstüte von 1990 lesen. Der Kommentar des französisch-amerikanischen Objektkünstlers Arman zum Konsumgut Kunst wiederum besteht in einer grossen Installation aus 40 Einkaufswagen von 1996.
Wert und Trash
Wo es Kunst zu vermarkten gibt, sind auch die Imitate bald zur Hand. Die Amerikanerin Elaine Sturtevant ist eine Vertreterin der Appropriation-Art. Mit ihren täuschend echten Kopien von Werken anderer Künstler unterläuft sie die Vorstellung vom fetischisierten, originalen Kunstwerk. Ihre Aneignung eines ikonischen «Flower Painting» von Warhol führt in der Winterthurer Schau die Besucher hinters Licht. Die Wirkung des vermeintlichen Originals ändert sich schlagartig, sobald man weiss, dass das Bild nicht von Warhol stammt.
In der schieren Warenwelt des Kunstmarkts hat aber eben auch das Imitat seinen künstlerischen Wert. Zumindest wenn es mit einem Künstlernamen wie Surtevant signiert ist. Für gewöhnlich aber sind Reproduktionen von Kunstwerken nicht viel mehr wert als normale Gebrauchsgegenstände. Sie landen irgendwann auf dem Müll.
Was aber, wenn selbst Abfall durch die museale Präsentation zum Kunstwerk wird? Da scheint dann der Kontext wirklich alles zu sein für die Kunst. In der Winterthurer Schau ist auch ein Abfalleimer voller PET-Flaschen zu sehen. Das Kunstwerk von 2007 ist allerdings kein billiger Trash. Es stammt von Claire Fontaine.
Dahinter steckt ein italienisch-britisches Künstlerduo, das sich einiges überlegt hat. Claire Fontaine ist ein Kunstname, der auf Duchamps Readymade «Fountain» anspielt. Der Titel des Werks, «Les Refusés», wiederum ist eine Hommage an die von der Jury des Pariser Kunstsalons des 19. Jahrhunderts Zurückgewiesenen, die Refüsierten.
Diese zurückgewiesenen Künstler führten 1863 in einer Protestaktion ihre eigene Ausstellung durch, nämlich den Salon des Refusés. Viele der dort Beteiligten wie Courbet, Monet, Manet oder Renoir sind heute Grössen der Kunstgeschichte, während die Künstler des offiziellen Salons weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Heute gilt mehr denn je, genau hinzuschauen und gute Kunst auch als solche zu erkennen. Damit sie nicht wie Abfall weggeräumt wird. Oder man sich in einem Hotelfoyer auf Vorrat darüber empört.
«Form Matters, Matter Forms. Vom Readymade zum Warenfetisch», Kunstmuseum Winterthur, bis 17. November.