Bei Pneus schreibt der Gesetzgeber eine Mindestprofiltiefe von 1,6 Millimetern vor. Doch viele Autofahrer tauschen ihre Reifen schon vorher gegen neue. Das hat Vor- und Nachteile.
Volle 3 Millimeter Profil besitzt der Autopneu noch auf der Innenflanke. Und doch rät der freundliche Reifenhändler um die Ecke zu einem Wechsel. Wegen der Sicherheit. Stimmt das, oder ist es nur Geldmacherei?
Viele Reifen-Experten raten zu einem Satz neuer Pneus schon bei einer Restprofiltiefe von 3 Millimetern. Gesetzlich vorgeschrieben sind in der Schweiz wie auch in Deutschland mindestens 1,6 Millimeter. Wenn diese Tiefe erreicht ist, bilden sich zwischen den Rillen sichtbare Verbindungsstege. Warum die Reifen also nicht bis zu dieser Markierung abfahren? Das wäre nicht nur günstiger, sondern auch nachhaltiger.
Einige Premiumhersteller wie Continental, Pirelli, Bridgestone oder Goodyear werben mit besonders langlebigen Reifen. Ihre Gummimischung soll über die gesamte Profiltiefe die gleiche Qualität aufweisen und dadurch ausreichend Haftung am Belag bieten.
Genau mit diesem Attribut wirbt auch Michelin seit einiger Zeit. Der Hersteller empfiehlt, dass seine Pneus bis zur gesetzlichen Mindestprofiltiefe von 1,6 Millimetern gefahren werden. Selbst bei der Mindestprofiltiefe arbeiten demnach die Reifen zuverlässig und sicher.
Um diese Eigenschaft sicherzustellen, integriert Michelin eine «Regentropfenrille». Das ist eine Profilrinne in Regentropfenform, die in gefahrenem Zustand breiter wird und eine hohe Wasserverdrängung gewährleisten soll – für ausreichend Sicherheit selbst bei Regen. Hochwertige Materialien und aufwendige Produktionsprozesse stellen eine gleichbleibende Gummimischung und damit gleichbleibenden Grip sicher.
Weniger Reifenabrieb dank hochwertigen Materialien
Premiumreifen sollen sich damit langsamer abnützen als günstige Reifen, von denen immer häufiger auch Produkte aus China auf hiesige Märkte kommen. Dazu erzeugt ein Michelin-Reifen gemäss Herstellerangaben auf 1000 Kilometer Strecke rund 95 Gramm Abrieb, andere Hersteller kommen auf 120 Gramm Abrieb.
Michelin stellt eine interessante Rechnung auf: Allein in Europa werden jährlich 128 Millionen Reifen frühzeitig mit einer Restprofiltiefe von 3 bis 4 Millimetern entsorgt, was einem CO2-Ausstoss von 6,6 Millionen Tonnen entspricht. «Denn statt möglicher 40 000 Kilometer legen die Reifen im Schnitt nur 31 250 Kilometer zurück – dadurch werden mehr Reifen produziert und rezykliert», sagt Cyrille Roget von der Michelin-Kommunikation.
Bei einer Jahresfahrleistung von 20 000 Kilometern bedeutet das 2,56 Reifen pro Jahr statt 2,0. Das ergibt 10,2 Kilogramm CO2 pro Jahr und 39,9 Kilogramm Kohlendioxid im gesamten Lebenszyklus des Autos. Bei rund 229 Millionen Fahrzeugen in Europa ergeben sich 128 Millionen Reifen und 2,3 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr sowie 9,1 Millionen Tonnen CO2 über den gesamten Lebenszyklus eines Fahrzeugs.
Dass ausgerechnet ein Reifenhersteller dazu rät, seine Reifen länger zu fahren, vermag zu erstaunen. «Wir wollen und werden nachhaltiger sein», sagt Maria Röttger, Präsidentin und CEO Michelin Europa Nord. «Bis 2030 werden wir in unseren Reifen nachhaltige Materialien einsetzen.» Ein Reifen besteht zwar unter anderem aus Russ, Kautschuk, Silica, Stahl und Textil. Heute finden sich im Gummi schon über 200 Rohstoffe, unter anderem auch organische Zusätze wie Orangenschalen und Sonnenblumenöl.
