Heute verdächtigt eine linke Bürgerlichkeit Andersdenkende und vergiftet damit das politische Klima.
Die Länder des Westens scheinen heute mit einem hässlichen Gefühl konfrontiert. Seit Jahren begegnet einem das Wort «Ressentiment» inflationär in Politiksprache und Gesellschaftsfeuilleton. Keine Woche vergeht, ohne dass Personen oder Andersdenkenden dieser Affekt unterstellt wird, oft in Beschämungsabsicht. Auch aus sogenannten Agendawissenschaften ist der Begriff nicht mehr wegzudenken – etwa aus Extremismus-, Migrations- oder Demokratieforschung. Keine Studie zum Populismus kommt ohne Ressentimentzuschreibung aus. Es entstanden Neuwörter wie Ressentimentmilieus, Ressentimentpolitik, Ressentimentcliquen, Ressentimentstaat, Ressentimentparteien, Ressentimentwähler, sogar Ressentimentkunst.
Längst sind Stimmen vernehmbar, die kein kulturelles, politisches oder religiöses Milieu noch von Ressentimentneigung frei sehen. Provinz gegen Metropole, Unterschicht gegen Oberschicht, Ost gegen West, überall sind Hellhörige hier schon fündig geworden. «Ressentiment» ist eine gängige, vielfach abgegriffene Wortmünze. Woher kommt ihre derzeitige Beliebtheit? Hat der Begriff eine präzise Bedeutung, oder ist er bloss eine Imponiervokabel mit Fremdwort-Charme?
Kein offenes Bekenntnis
Wenn von Ressentiment gesprochen wird, sind oft schlicht Groll, Wut, Hass, auch Gekränktheit oder Missgunst bis hin zu Neid und Schadenfreude gemeint. Noch vor wenigen Jahren hätte man derlei dem normalen menschlichen Gefühlsspektrum zugerechnet. Ressentiment aber bezeichnet im öffentlichen Reden ein Gefühl, das sich nicht moralisch neutral betrachten lässt. Es scheint auch kein reines Gefühl zu sein, sondern etwas Unreinliches, weil Verstecktes. Niemand wird sich offen zu ihm bekennen, anders als etwa bei einer Affektbezeichnung wie «Aufschrei».
Das Ressentiment gilt als ein Affekt, der zum Selbstbetrug verführt. Denn, so die gängige, oft unausgesprochene Theorie vom Ressentiment, es artikuliert sich eben nie, sondern hüllt sich in ein pseudomoralisches oder scheinrationales Gewand – in Ideale, Werte, Theorien. Nun könnte man ja dieses Bemühen der Ressentimentverfallenen, für ihr hässliches Gefühl eine intellektuelle Form zu finden, als eine Sublimierung würdigen. «Ressentiment» jedoch profitiert nicht vom guten Ruf der Sublimierung. Es gilt als zurückgehaltene Wut, die auf den geeigneten Anlass lauert, offen auszubrechen.
Der richtige Moment, sich zu äussern oder zu handeln, scheint also stets verpasst. Der erniedrigte Mensch, das beleidigte Milieu konnten nicht zur rächenden Tat finden. So schwärt die Kränkung weiter als unvergesslicher Groll oder eben: Verdruckstheit.
Nietzsches Vorarbeit und Nachwirken
So weit zur Theorie des Ressentiments, wie sie derzeit meist kursiert. Sie ist charakterisiert durch die moralisch negative Bewertung dieses Gefühls, aber auch durch das Zugeständnis seiner schöpferischen Kraft.
Beides geht auf die «Genealogie der Moral» (1887) des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche zurück. Sie gehört zu seiner Lehre vom Willen zur Macht als Wesen alles Lebendigen. Dieser Machtwille zeige sich sowohl bei Einzelnen als auch bei Klassen oder Völkern grundsätzlich verschieden. Bei den Starken, Guten, Vornehmen, Aktiven, Schöpferischen – Nietzsche liebt suggestive Synonymreihen – als Übereinstimmung von Wollen und Können. Deshalb könnten solche Menschen, falls gekränkt, durchaus an heftigen Rachewünschen leiden, sie jedoch kraft ihrer Machtfülle «in einer sofortigen Reaktion» erschöpfen und alsdann vergessen.
Die Schwachen, immer nur reaktiv Empfindenden dagegen müssten die Verletzungen durch das Handeln der Starken ohnmächtig erleiden. Die Erinnerung daran frisst an ihrer Selbstachtung. Einer drohenden Selbstverachtung solcher Menschen beugen Priester oder priesterartige Intellektuelle vor: Sie lügen die Stärke zur Bosheit und die Schwäche zur Tugend um.
Diese priesterliche Zähmung und Verfälschung ohnmächtiger Rachsucht sei der Ursprung der sogenannten Sklavenmoral. Für Nietzsche ist sie ursprünglich eine Schöpfung des exilierten jüdischen Volkes, durch christliche Übernahme und demokratische Universalisierung ist sie dann zum welthistorischen Verhängnis geworden. In der liberalen Moderne sieht Nietzsche die Werte des schwächeren Menschentyps obenauf, die Werte des Ressentiments. Sie seien die hinterlistige Reaktion auf das unbefangene, sowohl künstlerische als auch politische Schöpfertum starker Ausnahmemenschen.
Gefühlssprache und Identitätspolitik
Es ist verständlich, dass Nietzsche durch dieses Szenario zu einer Autorität der intellektuellen Rechten werden konnte. Doch hat sich dies in den vergangenen fünf Jahrzehnten dramatisch geändert. Der Ressentimentverdacht ist quer durchs politische Spektrum gewandert, von rechten Revolutionären gegen die Moderne bis hin zur woken Linken.
