Nun feiert er mit der ersten deutschen Version von «Billy Elliot» in Zürich Premiere. Die Geschichte einer Auferstehung.
Der Regisseur Mitch Sebastian sitzt mit einem Mikrofon in der Hand inmitten der leeren Zuschauerränge. Alle paar Minuten ruft er: «Stopp, gut, danke, noch einmal.» Dann sagt er, was ihn stört: Jemand kommt zu spät auf die Bühne, jemand steht zu weit oben auf der Treppe, das Licht muss dunkler werden. Sebastian spricht ein nasales, britisches Englisch, seine Anweisungen sind klar, laut wird er nie. Es ist ein Mittwoch Anfang Oktober in der Zürcher Maag-Halle, und jedes Detail muss stimmen. In drei Wochen spielt die Crew das Musical «Billy Elliot» zum ersten Mal vor Publikum.
In der Szene ist die Premiere schon länger ein Thema. «Billy Elliot» gilt als eines der erfolgreichsten Musicals überhaupt, es basiert auf dem Film mit demselben Namen. Mehr als zehn Jahre war es im Londoner West End zu sehen, später auch am Broadway in New York. Das moderne Märchen spielt vor einer historischen Kulisse: im Nordengland der 1980er Jahre, wo sich die Arbeiter gegen die Schliessung der staatlichen Bergwerke wehren. Der 11-jährige Billy tanzt lieber Ballett, als zu boxen, und eckt so in seiner Umgebung an, wo die Männer gerne stark sind und zuschlagen. Sein Vater verbietet ihm den Tanzunterricht, die Lehrerin hingegen möchte ihn fördern. Billy ist in einem Dilemma.
Mitch Sebastian mag die Geschichte von Billy Elliot, weil es darum geht, seinen Träumen zu folgen. «Billy Elliot ist anders als die anderen. Und wer anders ist, muss besonders an sich glauben und sich treu bleiben.» Zu Billy Elliot hat Sebastian eine persönliche Verbindung: Auch er wuchs im Norden Londons auf, in der Nähe des Dorfes, aus dem Billy Elliot stammt, auch seine Eltern waren Arbeiter, die nie das Theater besuchten, auch er war im Tanzunterricht der einzige Bub unter all den Mädchen. «Billy Elliot ist ein Teil von mir.»
Die Kulisse, das Geschirr, die Zeitschriften, die Rubik-Würfel: Alles erinnert Mitch Sebastian an seine Kindheit. «Ich musste damals meinen eigenen Weg finden und ging schliesslich nach London.» Sebastian wurde zuerst Tänzer, später Choreograf. Im Unterschied zu Billy hätten seine Eltern ihn zum Glück immer unterstützt.
Vielleicht ist es Sebastians Beharrlichkeit, die ihm bis heute hilft, sich von Kritikern nicht irritieren zu lassen. Dass die kulturelle Elite Musicals belächelt, ist sich der Regisseur gewohnt. «Das Musical wurde gegenüber der Oper immer als minderwertige Kunstform betrachtet», sagt er. «Es geht auch um Abgrenzung, das ist historisch so gewachsen.» Dabei sei das Musical eine der anspruchsvollsten Kunstformen überhaupt. «Man muss alles können.»
Die Oper ist eine europäische Institution mit einer jahrhundertelangen Geschichte, während das Musical in seiner heutigen Form nicht einmal hundertjährig ist: eine neue Mode aus Amerika. In den 1940er und 1950er Jahren erlebte es eine Blüte mit Produktionen wie «Carousel» oder «Westside Story». Im Musical suchten die Leute nach dem Zweiten Weltkrieg Hoffnung und Ablenkung von ihren Alltagssorgen. Auf Englisch gibt es dafür einen schönen Begriff: «Good, clean fun», «guter, harmloser Spass».
Als Mitch Sebastian im Herbst 2020 in Zürich ankommt, ist der Spass gerade zu Ende und er «an einem absoluten Tiefpunkt». Sebastian ist Mitte 50, ein erfahrener Musical-Produzent, der normalerweise mehrere Aufführungen im Jahr verantwortet. Er inszenierte schon «Chicago», «My Fair Lady» oder «Peter Pan», grosse Shows, die durch die ganze Welt tourten. Nun ist Sebastian gar nichts mehr. Die Covid-Pandemie hat ihn seines Metiers und seiner grossen Leidenschaft beraubt.
Sebastian ist mit seinem Mann in die Schweiz gezogen, einem Portugiesen, der in der Finanzbranche arbeitet. Die beiden haben sich vor über zwanzig Jahren in London kennengelernt. Zürich gefällt Sebastian, er mag die Stadt und die nahe Natur, jeden Tag geht er mit dem Hund im Wald vor dem Hotel Dolder am Zürichberg spazieren. Aber ihn plagen auch Sorgen. «Ich wusste nicht, was aus mir wird, aus meinem Lebenswerk, ob ich jemals wieder arbeiten kann», sagt Sebastian. Er fühlt sich nutzlos.
Also ruft Mitch Sebastian Darko Soolfrank an, den Miteigentümer der Maag-Halle. Soolfrank ist einer der wenigen Leute in Zürich, die Sebastian kennt – von Presseterminen, an denen er seine Produktionen vorstellte. In der Maag-Halle zeigt Soolfrank regelmässig internationale und eigene Musicals wie «Ewigi Liebi», «Sister Act» oder «Mein Name ist Eugen». Die beiden gehen zu Mittag essen, und Darko Soolfrank hat eine Idee.
