Charles Lewinsky schreibt einen rasanten Roman über eine neue Methode, erfolgreiche Romane zu schreiben. Neben künstlicher Intelligenz gehört dazu auch etwas kriminelle Energie.
Zuletzt war es Goethe, der nicht weiterwusste. Der von seiner dritten Schweizer Reise nach Weimar zurückkehrte und sich plötzlich ausserstande sah, einfachste Gelegenheitsgedichte zu Papier zu bringen, von glanzvollen literarischen Arbeiten ganz zu schweigen. Dieser Goethe begegnete uns in «Rauch und Schall», Charles Lewinskys letztem Roman. Darin überwand der Dichterfürst seine streng geheim zu haltende Schreibblockade, indem er widerwillig seinen Schwager Christian Vulpius, einen unermüdlichen Verfasser von Trivialromanen, um Beistand bat.
Auch Lewinskys neues Werk «Täuschend echt» befasst sich mit den Unwägbarkeiten der literarischen und unliterarischen Textproduktion, diesmal freilich ganz in unserer Gegenwart situiert. Der Ich-Erzähler, ein konservativer Jazzliebhaber und Werbetexter Ende dreissig, sieht sich mit mehreren Problemen konfrontiert. Seine Freundin Sonja (die eigentlich Sibylle heisst) hat sich schnöde von ihm abgewandt, schickt ihm einige Verwünschungen hinterher und bedient sich, wie sich später herausstellt, eifrig seiner Kreditkarte. Sie hinterlässt nicht mehr als ein Terrarium mit einer Kornnatter, deren Hauptnahrung, tiefgefrorene Mäuse, ihr Ex in seinem Kühlschrank aufbewahren muss.
Damit nicht genug. Auch beruflich steht es nicht zum Besten, denn sein Spezialgebiet, das Verfassen von Werbetexten für einen Müesli-Hersteller, wo spitzfindig die Geschmacksunterschiede zwischen «crisp» und «crunchy» herausgearbeitet werden, könnte alsbald von jemanden anderem übernommen werden, der kostengünstiger und schneller arbeitet: von der künstlichen Intelligenz.
Erfundene wahre Geschichten
Lewinskys geschundener Protagonist macht umgehend die Probe aufs Exempel und stellt fest, dass die omnipräsente KI in der Lage ist, seinen Job im Handumdrehen zu erledigen. Und so kommt es, wie es kommen muss: Der Müeslimann verliert seinen Job und sucht verzweifelt nach Betätigungsfeldern für seine nicht sehr umfangreichen Begabungen.
Die Rettung naht durch seine Nachbarn Bill und Belle, die vor Gutmenschentum und Wokeness strotzen und den Werbetexter mit ihrem schwerreichen Freund Frank zusammenbringen. Dieser will sein Geld in einem angesehenen Verlag investieren und die Menschheit dadurch aufrütteln, dass er Bücher schreiben lässt, die aufwühlende «wahre» Geschichten aus allen Elendsregionen der Welt zum Besten geben.
Lewinskys Erzähler, der vorgibt, ein ebensolcher Altruist zu sein, scheint der richtige Mann, um Franks Ziele umzusetzen. Echt und ehrlich soll alles an diesen tränenreichen «Narrativen» sein, doch der einstige Müeslispezialist erkennt schnell, dass die nackten Fakten nach Aufhübschung und Ausschmückung, nach Fake-Zutaten verlangen, damit die Emotion geweckt und die Welt gerettet werden kann.
Charles Lewinsky legt wieder einen einfallsreichen, vor Witz sprühenden Text vor, der die ernste Frage, was wahrhaftiges Schreiben im KI-Zeitalter noch bedeuten kann, federleicht umkreist. Sein Held nähert sich der künstlichen Intelligenz an, tauscht sich mit ihr aus, nennt sie alsbald liebevoll «Kirsten» und verfasst gemeinsam mit ihr die bewegende Autobiografie des – frei erfundenen – afghanischen Mädchens Schabnam, das in sein Heimatland verschleppt und zwangsverheiratet wird, ehe es einem Säureattentat zum Opfer fällt.
Kirsten und der Erzähler leisten ganze Arbeit. Ihr «Angst!» betiteltes Manuskript begeistert Frank und den Verlag und entwickelt sich schnell zu einem Bestseller. Schliesslich erregt es die Aufmerksamkeit des aus der realen Welt bekannten TV-Literaturkritikers Denis Scheck. Damit droht neuer Ärger, denn er will Schabnam vor laufender Kamera zu ihrer «berührenden Lebensbeichte» befragen.
Der Erzähler, der immer vorgab, ausführliche Gespräche mit der nicht existenten jungen Frau geführt zu haben, weiss sich jedoch zu helfen. Er droht seiner Ex-Freundin, der Kreditkartenbetrügerin Sonja, mit einer Anzeige, sofern sie sich nicht, von einem Gesichtsschleier bedeckt, als Schabnam ausgibt und dem einfühlsamen TV-Kritiker Rede und Antwort steht.
Lewinskys Geständnis
Der Coup gelingt, die Sendung mündet in einen grossen Erfolg für Sonja, Kirsten und den Erzähler: «Sie bestand darauf, dass ‹Angst!› keine Literatur sei, sondern nur der ungeschickte Versuch, sich schmerzhafte Erfahrungen von der Seele zu schreiben. Worauf Scheck natürlich gar nicht anders konnte, als zu versichern, doch, das Buch sei gerade deshalb grosse Literatur und er könne jedem Zuschauer nur raten, es zu lesen.»
Das letzte Wort ist damit in diesem gewitzten Roman noch nicht gesprochen. Wie dieses lautet, darf hier freilich keinesfalls verraten werden. Eine Lehre, die «Täuschend echt» bereithält, liegt auf der Hand: Mit ein wenig redaktioneller und stilistischer Betreuung schafft es jede KI, egal, ob sie Kirsten oder Kimberley heisst, Müeslitexte oder Frauenleidenskonfessionen mit links und auf Knopfdruck zu produzieren.
Charles Lewinsky selbst gibt übrigens an, dass sein Roman kein ausschliessliches KI-Produkt sei. Im Vorspann heisst es: «Alle kursiv gedruckten Texte sind von den Programmen Chat-GPT und Neuroflash geschrieben oder stammen von Wikipedia und anderen Webseiten.» Einiges immerhin ist in «Täuschend echt» nicht kursiv gesetzt. Bleibt zu hoffen, dass Kirsten keine Urheberrechtsklage einreicht.
Charles Lewinsky: Täuschend echt. Roman. Diogenes-Verlag, Zürich 2024. 342 S., Fr. 36.90.