Der Schriftsteller Franz Hohler führt durch sein Wohnquartier: Gewöhnliche Strassen und Plätze werden zu einer Bühne für das Aussergewöhnliche. Und zur Lektion darüber, wie das Lokale das Universelle widerspiegelt.
Eine Reise von tausend Meilen beginne mit einem Schritt, sagt ein chinesisches Sprichwort. Kommen Sie mit?
Statt zum Abflug in die Weite zu einem Stopover in der Nähe, auf eine Umgebungssafari durch Oerlikon? Wissen wir nicht seit Corona, dass die Welt vor der Haustür beginnt?
Ich bin rekonvaleszent und sollte jeden Tag einen Spaziergang machen, aber weit weg mag ich nicht gehen. Also, Sie können jederzeit abbrechen, wenn es Ihnen zu viel oder zu wenig wird.
Am Bahnhof Oerlikon kann ich Sie abholen, und wir gehen zuerst die Gubelhangstrasse hinauf, an der Methodistenkirche vorbei, einem Gebäude, das bis vor ein paar Jahren eine grosse Kirche mit zwei Wohnungen war und heute, angesichts des Mitglieder- und Geldschwundes, zu einem Haus mit zehn Wohnungen und einer kleinen Kirche geworden ist.
Stadtabenteuer im kleinen Schwarzwald von Zürich Nord
Wir überqueren die Regensbergstrasse und betreten hinter dem Gubelschulhaus ein Wäldchen, das sich mit erstaunlich hohen Bäumen und einem dichten Buschwerk gegen den Diminutiv wehrt. Es ist mein kleiner Schwarzwald; wenn Sie nicht zu saubere Schuhe tragen, können Sie mir über einen Pfad folgen, der durchs Gebüsch führt und bei dem Sie manchmal Zweige vom Gesicht fernhalten müssen. Da weht ein Hauch von Wildnis und Stadtabenteuer. Wenn ich hier im Februar die ersten Bärlauchblätter vom Waldboden pflücke, weiss ich, dass der Frühling kommt.
Die Hundepromenade ist etwas bequemer, die Bänklein werden im Sommer gerne als Schattenleseplätze benutzt. Sie können hier auch mit Eingeborenen ins Gespräch kommen, am leichtesten, wenn Sie nach dem Namen des Hundes fragen.
In wenigen Minuten sind wir beim Sportplatz, der verharmlosend Spielwiese genannt wird. Auf einem Sockel zeigt jedoch ein strammer Gehender aus Bronze an, dass es um Leistung geht. Die Skulptur stammt vom Bildhauer Franz Fischer, der sein Atelier etwas weiter hinten an der Allenmoosstrasse hatte, sie war 1939 an der Weltausstellung in New York zu sehen, und als sie zurückkam, beschloss der Stadtrat, sie hier als Symbol der Ertüchtigung aufzustellen. Dass der junge Mann nackt war, führte allerdings zu einem Protestschreiben der gesamten Lehrerschaft Oerlikons, in dem die Entfernung dieses anstössigen Kunstwerks gefordert wurde. Nur zwei unterschrieben nicht, eine Kindergärtnerin und der Schriftsteller Albin Zollinger. Der Geher steht noch heute am selben Ort, Tag und Nacht, er geht und geht und kommt doch nicht weg.
Ein Hauch von Wildnis: Franz Hohler durchstreift das Wäldchen hinter dem Gubelschulhaus. Die Sträucher und jungen Bäume stehen teilweise so dicht, dass er Zweige vom Gesicht fernhalten muss. Der Föhrenwald wird auch von Hündelern aus dem Allenmoosquartier gerne zum Promenieren benutzt.
Aber sein Vorbild wirkt. Auf dem Sportplatz sehen Sie fast bei jeder Witterung Menschen, die auf den vorgezeichneten Bahnen ihre Runden drehen, mit ihren Pulsmessern, Stoppuhren oder Schrittzählern am Handgelenk. Das Turnvereingarderobengebäude mit einer gedeckten Galerie als Vorbau und einem verspielten Türmchen auf dem Dach könnte man von weitem mit einer Kapelle verwechseln.
