Der Kaufpreis für die US-Softwarefirma Altair von 10,6 Mrd. $ entspricht einer Bewertung in Höhe des 75-fachen Ebitda. 2 Mrd. gehen an den Altair-Gründer. Einmal mehr schlägt Siemens zu, wenn ein US-CEO goldgerändert in Pension strebt. In der Vergangenheit ging das öfter schief.
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser
Was grosse Akquisitionen sowie Verkäufe von Unternehmensteilen angeht, ist Siemens‘ Image am Kapitalmarkt schlecht. Der Münchner Dax-Konzern kaufe auf dem Gipfel der Zyklen zu Höchstpreisen und veräussere zu Tiefstpreisen, lautet der Ruf bei Investoren und Investmentbankern nun schon seit Jahrzehnten. Im Jargon der Szene: Buy high, sell low. Wert schafft man so nicht.
Immerhin gelang das Verkaufen zuletzt – siehe Innomotics – deutlich besser. Von Roland Buschs erster Grossakquisition seit seinem Aufstieg an die Siemens-Spitze vor fast vier Jahren lässt sich das allerdings nicht behaupten, im Gegenteil. Mit dem 10,6 Mrd. $ teuren Kauf der US-Softwarefirma Altair Engineering scheint der CEO sämtliche bisherigen Deals in den Schatten stellen zu wollen. Allerdings in negativer Hinsicht.
Damit meine ich nicht die Grösse der Transaktion an sich. Mit 10,6 Mrd. $ wird Altair in der Siemens-Historie nach dem Kauf des US-Strahlentherapiespezialisten Varian Medical Systems (für 16,4 Mrd. $ durch die 75%-Tochter Siemens Healthineers) Platz zwei belegen. Nein, die Bewertung, die Siemens für den Kauf von Altair akzeptiert, übertrifft alles bisher Dagewesene, und zwar um den Faktor vier bis fünf!
Altair war 2023 noch defizitär
Für die ersten neun Monate 2024 veröffentlichte Altair gestern ein Umsatzwachstum von 7,4% auf 473 Mio. $ und einen Gewinn von 13,2 Mio. $, nachdem im Vergleichszeitraum 2023 noch 28,6 Mio. $ Verlust angefallen waren. Im gesamten Jahr 2024 dürfte Altair gemäss Schätzungen der von Bloomberg erfassten Analysten 653 Mio. $ Umsatz und einen Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) von 140 Mio. $ abliefern.
Siemens bezahlt also etwa den sechzehnfachen Jahresumsatz und das 75-Fache des Ebitda für das amerikanische Softwareunternehmen mit 3500 Mitarbeitern. Und 3 Mio. $ je Beschäftigten.
Siemens‘ bis dato höchst bewerteter Kauf war 2017 die auf Elektronikdesignsoftware (Electronic Design Automation, EDA) spezialisierte Mentor Graphics. Der Kaufpreis für Mentor von 4,5 Mrd. $ entsprach dem 3,5-fachen Jahresumsatz und dem 14,5-fachen Ebitda. Mentor beliefert mit seiner EDA-Software vor allem Halbleiterunternehmen und ist hier nach Cadence und Synopsys die weltweite Nummer drei.
Ein solch hoher Bewertungsaufschlag liesse sich vielleicht sehr theoretisch rechtfertigen, wenn Altair sehr stark und begleitet von hohen Gewinnsteigerungen wachsen würden und grosse Synergien mit dem Softwareportfolio von Siemens bestünden. Für dieses Jahr erwarten Analysten allerdings für Altair nur ein Wachstum von rund 7%, wie auch schon 2023 und 2022. Nächstes Jahr soll der Umsatz 9% auf 713 Mio. $ anziehen. Siemens rechnet damit, im zweiten Jahr nach dem fürs zweite Halbjahr 2025 geplante Closing Kosteneinsparungen von 150 Mio. $ zu erzielen. Die Ertragssynergien sollten «mittelfristig» 500 Mio. $ erreichen. Wie realistisch das ist, ist von aussen kaum zu beurteilen.
In Bankkreisen heisst es, Altair stehe seit einer Dekade auf nahezu jeder Liste möglicher Übernahmeziele, die Investmentbanken Siemens-Managern regelmässig vorstellen. Jahrelang sei die Rückmeldung aus der Siemens-Zentrale am Wittelsbacher Platz gewesen: viel zu teuer.
Nunmehr allerdings gerät CEO Busch zusehends unter Druck von Investoren. Die Kritik: Er lasse bisher die versprochene strategische Weiterentwicklung zum Digitalkonzern vermissen.
