Nach zwölf Jahren stabiler Regierung könnte die Koalition laut Umfragen ihre Mehrheit verlieren. Die Opposition will die expansive Fiskal- und Geldpolitik demontieren, die die japanische Börse in den letzten Jahren befeuert hat.
Nicht nur die USA stehen vor einer Richtungswahl – in Japan ist das nicht anders. Doch die Stimmung in den beiden Ländern könnte unterschiedlicher nicht sein. Vor der US-Präsidentschaftswahl peitschen die Kandidaten Kamala Harris und Donald Trump ihre Anhänger in grossen Hallen auf. Bei den japanischen Parlamentswahlen am Sonntag geht es dagegen sehr persönlich und kontrolliert zu.
Ein Busdach hier, ein umgedrehter Reisweinkasten da, so sieht die Wahlkampfbühne in Japan üblicherweise aus. Selbst die Spitzenkandidaten versammeln keine Massen, sondern lediglich ein paar Dutzend oder hundert Schaulustige. Dafür tingeln sie mit grossem zeitlichem Einsatz durch die Präfekturen. Videos von hässlichen Attacken wie in den USA sind verpönt. Jede Partei bekommt ihre Sendeplätze im Fernsehen zugeteilt. Auch die Wahlplakate werden gezählt. Dennoch wird es plötzlich spannend.
Die bürgerliche Koalition könnte ihre Position verlieren
Nach zwölf Jahren absoluter Mehrheit könnte die bürgerliche Koalition laut jüngsten Umfragen ihr sicher geglaubtes Minimalziel verlieren: die absolute Mehrheit der 465 Sitze im Unterhaus. Die plötzliche Unsicherheit sorgt auch die Wirtschaft. «Der Ausgang der vorgezogenen Neuwahlen beunruhigt mich sehr», sagt Takeshi Niinami, Chef des Unternehmerverbandes und des Getränkeriesen Suntory.
Gerade in den aktuellen geopolitischen Krisen brauche Japan Stabilität, argumentierte der Wirtschaftsführer am Mittwoch auf dem G-Zero Summit, einer Sicherheitskonferenz des US-Sicherheitsberaters Eurasia Group. Stattdessen stehen Japans selbstbewusste Sicherheitspolitik und vor allem die unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) und ihres kleineren Partners Komeito plötzlich auf der Kippe.
Zwar sagen viele Meinungsumfragen eine knappe Mehrheit der Koalition voraus. Aber Vorhersagen der linken Zeitung «Asahi» und der rechten «Sankei» halten es für wahrscheinlicher, dass die Koalition ihre absolute Mehrheit verliert. Der grosse Gewinner könnte die Mitte-links-Partei Konstitutionelle Demokratische Partei (KDP) werden, deren Vorläufer die LDP zwischen 2009 und 2012 von der Macht verdrängt hatte.
Warum die Börse die Opposition nicht mag
Für die Börse wäre wohl schon der Verlust der Regierungsmehrheit ein Schock. Die Strategen von Morgan Stanley MUFG gehen davon aus, dass viele Investoren die Wirtschaftspolitik der KDP als «erhebliches Risiko» für die aktuelle Konjunkturentwicklung sehen, genauer gesagt für die wirtschaftliche Erholung und den positiven Kreislauf aus moderater Inflation und schneller steigenden Löhnen.
Der Grund: Der neue Parteichef Yoshihiko Noda, der letzte demokratische Premierminister Japans, hat die Partei zwar programmatisch in die Mitte geführt. Aber er plant, die sehr expansive Fiskal- und Geldpolitik zu demontieren, die sein damaliger Nachfolger, Shinzo Abe von der LDP, etabliert hatte. Dessen Wirtschaftspolitik hat die japanische Börse ganz wesentlich befeuert.
Die oppositionelle KDP will stattdessen das Inflationsziel der Zentralbank von zwei auf null Prozent senken. Dies würde es der Bank of Japan erlauben, die Zinsen schneller und stärker anzuheben als bisher geplant. Das könnte zulasten von Wachstum und Inflation gehen.
Zum anderen wollen die Demokraten Unternehmens- und Kapitalgewinnsteuern erhöhen, um mehr Geld für die Förderung der Mittelschicht zur Verfügung zu haben. Höhere Steuern sind ein weiterer Schrecken für die Börsianer.
Die konservative LDP bleibt der Favorit der Börsen
Der neue konservative Regierungschef Shigeru Ishiba ist bei der kapitalistischen Klientel der beliebtere Kandidat, obwohl er den Mindestlohn pro Stunde bis Ende des Jahrzehnts um ein Drittel auf 1500 Yen (8.50 Franken) anheben will. Denn davon abgesehen will er an der bisherigen Wirtschaftspolitik festhalten.
Trotz einer Staatsverschuldung von 250 Prozent der Wirtschaftsleistung verfolgt auch Ishiba vorerst keine harten Sparhaushalte und Steuererhöhungen. Auch in der Geldpolitik will die LDP nicht am bisherigen Kurs der Notenbank rütteln. Zwar will die Notenbank ihre im März eingeleitete Zinswende nach fast 25 Jahren Null- und Negativzinspolitik fortsetzen. Doch das Inflationsziel von zwei Prozent bremst den Elan, weil es fast erreicht ist.
Japaner entdecken die Möglichkeit eines Regierungswechsels
Für die Japaner kommt die plötzliche Erkenntnis, dass sie die seit den 1950er Jahren fast ununterbrochen regierende LDP auch abwählen können, unerwartet. Denn bisher sah alles nach Business as usual aus. Die LDP hat zwar nach zahlreichen Skandalen stark an Popularität verloren. Bisher hatte sie die Einbussen aber immer wieder aufholen können.
Ende September griff die LDP dann zur üblichen Taktik: Sie tauschte den Regierungschef aus. In der Regel folgt darauf ein kleines Umfragehoch, das die Regierungspartei dann prompt für Neuwahlen nutzt.
Auf Fumio Kishida, der 2021 auf ähnliche Weise ins Amt gekommen war, folgte diesmal Shigeru Ishiba, ein ausgewiesener Sicherheitspolitiker und selbsternannter Saubermann. Ihm sollte gelingen, woran Kishida gescheitert war: den Wählern glaubhaft zu machen, dass die Partei sich selbst reinigt.
Auf dem Papier war Ishiba der richtige Mann. Als offener Kritiker seiner Partei hat er sich über die Jahre einen Namen gemacht. Doch diesmal scheint das Rezept nicht aufzugehen. Die Zustimmungswerte zur Regierung sind nur kurz gestiegen, zu schwach wirkten Ishibas Auftritte.
In der LDP geht seither die Panik um. Dabei ist noch nicht einmal klar, ob sie mit dem Verlust der Mehrheit auch die Macht verliert. Rin Nishimura, Japan-Experte der Asia Group, sieht für diesen Fall zwei grosse Szenarien: Eine Links-bis-rechts-Minderheitsregierung um die KDP, die dann möglicherweise mit Duldung der Kommunisten regieren müsste. Dies wäre vermutlich eine instabile Regierung.
Eine Alternative wäre die Erweiterung der Regierungskoalition um eine der konservativeren Oppositionsparteien oder das Abwerben von Abgeordneten der parlamentarischen Konkurrenz. Die Regierung könnte aber auch ihre Mehrheit verteidigen. In diesem Fall dürfte die Börse mit Erleichterung reagieren. Die Wahlen in Japan sind diesmal jedenfalls deutlich interessanter als auch schon.