Der Gaza-Krieg beschleunigt die Bildung einer Parallelgesellschaft, schreibt der Politikwissenschafter Majd El-Safadi. Besonders junge und gut gebildete Muslime würden sich abwenden. Das sei gefährlich.
Das alles klingt nicht gut: «Dieses Land hat mich verloren», sagt eine deutsch-palästinensische Unternehmensberaterin. «Ich habe das Vertrauen in Deutschland, die Politik und Medien verloren», sekundiert eine palästinensische IT-Beraterin in Berlin. «Was ist nur los mit diesem Land?», fragt ein Ingenieur, einst aus Libanon geflohen, seit mehr als dreissig Jahren wohnhaft in Frankfurt. Sie alle wollen nicht namentlich genannt werden – aus Angst vor Anfeindungen, wie so häufig, wenn es um den Nahostkonflikt geht.
Gewiss, die über fünf Millionen Muslime in Deutschland sind keine homogene Gruppe, die kulturellen Prägungen sind verschieden, die Familiengeschichten vielfältig, die politischen Präferenzen wechselhaft. Doch wer sich seit dem 7. Oktober unter ihnen umhört, bekommt solche Sätze quer durch alle Schichten zu hören, unabhängig vom Alter, Geschlecht, Bildungsgrad und Beruf.
Sawsan Chebli prangert deutsche Doppelmoral an
Woran liegt das? Die deutsch-palästinensische SPD-Politikerin Sawsan Chebli hat eine Erklärung versucht. In einem Interview mit der «TAZ» klagt sie über eine «Doppelmoral der deutschen Nahostpolitik» und «die fehlende Empathie mit dem Leid der Palästinenser». Beides habe das «Gefühl des Nichtdazugehörens noch einmal um ein Vielfaches verstärkt». Chebli hat hier einen Punkt: Muslime fühlen sich von Parteien und Politikern nicht mehr repräsentiert, das Vertrauen in die Institutionen, in den deutschen Rechtsstaat schwindet.
Doch konsequent weitergedacht, wenden sich deutsche Muslime nicht einfach «nur» ab. Im Zuge des Gaza-Krieges ist eine neue Parallelgesellschaft entstanden, die wir nicht wollen können – weil sie nicht im Interesse dieses Landes ist. Besonders ausgeprägt ist dieser Entfremdungsprozess bei jungen, aufstrebenden und akademisch gebildeten Muslimen.
Ähnliches lässt sich in den Vereinigten Staaten und in Grossbritannien beobachten. Die Wahlforscherin Celinda Lake spricht in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» schon von einer «Generation Gaza» – einer Generation, die den westlichen Demokratien verlorenzugehen droht.
Muslime sollen sich ständig distanzieren
Seit dem Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben deutsche Muslime das Gefühl, unter Generalverdacht zu stehen. Ein Gefühl, das sich nach den Reaktionen auf die Terrortat von Solingen verstärkt haben dürfte.
Schon zuvor fühlten sich viele an die Zeit nach dem 11. September erinnert. Damals wurde von Muslimen das Bekenntnis verlangt, den Terror von Usama bin Ladin zu verurteilen. Heute haben sich Muslime von Antisemitismus, der Hamas und nun auch von den Messermorden des IS zu distanzieren – als hätten sie diese jemals gebilligt.
Das schmerzt viele, denn vieles hallt nach. Gehört der Islam zu Deutschland oder nicht (Wulff-Debatte)? Schafft sich Deutschland ab, weil hier zu viele Muslime leben (Sarrazin)? Und welche Muslime gehören wirklich dazu (CDU-Grundsatzprogramm)? Die Unterstellungen aus der Politik mag man mit etwas Anstrengung überhören, die reale Bedrohung nicht: Kein deutscher Muslim hat die NSU-Mordserie, den Anschlag von Hanau und die lange Liste rechtsextremer Angriffe auf Unterkünfte für Geflüchtete vergessen.
Das ritualisierte Abfragen, die stumpfen Aufforderungen zur Distanzierung müssen auf sie wirken wie ein Trick der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die Botschaft war und ist: Ihr gehört nicht wirklich dazu.
Und ja: Ein Migrationshintergrund lässt sich nicht einfach ablegen. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, die in Deutschland stärker ausgeprägt ist als in Ländern, in denen die Einwanderung zur Geschichte gehört, kann ein Migrant nur um den Preis der Selbstverleugnung zufriedenstellen. Eine Restloyalität, ein Verantwortungsgefühl und eine Verbundenheit mit dem Heimatland der Eltern oder Grosseltern bleibt bei den meisten bestehen.
