Eigentlich war die Entscheidung, weitreichende Präzisionswaffen in der Bundesrepublik zu stationieren, eine gute Nachricht für Deutschland. Dennoch tragen offenbar viele Bürger die Entscheidung nicht mit. Schuld daran ist auch eine unglückliche Kommunikation.
Als Joe Biden Mitte Oktober Berlin besuchte, wurde er vom deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier für seine Verdienste um das deutsch-amerikanische Verhältnis mit einem Orden geehrt. Auch bei Bundeskanzler Olaf Scholz holte sich der scheidende US-Präsident vor allem Dank ab. Scholz lobte die Rolle Bidens bei der Unterstützung der Ukraine. Sie habe geholfen, die Pläne des russischen Präsidenten Wladimir Putin für die Eroberung des Nachbarlandes zu vereiteln.
Auffällig war, was an diesem Tag nicht angesprochen wurde. Weder Scholz noch Biden verloren öffentlich ein Wort darüber, was für Deutschland von der Amtszeit des Präsidenten vor allem anderen bleiben wird. Es ist die Entscheidung, weitreichende amerikanische Präzisionslenkwaffen auf deutschem Gebiet zu stationieren.
Diese Waffen sollen dazu dienen, Russland von einem Angriff auf Nato-Gebiet abzuschrecken. Sie helfen, wie es Scholz formuliert, den Frieden zu bewahren. Dennoch zeigen neuste Umfragen, dass viele Deutsche die Stationierung der Raketen skeptisch sehen oder ablehnen. Wie kann das sein, wo sie doch Deutschland in sicherheitspolitisch schwierigen Zeiten schützen sollen? Die Antwort findet sich nicht zuletzt in der SPD und in der unglücklichen Kommunikation der deutschen Regierung.
Die Bundesregierung sondiert in Washington
Es beginnt im Juni 2023, als die rot-grün-gelbe Koalition in Berlin eine Nationale Sicherheitsstrategie vorlegt. Darin heisst es sperrig, die Bundesregierung werde «die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähigen Präzisionswaffen befördern». Zu diesem Zeitpunkt sondierte das Bundeskanzleramt bereits in Washington, ob die USA mit solchen Waffen helfen könnten, bis Deutschland gemeinsam mit einigen Verbündeten eigene weitreichende Waffen entwickelt haben würde.
Biden soll grundsätzlich Zustimmung signalisiert, aber um Zeit gebeten haben. Das lag auch daran, dass das US-Verteidigungsministerium noch dabei war, die konkreten Pläne für fünf «Multi Domain Task Forces» auszuarbeiten. Das sind Militärverbände, die unter anderem über weitreichende Präzisions- und Hyperschallwaffen sowie Flugabwehrsysteme verfügen sollen. Die Standorte, an denen diese Task-Forces innerhalb und ausserhalb Amerikas stationiert werden, standen zum Zeitpunkt der deutschen Kontaktaufnahme im vergangenen Jahr offenkundig noch nicht endgültig fest.
Die Entscheidungsfindung in Washington dauerte allem Anschein nach bis zum Sommer. Erst zwei Tage vor Beginn des Nato-Jubiläumsgipfels am 9. Juli in der amerikanischen Hauptstadt gab die amerikanische Seite grünes Licht. Aus Gesprächen, die die NZZ in Regierungskreisen geführt hat, geht hervor, dass die Biden-Administration die Deutschen gebeten haben soll, die Vereinbarung auf dem Gipfel gemeinsam zu verkünden.
Biden stürzt Scholz in ein Dilemma
Diese Kurzfristigkeit stürzte die Bundesregierung in ein Dilemma. Es bestand einerseits darin, den strategisch und bündnispolitisch günstigen Moment nutzen zu wollen, auf dem Gipfel die für die gesamte Nato wichtige Entscheidung als Signal der Stärke und Einigkeit an Russland zu verkünden.
Andererseits dürfte Scholz und seinem engsten Umfeld bewusst gewesen sein, dass die deutsche Öffentlichkeit von der Stationierung möglicherweise überrascht würde. Der Kanzler hatte bis dahin lediglich vage angedeutet, dass in Washington ein wichtiger Beschluss gefasst werden könnte. Doch auf eine Entscheidung dieser strategischen Dimension hatte er das Land und das Parlament nicht vorbereitet.
Die heftigste Kritik an dem Vorhaben kam zunächst aus der Kanzlerpartei selbst. Der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich mahnte, die Stationierung solcher Raketen könne «Deutschland zum Ziel eines atomaren Erstschlags machen». Sein Parteikollege Ralf Stegner, ebenfalls Vertreter des linken Flügels der Sozialdemokraten, meinte, man könne «nicht mal so eben in der Sommerpause einen Beschluss fassen und dann ist die Debatte zu Ende». Beide plädierten für eine ausführliche Diskussion und stellten den Beschluss von Scholz und Biden damit zumindest infrage.