Experten aus dem Siemens-Softwaregeschäft bestätigen The Market immerhin die offizielle Unternehmensdarstellung, dass Altair mit seiner Kompetenz bei Simulation und Modellbildung hervorragend in das Siemens-Industriesoftwareportfolio passt.
Altair-CEO Scapa geht mit 1,9 Mrd. $ in Pension
Was Investoren allerdings beunruhigen sollte: Wieder einmal schlägt Siemens bei einer US-Firma zu, deren CEO goldgerändert in Pension strebt.
Altair-CEO James Scapa, ein früherer IT-Berater von General Motors, hat Altair vor fast vier Jahrzehnten gegründet und an die Börse gebracht. Laut einem Altair-Dokument für die US-Börsenaufsicht SEC hält Scapa noch knapp 17 Mio. Altair-Aktien, die er laut Vereinbarung für 1,9 Mrd. $ an Siemens verkaufen kann. Dem Dokument zufolge hat Scapa in einem Vertrag mit Siemens zugesichert, die Übernahme zu unterstützen.
Ob der US-Kompressorenhersteller Dresser-Rand (7,6 Mrd. $), Varian oder die US-Labordiagnostikfirma Dade Behring (7 Mrd. $): Stets versilberten die CEO ihre Firmen an Siemens zum – für sie selbst – optimalen Zeitpunkt, und waren dann nebst weiterem wichtigen Führungspersonal nach kurzer Zeit weg. Dem Zustand der von Siemens teuer erworbenen US-Unternehmen war dies meist nicht zuträglich.
Auch bei den Tech-Werten in den USA könnten die besten Zeiten vorbei sein, jedenfalls veräusserten jüngst Insider in grösserem Stil Aktien.
Busch hingegen trennte sich – Stichwort Sell low – vor einiger Zeit viel zu früh von einem 2016 erworbenen 13%-Paket an Bentley Systems, einer US-Softwarefirma für Infrastruktur-Engineering. Statt den Anteil auszubauen, wurde das Paket kurz nach Bentleys Börsengang im Herbst 2020 in den Siemens-Pensionsfonds geschoben und schrittweise verkauft. Seither hat sich Bentleys Wert auf 15 Mrd. $ verzweieinhalbfacht.
Bei Siemens‘ sonstigen, bis 2016 getätigten Industriesoftwareakquisitionen ist der Übergang auf neues Führungspersonal immerhin gelungen; der Chef von Siemens Digital Industries Software, Tony Hemmelgarn, kommt von der 2007 akquirierten UGS, dem Nukleus von Siemens‘ Industriesoftwareportfolio. Die Mannschaft um Hemmelgarn treibt die Transition vom Lizenzverkauf zur Mietsoftware (Software as a Service) mit zählbaren Erfolgen voran.
Siemens› Bewertung hinkt chronisch hinterher
In Siemens‘ Bewertungsmultiplikatoren spiegelt sich dies allerdings nicht: Mit einem Kurs in Höhe des 16-fachen für 2024/25 erwarteten Gewinns hängt der Dax-Konzern gegenüber der Schweizer ABB (KGV: 22) und Schneider Electric (26) aus Frankreich chronisch hinterher. Ausserhalb der durch Zukäufe aufgebauten Softwaresparte ist Siemens nämlich auch nicht digitaler als die anderen Industriekonzerne – aber wesentlich schlechter geführt. Immer noch wird Blech gebogen, um Züge zu herzustellen. Es werden Motoren gefertigt, Computertomografen montiert, Brandmelder produziert.
Von den Auftritten des demnächst sechzigjährigen Busch in weissen Turnschuhen und Lederjacke – wie jüngst auf der hauseigenen Topmanagementkonferenz – mit Digitalgrössen wie Microsoft-Gründer Bill Gates und Nvidia-Chef Jensen Huang mögen sich unternehmensintern manche blenden lassen. Investoren ignorieren dies zurecht, für sie zählen strategischer Fokus und Zahlen.
Investorenforderungen nach einer Trennung von der Zugsparte und einer Reduzierung des 75%-Anteils an Siemens Healthineers ignoriert Busch hartnäckig. Und die Zahlen lagen in der wichtigsten Sparte Digital Industries zur Automatisierung und Digitalisierung von Fabriken zuletzt ständig weit unter den Erwartungen. Deshalb kippte Siemens Ende September sogar die Wachstumsprognose für das im September beendete Geschäftsjahr, während Schneider Electric ihre im Sommer angehoben hatte.
Soll Siemens› teuerster Software-Deal aller Zeiten also womöglich auch von schwachen Geschäftszahlen ablenken? Auch das wäre nicht das erste Mal.
Freundlich grüsst im Namen von Mrs. Market
Angela Maier