Erinnerungen an Abu Ghraib
Es ist, sehr oft, kein ungetrübt schönes Gefühl, oft wird es überschattet von der Ohnmacht über die Zustände im Land der familiären Herkunft. Erdogan mag sich als starker Mann inszenieren, doch die Inflation und sein brutales Vorgehen in den Kurdengebieten zeigen, welchen Preis seine Herrschaft hat. In den arabischen Ländern ist aus dem Frühling ein Arabischer Winter geworden. Die Folgen: Kriege und Instabilität, Repressionen und Armut. Libanon, Libyen und Syrien sind «failed states», Gaza ist zerstört. In vielen Ländern des Nahen Ostens, auch Afrikas gibt es keine Ordnung, keine Demokratie, keine Freiheit. Dagegen wirkte Deutschland mit seinen Werten, seiner Rechtsstaatlichkeit und seiner Liberalität wie ein Schutzraum.
Umso schmerzhafter ist hier das Ausgestossensein, umso bitterer die doppelte Fremdheit: fremd in Deutschland und fremd in den Heimatländern der Eltern.
Dabei ist das Gefühl, auch in Deutschland nicht angenommen zu werden, nur das Ende einer langen historischen Erfahrung. Verletzungen und der Eindruck der Unterlegenheit prägen das Verhältnis der islamischen Welt mit dem Westen seit Jahrhunderten. Die Wissenschafter Khaled Fattah und K. M. Fierke heben einen «Katalog von Kränkungen» hervor, der sich in das Gedächtnis der arabisch-islamischen Welt eingebrannt hat. Der britisch-französische Kolonialismus legte den Grundstein für einen Grossteil der Unordnung im Nahen Osten, Grenzen wurden willkürlich gezogen.
Die Militärinterventionen zogen sich bis heute weiter, der desaströse Irakkrieg (2003) und der Folterskandal von Abu Ghraib wirken noch nach. Wenn heute im Internet Bilder von gefesselten, halbnackten palästinensischen Männern zu Füssen israelischer Soldaten aus Gaza verbreitet werden, gibt es kaum einen Araber, kaum einen Muslim, der nicht an Abu Ghraib denkt.
Inzwischen ist Israel die spannungsgeladenste Projektionsfläche für diesen Konflikt. Aus arabischer Perspektive ist das Land seit seiner Gründung ein Symbol arabischer Schwäche und Uneinigkeit. Selbst als Allianz gelang es arabischen Staaten nicht, seine Gründung 1948 zu verhindern, 1967 eroberte Israel gar im Sechstagekrieg das Westjordanland und Ostjerusalem und besetzte Gaza, die ägyptische Sinai-Halbinsel und die syrischen Golanhöhen. Arabische Kommentatoren sprechen von der «Mutter aller Niederlagen». Zugleich ist es aber auch die Quelle aller Propaganda. Radikale Islamisten und Antisemiten wissen, dass der Nahostkonflikt viele Muslime emotionalisiert, sie achten darauf, dass sich die Wunden nie schliessen.
Scholz, der Abschiebekanzler
All das muss man mitdenken, wenn man die Sicht vieler deutscher Muslime auf die Hamas begreifen will. Zudem ist die Hamas mehr als eine Terrororganisation. Sie ist, wie der Historiker Joseph Croitoru in seinem Buch «Die Hamas: Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel» schreibt, eine politische Bewegung, Wohlfahrtsorganisation und islamistische Miliz zugleich. Ihre bewaffneten Einheiten nennen sie «islamische Widerstandsbewegung», inszenieren sie als eine Art Bürgerwehr, die ihresgleichen gegen das vermeintlich übermächtige Israel – und die USA – verteidigt. Dass dies auch bei manchen Muslimen in Deutschland verfängt, lässt sich in Teilen der propalästinensischen Protestbewegung beobachten.
Dass diese sich in Deutschland und eben nicht im Irak oder Ägypten zeigt, ist Ausdruck einer gewissen Verzweiflung: Alle Versuche, die arabischen Herkunftsländer zu einer gemeinsamen Politik für die Palästinenser und gegen den Krieg in Gaza zu mobilisieren, sind aussichtslos. Gerade weil die arabischen Länder nicht an einem Strang ziehen, sympathisieren Muslime umso stärker mit dem Widerstandsnarrativ der Hamas. Denn über die Wankelmütigkeit, den Opportunismus und die knallharte Machtpolitik der arabischen Staaten machen sich deutsche Araber und Muslime keine Illusionen. In Deutschland aber, einem demokratischen, rechtsstaatlichen Land mit einer «wertegeleiteten» Aussenpolitik, hoffen sie, mit ihren Anliegen durchzudringen und etwas zu bewirken.