Heute verdächtigt eine neue, linke Bürgerlichkeit mit dem Wohnort Welt (die Anywheres) die mental und sozial weniger beweglichen Somewheres einer Neigung zum Ressentiment: Ortsbindung und Berufsstolz disponierten sie zu gekränkten Verlierern der Globalisierung. In ihrem ohnmächtigen Groll bildeten die Somewheres eine auch moralische und kulturelle Unterklasse.
Das Nachwirken von Nietzsches Ressentimentlehre ist einer der seltenen Fälle, in denen ein philosophisch beanspruchter Begriff tief in die politische und psychologische, ja küchenpsychologische Alltagssprache wirken konnte. Die französische Originalsprache hatte dies nicht nahegelegt. Bis zu Nietzsches Zeit musste «ressentiment» nicht notwendig ein negatives oder verstecktes Gefühl bedeuten. Es bezeichnete noch bei vielen frankofonen Zeitgenossen auch positive Erinnerungen, etwa an empfangene Wohltaten.
Warum ist der von Nietzsche inspirierte, später ideologisch umbesetzte Ressentimentbegriff heute derart populär? Das hat mit der neuen Rolle von Emotionen in Politik und Gesellschaft zu tun, mit einem prägnanten Gefühlsstil des öffentlichen Sprechens. Er ist typisch für das kulturell dominante Milieu einer links-progressiven Mittelschicht. Für sie sind sichtbare Authentizität und Spontaneität relevant. Wer etwa unter starker Gefühlswallung seine Gedanken beim ebenfalls heftig wogenden Reden verfasst, der gilt als glaubwürdig.
Verborgen schwärende Affekte hingegen sind verpönt. Bei Politikprofis wächst so die Versuchung, die richtigen Gefühlsausdrücke zu simulieren, das Gemeinte und Gewollte nachträglich emotional zu verpacken, um es «glaubhaft rüberzubringen».
Dadurch wiederum steigt die Sensibilität für falsche Töne
Die leitmedialen Prämien fürs gefühlskräftig, sprachlich betont improvisiert auftretende Regierungspersonal verstärken das oppositionelle Misstrauen. «Ressentiment» ist selbst der ideale Kandidat für Verdachtshermeneutik. Schliesslich gilt es ja nicht als spontanes, sondern als sorgsam verstecktes Gefühl. Liebe zum Fremden als versteckter Hass aufs Eigene, steuerliche Gerechtigkeit als Camouflage sozialen Neides sind exemplarische Fälle von Ressentimentunterstellung.
Die reale und verbale Ressentimentkonjunktur trifft nicht nur mit dem zusammen, was meist als Gefühlspolitik bezeichnet wird, sondern auch mit dem Komplex der Identitätspolitik. Letztere setzt auf subjektive Betroffenheit und einschlägigen Betroffenheitsausdruck. Das gilt besonders hinsichtlich dessen, was als soziale Kränkung erlebt wird. Was eine Kränkung sei, bestimme die gekränkte Person, lautet ihr Leitsatz. Auch hier geht es nicht um spontane und auch nicht um rein subjektive Verletzungen. Signalisiert werden seit je erlebte Diskriminierungen. Sie sind Musteranlässe für gerechte Empörung.
Identitätspolitik schreibt diese kulturelle Veränderung fest. Sie verneint das aufklärerische, aus formal-rechtlichen Ideen heraus entworfene Menschheitssubjekt. Stämme, gar nur Subjekte von unvergleichlichen Erfahrungen ersetzen es, die für ihr kränkungsgesättigtes Dasein Respekt und Achtsamkeit einfordern. Gefühlsausdrücke sind so in der politischen Kommunikation stark aufgewertet. Sichtbare Verletztheit wird zum politischen Argument.
Warten auf den Tag der Rache
Täter der Ressentimentpolitik wie Opfer des Ressentimentverdachts agieren unter derselben kulturellen Konstellation. In ihr sind bestimmte Gefühle als moralisch unzulässig markiert. Das läuft oft auf Begriffsverschiebungen hinaus, wie die Beispiele des als «gerecht» akzeptierten Zorns und des durchweg mit Sanktionen belegten Hasses zeigen. Deutliche Akzentwechsel gab es auch im – ursprünglich ja positiven – Wortsinn von «Wutbürger» und «Querdenker». Derzeit am stärksten ist der Trend, gewisse Affektausdrücke generell moralisch zu canceln und juristisch zu ahnden.
So zeichnet sich eine merkwürdige Dialektik ab. Wenn ich nämlich als Mitglied eines Kollektivs von traditionell Gekränkten – von «Unterprivilegierten» – mich auf die überwältigende Macht eines Gefühls berufe, das nicht heiss auflodernder Schmerz ist, sondern kalte Wut und permanenter Verdacht, dann zeige ich mich in meinem Groll, und zwar mit bestem Gewissen: Ich bin von Ressentiment erfüllt. Das Wort dafür lehne ich jedoch ab. Ich unterstelle es jenen, die über den Verlust ihrer Privilegien still grollen und auf den Tag ihrer Rache lauern.
Jürgen Grosse ist Ideenhistoriker und lebt als freier Autor in Berlin. Zuletzt erschien vom Autor «Der ewige Westen. Wie ein Land nach sich selbst suchte und die alte Bundesrepublik fand» (Berlin 2024).