Ein Gedenkstein für den «Anwalt des Lebendigen»
Ich nehme Sie gern noch zum Albin-Zollinger-Platz mit, gleich nach der Spielwiese rechts, wo auf einem Gedenkstein zu lesen ist: «Der Dichter ist ein Anwalt des Lebendigen, des Wagnisses.» An diesem Platz hat der Dichter gewohnt, in einem Haus mit einer Bäckerei im Parterre, und ist mit nur 46 Jahren mitten im Zweiten Weltkrieg gestorben. Am bekanntesten ist sein Künstlerroman «Pfannenstiel», in den auch die Geschichte mit dem Geher einfloss, aber überraschender für mich «Der halbe Mensch», ein Roman, der die Liebe eines Lehrers zu einer Schülerin thematisiert und in Zeiten des Missbrauchs aktueller ist denn je.
Zur Einweihung dieses Platzes schrieb ich 1980 einen Text über Zollingers Schulweg.
Diesen Weg gehen wir jetzt, er bringt uns in ein paar Minuten zum Liguster-Schulhaus, in dem er unterrichtete. Unlängst habe ich dort vor Sekundarschulklassen meine Erzählung «Die Rückeroberung» vorgetragen, in welcher Zürich zum Dschungel wird. Der Anlass war die Präsentation eines mobilen Bibliothekwagens, welcher die Schulbibliothek ersetzte. Instagram und Tiktok haben die Schlacht um die Bücher gewonnen.
Wir gehen nun die Venusstrasse hinunter – sind Sie noch dabei? – und kommen an einem winzigen Park mit zwei hundertjährigen Kastanienbäumen vorbei, in welchem eine kaum bekleidete Frau nur auf einem Fuss steht, auch sie in Bronze gegossen. Für das Modell muss das eine anstrengendere Pose gewesen sein, als einfach die Arme in die Höhe zu strecken, den Kopf im Nacken. Ich habe schon einige Leute gefragt, von wem wohl diese Skulptur sei, aber niemand wusste es. Hermann Haller? Karl Geiser? Franz Fischer zum Zweiten? Deshalb nutze ich jetzt meine Chance, für die NZZ und ihr gebildetes Publikum schreiben zu dürfen, und frage Sie, die Mitlesenden, ob es mir jemand von Ihnen sagen kann.
Zwei Fragen beschäftigen Franz Hohler bei der Bronzeskulptur «Die Badende» im Pärkchen an der Schulstrasse: Wie anstrengend muss das Posieren für das Modell wohl gewesen sein? Und wer hat die Statue erschaffen: Hermann Haller? Karl Geiser? Franz Fischer? Hans Brandenberger?
Wer mit Papier handelt, hat es schwer
Die zwei Hochhäuser des Bauhofs linker Hand stehen diagonal zu den anliegenden Strassen, ein städtebaulicher Kniff des Architekten gegen das Geradlinigkeitsdenken. Der Laden des Hauses rechter Hand steht leer, die Papeterie Nievergelt gibt es nicht mehr, das Haus wurde von einer Immobilienholding gekauft, ebenso wie die daran anschliessende Buchhandlung Nievergelt, bei der ich unter Missachtung aller Online-Angebote meine Bücher kaufe und die sich jetzt nach neuen Räumlichkeiten umsehen muss.
Ganz sicher von Franz Fischer ist der Brunnen auf dem Franklinplatz, zu dem wir jetzt gelangen. Ein Bursche und ein Mädchen sitzen sich gegenüber und halten je einen Fisch in der Hand, aus dem sich ein Wasserstrahl ergiesst. Halten Sie einen Moment an, bitte? Ich trinke jedes Mal, wenn ich daran vorbeikomme, drei Schlucke Wasser.