Überrascht von der heftigen Kritik
Doch es waren nicht nur pazifistische SPD-Vertreter, die Kritik an der Stationierung übten. Auch Sahra Wagenknecht vom gleichnamigen Bündnis und die AfD äusserten sich ablehnend. Die Raketen seien Angriffswaffen, sagte etwa Wagenknecht. Deutschland gerate dadurch in das Visier Russlands.
Die Bundesregierung schien von der heftigen Kritik überrascht worden zu sein. Davon zeugt, wie etwa Scholz reagierte. Es gebe eben die «Fähigkeitslücke» bei weitreichenden Waffen, das gehe aus der Nationalen Sicherheitsstrategie hervor, erklärte er sinngemäss noch von Washington aus. Ergo: Die Entscheidung sei nur die logische Folge dessen, was seit einem Jahr bekannt sei.
Das stimmt zwar, aber es gibt viel plausiblere und verständlichere Gründe für die Stationierung der Waffen in Deutschland. Sie liegen einerseits im russischen Krieg in der Ukraine. Putins Armee greift dort mit Flugzeugen, Raketen, Marschflugkörpern, Drohnen und Gleitbomben an, die auf dem Gebiet Russlands starten. Ein vergleichbares Vorgehen müsste die Nato auch bei einem russischen Angriff auf das Bündnis erwarten. Deshalb braucht sie weitreichende Präzisionswaffen, um die Führungseinrichtungen, Startrampen, Start- und Landebahnen sowie Munitionsdepots, von denen aus diese Attacken erfolgen, ausschalten zu können.
Der andere Grund liegt darin, dass die Stationierung der amerikanischen Waffen eine Reaktion ist auf die Stationierung nuklearer Mittelstreckenwaffen in Kaliningrad und im westlichen Teil Russlands. Vor zehn Jahren hatte die damalige Regierung von Barack Obama öffentlich gemacht, dass Russland verbotenerweise Marschflugkörper produzierte und testete, die weit mehr als 500 Kilometer weit fliegen können.
Damit verstiess das Putin-Regime gegen den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces), in dem sich die Sowjetunion und die USA 1987 verpflichtet hatten, alle damals existierenden Kurz- und Mittelstreckenwaffen in Europa zu zerstören und keine mehr zu bauen. Damals wollte die Nato keine eigenen weitreichenden, nuklearfähigen Lenkflugkörper wieder in Europa aufstellen, sondern sich als Antwort auf Luftverteidigung und die Stärkung der konventionellen Verteidigung konzentrieren. Das soll jetzt nachgeholt werden.
Die Kommunikation wirkt unkoordiniert
Das alles hätten Olaf Scholz und seine Regierung in den Tagen nach der Washingtoner Verkündigung sagen können. Doch die Kommunikation der rot-grün-gelben Koalition wirkte unkoordiniert, so als sei sie von den Ereignissen völlig überrascht worden.
Im Verteidigungsministerium heisst es, die Arbeitsebene sei nicht involviert gewesen und habe erst in Washington von den Plänen erfahren. Ähnlich scheint es im Auswärtigen Amt gewesen zu sein. In beiden Ministerien, das ergaben die Recherchen der NZZ, war offenbar nur die Spitze informiert. Die Federführung für das Stationierungsprojekt habe wiederum beim Kanzleramt gelegen – und damit auch die Zuständigkeit für eine Kommunikationsstrategie.
Diese soll es aber, so heisst es, nicht gegeben haben. Er habe sich gefragt, wo das entsprechende Kommunikationspaket sei, wo die Informationsschreiben an die Fraktion, die Partei, an den Bundestag und die Hintergrundinformationen für die Medien, sagte ein SPD-Abgeordneter. Nichts habe es gegeben, und er könne sich das nur damit erklären, dass für das Projekt höchste Geheimhaltung gegolten habe.
Nur wenige waren eingeweiht
Auch im Kanzleramt sollen nur wenige eingeweiht gewesen sein: neben Scholz vor allem der Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt und der Sicherheitsberater Jens Plötner. Eine Erklärung dafür ist, dass Scholz so wenig Personen wie möglich involvieren wollte, um das Risiko eines Informationslecks zu vermeiden. Eine andere bezieht sich auf die Amerikaner. Sie könnten darum gebeten haben, die Angelegenheit sehr diskret zu behandeln, weil sie selbst noch nicht alle Aspekte der Stationierung durchdacht und entschieden hatten.