Soolfrank ist ein findiger Kulturunternehmer, der gerne ausprobiert. Er muss innovativ sein und Zuschauer in seine Halle locken, denn anders als das Opernhaus oder das Schauspielhaus erhält er keine Subventionen. Das neuste Projekt Soolfranks sind Kunstausstellungen, bei denen keine echten Werke zu sehen sind, sondern Projektionen der Bilder an den Wänden, auf den Böden und an den Decken. Soolfrank schlägt Mitch Sebastian vor, für einmal nicht ein Stück zu inszenieren, sondern das Leben der mexikanischen Künstlerin Frida Kahlo. Sebastian sagt zu.
Der Regisseur gestaltet die Ausstellung wie ein Drama. Er fokussiert auf das Leben Kahlos, die nach einem tragischen Busunglück zu malen begann. Sebastian will eine emotionale Verbindung zwischen der Künstlerin und dem Publikum herstellen. Es gelingt: 120 000 Leute sehen sich «Viva Frida Kahlo» in Zürich an, danach ist die Show in Brüssel, Lausanne, München, Berlin und Hamburg zu sehen.
Zwei Jahre nach der Eröffnung der Frida-Kahlo-Ausstellung sitzen Sebastian und Soolfrank zusammen in einer Bar, und Sebastian bestellt zwei Gläser Champagner. «Warum Champagner?», fragt Soolfrank. Sebastian antwortet: «Weil wir bald das Musical ‹Billy Elliot› zeigen.» Soolfrank lacht. «Stimmt das?» Es stimmt.
Eine Lizenz für das Stück zu bekommen, war keine leichte Aufgabe. Sebastian und Soolfrank mussten klären, ob es überhaupt erlaubt ist, so lange mit Kindern zu üben. Sie finden eine Lösung mit intensiven Probewochen während der Schulferien. Schliesslich habe ihr ganzes Konzept die britische Filmproduktionsgesellschaft Working Title Films, der die Rechte gehören, überzeugt.
Sebastians Herzensprojekt ist ein anspruchsvolles, das weiss er. Den Text würde er wortgetreu übersetzen lassen müssen, die Tanzschritte dürfen nicht vom Original abweichen, Interpretationsspielraum lässt die Produktionsfirma kaum zu. Was Sebastian noch nicht ahnt: wie schwierig es in der Schweiz sein würde, Schauspieler für das Musical zu finden.
Das Ensemble besteht aus über vierzig Kindern – mal drei, weil über mehrere Monate pro Woche sechs Vorstellungen geplant sind und die Mädchen und Buben abwechselnd auftreten. Auf einen Aufruf in Schulen und ein Inserat in einem Branchenmagazin meldet sich ein einziger Junge. Immerhin ist der Bewerber ein Talent: Der 12-jährige Moritz Fischli aus Luzern wird einer der drei Billy Elliots.
Sebastian ist ein bisschen ratlos. In England leiten Agenten Inserate an interessierte Kandidatinnen weiter. In wenigen Stunden gehen 2000 oder 3000 Bewerbungen ein. In der Schweiz aber hat das Musical keine Tradition, es gibt keine professionellen Strukturen. Niemand sieht die Ausschreibung als Sprungbrett für eine grosse Karriere. Sebastian fiel auf, dass es kaum Schulen für Musical-Darsteller gibt. Er hätte gerne Unterricht angeboten. «Schliesslich unterrichtete ich klassisches Ballett oder Schauspiel.»
Ist Mitch Sebastians Traum vom deutschen «Billy Elliot» zu Ende, bevor er beginnt?
Darko habe ihm gesagt, die Schweizer Kinder würden wohl lieber Ski fahren, und sei eher pessimistisch gewesen. Er habe aber immer daran geglaubt, genügend Kinder-Schauspieler zu finden, sagt Sebastian. «Als Tanzlehrer sah ich, wie hoch das Niveau an den Ballettschulen hier ist.» Das ganze Maag-Team kontaktiert Lehrer im ganzen deutschsprachigen Raum persönlich, erklärt, worum es geht. Schliesslich findet Sebastian, wonach er sucht.
Von einer Schule in Luzern rekrutiert Sebastian drei Schüler. Während der Proben bedanken sich die Eltern bei ihm. «Sie sagten mir, sie hätten keine Ahnung gehabt, wie professionell dieses Projekt werde.» Sebastian hält die Produktion für eine Chance für die lokale Musical-Szene. «Wir können wachsen und ins internationale Rampenlicht treten.» Die meisten Leute in der Schweiz realisierten gar nicht, was für ein Erfolg es sei, dieses Musical auf Deutsch zu spielen.
Wenn Mitch Sebastian über die Premiere von «Billy Elliot» spricht, hebt er seine Stimme ein bisschen und stockt. «Als ich nach Zürich kam, hätte ich nie gedacht, dass ich einmal hier stehe und wieder jemand sein werde. Es scheint mir ein Wunder zu sein.» Bald kommen seine Freunde aus der ganzen Welt und seine drei älteren Schwestern aus Neuseeland, Amerika und Schottland, um den Billy ihres kleinen Billy zu sehen.
Das Musical «Billy Elliot» feiert am 1. November 2024 in der Zürcher Maag-Halle Premiere.