Der Name einer Gasse ist erfunden
Die Franklinstrasse, die zu ihm führt, bekam ihren Namen übrigens bei der Eingemeindung von Oerlikon in die Stadt Zürich 1933, und zwar vom späteren Geografieprofessor Armin Bollinger. Sein Vater, so erzählte es mir Bollinger, war der letzte Gemeindeschreiber von Oerlikon, und da es einige Oerliker Strassennamen bereits in Zürich gab, sagte dieser seinem Sohn, damals Student, für jeden neuen Namen, den er vorschlage und der vom Stadtrat bewilligt werde, bekomme er zehn Franken. Franklinstrasse, Nansenstrasse, Ohmstrasse, Gubelhangstrasse (die ehemalige Bergstrasse) wurden problemlos genehmigt, sogar die seltsame Welchogasse, welche nach einer alemannischen Landnahme klingt, aber eine pure Erfindung des sprachbegabten Studenten war.
Wir treten nun in eine Schlucht ein, die sich durchzwängt zwischen dem Einkaufszentrum Neumarkt und dem ehemaligen Swissôtel, das mit einem grünen Mantel eingekleidet ist, da es während der Pandemie an ein französisches Unternehmen verkauft wurde und nun in ein Mama-Shelter-Hotel mit lauter Kleinstwohnungen umgerüstet wird. Unter dem Vordach warten die dunkelhäutigen Uber-Eat-Velokuriere mit ihren würfelförmigen Rucksäcken auf die nächsten Home-Delivery-Aufträge.
Die Vielfalt von Zürich Oerlikon zeigt sich auf kleinem Raum: Von der Aldi- und der Alnatura-Filiale zum zweigeschossigen Modulbau des Liguster-Schulhauses sind es nur ein paar schnelle Schritte.
Die Stars der Pop-Kultur treten im Weltdorf auf
Sie fragen mich, was denn das Wesen von Oerlikon sei? Es hat den Charme eines Nebenzentrums, es braucht überhaupt nichts darzustellen, doch hier wird in alten Industriehallen Banksy ausgestellt, im Hallenstadion singen Helene Fischer und Bob Dylan, im «Theater 11» treten «Mummenschanz» und Massimo Rocchi auf, jedes Mal fliessen Menschenströme zu den peripheren Veranstaltungsorten.
Die Arbeiter sind aus dem Strassenbild verschwunden, keine Fabriktore, die sich um 17 Uhr öffnen, dafür schwärmen pomadisierte junge Männer mit Laptoptaschen aus den Dienstleistungszentren aus. Über die Hälfte der Schulkinder tragen ausländische Namen. Wenn die älteren Menschen einkaufen gehen, gehen sie «ins Dorf». Ins Weltdorf.
Wir könnten jetzt noch zu den Allwetterschachspielern auf den Marktplatz ausweichen, den Platz, auf dem Mittwoch und Samstag den Einkaufszentren zum Trotz ein echter Markt stattfindet, aber Sie wollen weiter, ich merke es. Am Ende der Schlucht erwartet uns der Bahnhoftrakt, mit einem grünen Oberbau, dessen einzige Funktion es ist, Farbe ins Häusergrau zu bringen, und schon stehen wir in der nächsten Schlucht am Fuss des neu erbauten Franklinturms. Weiter drüben ragt wie der Bug eines gewaltigen Schiffes der Andreasturm auf und verhilft Downtown Oerlikon zu einer Skyline.
Hier kehrt der Rekonvaleszent wieder um, ohne Sie auf der andern Seite der Gleise zur einzigen wirklichen Sehenswürdigkeit Oerlikons geführt zu haben, dem MFO-Park, vor dem sich manchmal sogar japanische Besuchergruppen versammeln. Es handelt sich um eine mehrstöckige, bis nach oben begehbare Pergola, von Kletterpflanzen umrankt, um einen vertikalen Park sozusagen, in Ermangelung einer genügend grossen Parkfläche. Vielleicht mache ich Sie neugierig, und Sie gehen selbst einmal dorthin.
Ob sich die Reise nach Oerlikon für Sie gelohnt hat, weiss ich nicht, ich habe Sie einfach in meine alltägliche Umgebung mitgenommen, und Sie wissen ja, das, was man jeden Tag sieht, wird zur Heimat, ob man es will oder nicht.
Sogar die Postleitzahl.