Doch auch nach der Verkündung in Washington durch Scholz und Biden kommunizierte die deutsche Regierung eher gehemmt. Scholz hätte zum Beispiel nach der Rückkehr eine Regierungserklärung abgeben können. Doch in Berlin herrschte parlamentarische Sommerpause. Die Abgeordneten hätten für eine Sondersitzung aus den Ferien geholt werden müssen. Das gab es in der Vergangenheit schon häufiger, etwa zur Erteilung kurzfristiger Einsatzmandate der Bundeswehr.
Stattdessen überliess es der Kanzler anderen, den Bundestag zu informieren. Zwei Staatssekretäre aus dem Verteidigungs- und Aussenministerium teilten den zuständigen Fachpolitikern in einem Brief die Gründe für die Stationierungsentscheidung mit. Zu diesem Zeitpunkt beherrschten zunehmend die Kritiker die Schlagzeilen. Sie beklagten unter anderem, dass der Bundestag in die Entscheidung nicht eingebunden worden sei.
Kritiker erwecken falschen Eindruck
Doch das muss er gar nicht, wie das Bundesverfassungsgericht im Dezember 1984 in einem ähnlichen Fall entschieden hatte. Damals ging es um die Frage, ob die Bundesregierung die Rechte des Bundestags verletzte, als sie der Aufstellung nuklearer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zugestimmt hatte. Das Gericht hatte die Frage verneint. Der linke SPD-Flügel um Rolf Mützenich und auch Sahra Wagenknecht hatten der Debatte jedoch längst eine andere Richtung gegeben.
Sie erweckten mit ihren Äusserungen den Eindruck, als handele es sich bei den amerikanischen Flugkörpern um Atomwaffen wie die des Nato-Doppelbeschlusses von 1979. Die Entscheidung des Bündnisses, solche Raketen in Deutschland zu stationieren, löste damals bei Millionen Deutschen grosse Angst vor einem Nuklearkrieg aus. Diese Sorge treibt offenkundig auch heute wieder viele Bundesbürger um.
Es verging viel Zeit, ehe die Bundesregierung darauf reagierte. So veröffentlichte das Auswärtige Amt beispielsweise erst Mitte August ein Schriftstück, aus dem hervorging, dass es sich «nicht um nuklearfähige US-Systeme handelt». Es gehe, so hiess es, lediglich um die Stärkung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit der Nato im Zusammenhang eines möglichen russischen Angriffs.
Viele Deutsche lehnen die Stationierung ab
Das scheint die Deutschen allerdings nicht zu beruhigen. So sprachen sich in einer Umfrage des von der ARD erhobenen «Deutschlandtrends» Anfang Oktober 45 Prozent der Befragten gegen die Stationierung der amerikanischen Waffensysteme aus, während 40 Prozent dafür waren. Die Befragten äusserten vor allem Bedenken über mögliche Eskalationen und ein neues Wettrüsten.
Die Bundesregierung hat die Skepsis der Deutschen gegenüber der Stationierungsentscheidung ganz offensichtlich unterschätzt. Momentan sieht es so aus, als versuchte sie, das Thema zu vermeiden. Es seien einstweilen alle Fragen geklärt, heisst es in Regierungskreisen. Doch das stimmt nicht. Es sind wichtige Fragen offen.
Dazu zählt etwa die nach der technischen Machbarkeit, die US-Raketen und Marschflugkörper zu Nuklearwaffen umzurüsten. Kritiker erwecken immer wieder den Eindruck, die amerikanischen Systeme könnten – wie die russischen – statt mit einem konventionellen auch mit einem atomaren Sprengkopf ausgestattet werden. Die Bundesregierung sagt, das gehe technisch nicht, erklärte der Öffentlichkeit aber bisher nicht nachvollziehbar und verständlich, warum das so ist.
Steht Amerikas Zusage auch unter Trump noch?
Weitere Fragen kommen hinzu: Wann und wie würden die Waffen eingesetzt? Was geschieht, wenn ein möglicher neuer Präsident Donald Trump die Zusage seines Vorgängers für nichtig erklärt? Wie kann Deutschland dann eine glaubhafte Abschreckung gegenüber Russland projizieren?
Welche einschneidenden politischen Folgen die Beantwortung derart unbequemer Fragen haben kann, hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bereits gezeigt. Anfang der 1980er Jahre gingen Millionen Deutsche gegen den Nato-Doppelbeschluss auf die Strasse. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt von der SPD trat zurück.
Sein heutiger Nachfolger Olaf Scholz stand damals auf der Seite der Demonstranten. Heute sagt er, man könne sich nicht nur verteidigen, sondern müsse andere auch davon abhalten, dass sie einen angriffen.