Bald ist es so weit: Am Sonntag, 17. November 2024, wird der Schweizer Buchpreis 2024 verliehen. Auf der Shortlist stehen Mariann Bühler, Zora del Buono, Martin R. Dean, Béla Rothenbühler und Michelle Steinbeck mit ihren Werken.
Weggehen oder bleiben? Dies fragen sich alle Protagonisten in Mariann Bühlers literarischem Debüt. Die Autorin erzählt von drei Menschen, die hier – in einem Dorf in den Voralpen, in der Zentralschweiz – aufgewachsen oder in etwas hineingewachsen sind. Auf den ersten Blick zeigt sich das Leben von Elisabeth oder dem Bauern Alois als unveränderlich, als so unverrückbar wie die Berge vor ihren Augen. Ihr Alltag ist verwoben mit dem Rhythmus von Backstube oder Bauernhof, auch Vereine und der sonntägliche Kirchgang gehören dazu. Doch der Eindruck des beständigen, ja konservativen Dorflebens entsteht allein aus dem Blick von aussen. Dieser Blick besagt genau so wenig wie eine Postkarte.
Mariann Bühler dagegen schaut genauer hin. In ihrem feinen, vielschichtigen Roman nutzt sie die Fähigkeit der Literatur, ins Innere vorzudringen. Ins Innere der Stube, des Stalls und der Bäckerei, ins Innere des gelebten Lebens und der Menschen. Sie nähert sich ihren Figuren ebenso präzis wie dezent. Dank einer klugen Dramaturgie entwirft sie Biografien, die nachhallen. Ihre Sprache erzeugt eine fast körperliche Nähe – und grosse Gefühle, ohne sie zu benennen. So zeigt dieser gegenwärtige Heimatroman auch das, was unter der Oberfläche passiert. Denn nicht nur die Menschen, auch die Berge verändern sich, bilden Risse oder falten sich in die Höhe.
Mehr zum Buch:
«Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler
Atlantis Literatur, 2024. 202 Seiten, um 31 Franken, E-Book 17 Franken.
Kurzkritik von Martina Läubli.
Vielleicht haben sich die frühen Erinnerungen in seinen Körper eingeschrieben: das Zwitschern der Kolibris, die Stimme der Orisha-kundigen Kinderfrau. Aber Zugang zu ihnen verschaffen kann sich Martin R. Dean erst nach dem Tod seiner Mutter, als er auf ein Album mit alten Fotos stösst – eines zeigt ihn als Kleinkind in einer Kaffeeplantage. Also besucht der Schriftsteller Verwandte in Trinidad, wo er vom Schicksal der indischen Kontraktarbeiter erfährt. Auch an das Aargauer Dorf seiner Kindheit denkt er zurück, an die Grosseltern, die Tabakindustrie und daran, wie er mit dem N-Wort beschimpft wurde.
So verwebt Dean Familie, Migrationserfahrungen und Kolonialgeschichte zu einem vielschichtigen, subtilen und dabei plastischen Erinnerungstext, der in seinem stillen Sog an W. G. Sebald erinnert.
Mehr zum Buch:
«Tabak und Schokolade» von Martin R. Dean
Atlantis Literatur, 2024. 214 Seiten, um 30 Franken, E-Book 16 Franken.
Kurzkritik von Martina Läubli.
In seinem zweiten Roman nimmt der 1990 geborene Mundartautor, Musiker und Dramaturg Béla Rothenbühler den Schweizer Kulturbetrieb und namentlich dessen Förderung durch staatliche und private Institutionen aufs Korn. Sabine und Chantal sind zwei junge Theaterproduzentinnen, die einen Verein namens «Polifon Pervers» gründen. Mit ihm tricksen sie nicht nur ihre Geldgeber aus, sondern machen in ihrer Provinzstadt auch mit Performances Furore. Die Medien gehen ihnen sofort auf den Leim, und ihr Erfolg lässt sie immer verwegener werden.
Mit seinen sympathischen Heldinnen und schillernden Figuren wie dem Regisseur Lüssiän oder dem Ghostwriter Iiv steht das Buch in der Tradition des Schelmenromans. Es lebt vom Plot, von der satirischen Überzeichnung und dem kernigen Luzerner Dialekt.
Mehr zum Buch:
Kurzkritik von Manfred Papst.
Schreiben sei für sie immer ein Experiment, sagte Michelle Steinbeck im Interview mit «Bücher am Sonntag». In ihrem zweiten Roman experimentiert eine selbsternannte Detektivin mit einer Geisterbeschwörung. Die Romanheldin Fila will den rätselhaften Tod ihrer Mutter in Italien aufklären, wird in eine abgelegene Villa entführt und stösst dort auf einen weiteren Mordfall aus den 1940er Jahren. Unterwegs tauchen Amazonen, ein faschistischer Geheimbund und Gespenster auf. «Ich ging mit meiner Schreibmaschine zu jener Stelle im Wald, an der es angeblich am meisten spukte.»
Steinbeck beschwört die Geister in sinnlicher, manchmal überzeichnender Sprache und entwirft einen rasanten und skurrilen Roman: «Favorita» ist Familiengeschichte, Road-Novel und feministischer Rachekrimi in einem.
Mehr zum Buch:
«Favorita» von Michelle Steinbeck
Park × Ullstein, 2024. 460 Seiten, um 33 Franken, E-Book 19 Franken.
Kurzkritik von Martina Läubli.
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater, ein junger Arzt, als Beifahrer bei einem Autounfall ums Leben kam. Nun ist sie sechzig, doch der Verlust beschäftigt sie nach wie vor. Deshalb macht sie sich auf eine schwierige Spurensuche: Was ist damals passiert, und wer war der Unfallverursacher, der mit seinem Chevrolet frontal in den VW-Käfer ihres Onkels krachte? Warum wurde er nur milde bestraft? Findet sie ihn, kann sie mit ihm reden?
Mit einer Mischung aus Neugier und Beharrlichkeit gelingt es der Autorin, so viele Mosaiksteinchen zusammenzusetzen, dass sich schliesslich ein Bild ergibt – eines, das sie und uns gleichermassen überrascht. Die Autorin streut in ihre Erzählung Briefe, Gespräche und Gerichtsprotokolle ein. Ihr packender Bericht erinnert an Max Frischs zweites Tagebuch.
Mehr zum Buch:
«Seinetwegen» von Zora del Buono
C. H. Beck, 2024. 204 Seiten, um 33 Franken, E-Book 18 Franken.
Kurzkritik von Manfred Papst.
Dieser Artikel stammt aus «Bücher am Sonntag», der vierteljährlich erscheinenden Beilage der «NZZ am Sonntag».