Bislang allerdings ist die Frustration eher gewachsen. Bundeskanzler Scholz geniesst wenig Vertrauen in den migrantischen Communities, seit seinem «Spiegel»-Interview gilt er als «Abschiebekanzler». Aussenministerin Baerbock spricht zwar das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung an, aber viele glauben ihr nicht. Als oberste Diplomatin dieses Landes würde sie zu wenig unternehmen, um einen Waffenstillstand herbeizuführen, finden sie.
Das «Palästina-Problem» bietet eine Projektionsfläche, bei der viele – ob Kurden, Türken, Araber oder Afrikaner – ihren Wunsch nach Befreiung und Veränderung, aber auch ihren Groll gegenüber dem Westen zum Ausdruck bringen können. Was alle eint, ist enorme Solidarität mit den Palästinensern, alle können sich mit dem schier unermesslichen Leid der Opfer in Gaza identifizieren. Diese Identifikation mit den Palästinensern als «universelle Opfer» ist das grösste Antriebsmoment.
Besonders junge Muslime glauben den Lügen der Hamas
Zur Kehrseite gehört allerdings, dass man oft eine unheimliche Kälte trifft, wenn es um israelische und jüdische Opfer geht. Die meisten lehnen die Greueltaten der Hamas ab, jedoch gibt es auch Hunderte, die das genozidale Abschlachten von Juden feiern. Als die Hamas Israel überfiel, liess das palästinensische Netzwerk «Samidoun» Süssigkeiten auf der Sonnenallee im Berliner Stadtteil Neukölln verteilen, «zur Feier des Sieges des Widerstands», wie es hiess. Und es gibt deutlich mehr, Tausende, die das Zelebrieren des Mordens, der Massaker, des Grauens nicht sehen oder nicht sehen wollen.
Wie viele es in Deutschland genau sind, lässt sich mangels statistischer Erhebungen noch nicht sagen. In Grossbritannien hingegen kam eine Umfrage des neokonservativen Think-Tanks Henry Jackson Society im April zum Ergebnis, dass nur ein Viertel der britischen Muslime daran glauben, die Hamas sei für die Morde und Vergewaltigungen des 7. Oktober 2023 verantwortlich. Gut gebildete, junge Muslime gaben am häufigsten an, die Hamas habe die Gewalttaten nicht angerichtet. Unter den 18- bis 24-Jährigen äusserten sich 47 Prozent entsprechend, unter muslimischen Akademikern 40 Prozent.
Fest steht: Der Antisemitismus, besonders der muslimische, nimmt seit dem 7. Oktober in Deutschland zu. Jüdische Kinder, die unter Polizeischutz in die Schule gehen müssen oder gar zu Hause bleiben, weil sie Angst haben, beleidigt, bespuckt, geschlagen zu werden. Jüdische Einrichtungen, die zur Zielscheibe von Angriffen und Terrorismus werden, wie der Versuch eines islamistischen Anschlags auf das israelische Generalkonsulat Anfang September in München – leider wieder einmal – zeigte.
Doch Muslime teilen in den sozialen Netzwerken fast ausschliesslich Videos und Bilder aus dem zerstörten Gaza – für die andere Seite, das Leid der Geiseln, der Angehörigen der Opfer vom 7. Oktober, ist da wenig Platz. Und «den» Medien traut man sowieso nicht mehr, weil sie angeblich einseitig berichten. Das deckt sich mit einer jüngsten Umfrage für das NDR-Medienmagazin «Zapp». Demnach hat fast die Hälfte der Befragten wenig oder gar kein Vertrauen in die deutsche Berichterstattung zum Gaza-Krieg. Deshalb weichen viele auf arabische, israelische oder englischsprachige Medien aus. Und einige denken sogar an das Auswandern.
In Deutschland ist die Lage noch etwas komplizierter als in anderen Ländern. Es geht nicht nur um Gesetzestreue und Arbeitsmarkt. Im Land der Nachfahren der NS-Täter geht es immer auch um die Frage, ob ein Einwanderer aus Aleppo, Tripolis oder Kabul mit der Staatsbürgerschaft auch die Verantwortung für die deutsche Geschichte übernimmt. Was es konkret bedeutet, dass Israels Sicherheit Deutschlands Staatsräson ist, wurde für Muslime und Menschen mit Migrationshintergrund nie ausbuchstabiert.
Je länger der Gaza-Krieg dauert, desto schwieriger wird es sein, den Riss zu kitten.
Majd El-Safadi studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie an der Universität Potsdam. Er ist freier Journalist und arbeitet für das Center for Middle East and Global Order in Berlin.