Dass ein teurerer Reifen besser und langlebiger fährt als ein günstiges Produkt, dürfte aber kaum an seinen umweltfreundlichen Materialien liegen, eher am Premiumanspruch gewisser Hersteller und ihrem damit verbundenen Leistungsversprechen.
Fachleute sind skeptisch
Experten schliessen sich der Aussage von Michelin allerdings nicht vollständig an. Ihrer Meinung nach lassen bei reduziertem Profil auch die Fahreigenschaften nach. Vor allem bei Winterreifen ist das Profil entscheidend. Feine, lange Lamellen von neuen Reifen verzahnen sich besser mit Schnee und Schneematsch als alte Reifen mit kurzen Lamellen.
Auch bedeutet bei den meisten Reifen weniger Profil eine schlechtere Abführung von Wasser auf der Fahrbahn. Bei Regen oder Schneematsch mit viel Wasser auf der Strasse kann der Reifen das Wasser von der Lauffläche nicht mehr schnell genug ableiten, und der Reifen schwimmt auf – man spricht von Aquaplaning. Es droht der Kontrollverlust des Fahrers, weil Lenk- und Bremskräfte nicht mehr optimal übertragen werden können.
Die Automobilklubs ADAC und TCS haben bei einem Reifentest mit abgefahrenen Pneus mit einer Profiltiefe von 2,5 und 2 Millimetern festgestellt, dass diese bis zu 70 Prozent ihrer Fähigkeit verlieren, Längs- und Querkräfte miteinander zu kombinieren – gemeint ist Aquaplaning in Kurven. Daher empfehlen die Klubs weiterhin: Winterreifen ab einer Profiltiefe von unter 4 Millimetern und Sommerreifen ab einer Profiltiefe von 3 Millimetern sollte man gegen neue wechseln.
Mit einer 1-Euro-Münze lässt sich das einfach kontrollieren. Ragt der goldfarbene Rand der Münze im Profil heraus, wird die Mindestprofiltiefe von 3 Millimetern unterschritten – Zeit für einen Wechsel. Das funktioniert auch mit einer 2-Franken-Münze: Sind die Sterne am Münzenrand ablesbar, ist das Mindestprofil unterschritten. Dabei gilt die Profiltiefe nicht nur in der Mitte der Lauffläche, sondern auch an den Aussenseiten.
Alte Reifen verlieren Weichegrad und Haftung
Entscheidend für einen guten Kontakt des Reifens zur Strasse ist übrigens nicht nur das Profil, sondern auch das Alter und der Luftdruck. Daher sollte der Luftdruck nach Herstellerangaben eingestellt und regelmässig kontrolliert werden. Doch auch wenn das Profil noch ausreichend vorhanden ist und der Luftdruck stimmt, gilt: spätestens nach acht Jahren Reifen wechseln. Durch Hitze und UV-Strahlung härten die Pneus aus und können porös werden.
Was viele Autofahrer nicht wissen: Im Ausland gibt es zum Teil schärfere Regeln. So verlangt Österreich bei Winterreifen eine Mindestprofiltiefe von 4 Millimetern bei Radialreifen (geradeaus laufende Fasern der Karkasse) und von 5 Millimetern bei Diagonalreifen (schräg angeordnete Fasern). In Italien sind im Winter mindestens 3,5 Millimeter vorgeschrieben.
Eine einschneidende Änderung gibt es bei sogenannten Ganzjahresreifen, die ein M+S-Symbol (Matsch und Schnee) auf der Reifenflanke besitzen, also nicht wie Winterpneus drei Berge mit Schneeflocke: Ab Oktober 2024 sind M+S-Reifen bei winterlichen Bedingungen in Deutschland und Österreich nicht mehr erlaubt. Ganz egal, ob der Winterreifen noch 3, 4 oder 5 Millimeter Mindestprofiltiefe aufweist.
Das hat seinen Grund. In diesen Ländern hat man erkannt, dass M+S-Reifen zwar die Eigenschaften von Sommer- und Winterpneus miteinander vereinen, aber eben nur mit geringer Qualität: Diese Reifen können alles nur ein bisschen – das genügt nicht.