Laut der ersten Studie zur Diskriminierung und sexualisierter Gewalt in der Armee, sind bereits alle Soldatinnen und Soldaten Opfer von sexualisierter Gewalt gewesen. Frauen sind besonders stark betroffen.
Auf der Titelseite der Zusammenfassung zur ersten Studie der Fachstelle Frauen in der Armee und Diversity steht ganz unten eine warnende Fussnote: «Diese Inhalte können negative Reaktionen auslösen.» Dann zeigt der Bericht aufgrund von Befragungen, wovon einzelne Frauen seit Jahren immer wieder berichten: Diskriminierung und sexualisierte Gewalt sind weit verbreitet in der Schweizer Armee. Betroffen sind mehrheitlich Frauen.
Zwischen Januar und März 2023 haben über tausend Soldatinnen und Soldaten anonym an einer Umfrage der Schweizer Armee teilgenommen zum Thema «Diskriminierung und sexualisierte Gewalt aufgrund des Geschlechts und/oder der sexuellen Orientierung». 32 Prozent der Teilnehmer aus allen Sprachregionen des Landes waren männlich, 68 Prozent weiblich. Rund die Hälfte von ihnen gab an, Diskriminierung erlebt zu haben, 40 Prozent gaben an, Opfer sexualisierter Gewalt (verbale, nonverbale oder körperliche Gewalt) geworden zu sein. Die Daten zu den weiblichen Armeeangehörigen seien repräsentativ, schreibt die Fachstelle im Bericht. Jene zu männlichen oder queeren bzw. nichtheterosexuellen Personen könnten hingegen nicht verallgemeinert werden, da keine repräsentative Anzahl an der Studie teilgenommen hat.
Sexistische Bemerkungen sind nur der Anfang
Die Studienteilnehmerinnen und Teilnehmer wurden unter anderem gefragt, ob sie konkrete Situationen erlebt haben. Diese Angaben seien «erwartungsgemäss höher» als jene zur allgemeinen Fragestellung, so die Fachstelle. Abgefragt wurde beispielsweise, ob die Personen sexistische Bemerkungen oder Witze erlebt hätten, unangemessenes Anstarren, Hinterherpfeifen, anzügliche Gesten oder unerwünschte (versuchte) sexuelle Handlungen. 86 Prozent gaben an, mindestens eine dieser Situationen erlebt zu haben. Frauen mit über 93 Prozent deutlich häufiger als heterosexuelle Männer (67 Prozent). Nur 13 Prozent kreuzten «nie erlebt» bei allen abgefragten Situationen an.
Die Fachstelle schreibt, dass, wenn verbale sexualisierte Gewalt als normal oder ungefährlich angesehen werde, dies den Raum öffne für noch schwerwiegendere Formen. Eine Soldatin schrieb in der Umfrage: «Mit blöden Witzen, Äusserungen und gewissen Bemerkungen fängt es an. Man bekommt via Natel Nachrichten, sexuelle Anfragen, Sexvideos usw. Sexuelle körperliche Belästigung folgt als Nächstes.» Statistisch zeige sich, dass wer Diskriminierung erlebe, ein doppelt so hohes Risiko habe, in der Schweizer Armee auch sexualisierte körperliche Gewalt erleiden zu müssen, heisst es im Bericht.
Alle Betroffenen gaben an, dass die Kultur innerhalb der Armee der häufigste Grund sei, weswegen sie diskriminiert würden. Die Fachstelle schreibt, die Kultur der Armee sei gegenwärtig verflochten mit Diskriminierung und sexualisierter Gewalt. Es gehe in der Studie deshalb nicht um Einzelfälle. Die Soldatinnen und Soldaten schreiben, dass Diskriminierung zugelassen werde, ohne verfolgt oder bestraft zu werden. Auch gebe es eine Machokultur.
Frauenfeindlichkeit und veraltete Rollenbilder
Sexismus und grenzüberschreitendes Verhalten sei für viele Frauen in der Armee Alltag, heisst es im Bericht. Dies hat auch Konsequenzen für ihre militärische Karriere. Frauen würden sexualisiert, ihnen würden damit oft Kompetenzen, Mitsprache und die notwendige Autorität in Führungsfunktionen abgesprochen.
Über 200-mal wird über Frauenfeindlichkeit berichtet. Die Rede ist davon, dass Soldatinnen ihre Ehemänner belasten würden. Und jene, die eine Kaderrolle anstrebten, würden gar ihre männlichen Partner «entmannen». Diese Aussagen zeigten deutlich, dass einige Männer auf ihren Vorstellungen von hierarchischen Geschlechterverhältnissen beharrten, schreibt die Fachstelle. Würden Frauen in die «männliche Sphäre des Militärdienstes» eindringen, werde dies als direkter Angriff auf die traditionelle Geschlechterordnung empfunden. Dies nicht nur von Männern, sondern auch von einigen Frauen, heisst es im Bericht.
Die Studie: «ein Weckruf»
Auch Männer erleben Diskriminierung und sexualisierte Gewalt, wenn auch deutlich weniger (12,5 Prozent) als Frauen (90 Prozent). Bei ihnen gehe es seltener um das Geschlecht. Sexuelle Orientierung, Migrationshintergrund, Rassismus, Sprache oder ihr Körper spielten eine Rolle. Fast die Hälfte aller Befragten ist ausserdem der Meinung, die Schweizer Armee würde ihnen nicht glauben, dass es sexualisierte Gewalt durch Männer an Männern gebe.
Aussagen von Männern über sexualisierte Gewalt seien äusserst selten, schreibt die Fachstelle. Eine der wenigen Schilderungen stamme von einem Deutschschweizer Soldaten, der beschreibe, wie ihm ein höherer Unteroffizier in der Achtung-Stellung, also während er in einer Position stand, in der er sich nicht mehr bewegen durfte, «die Pyjamahose vor anderen Kollegen runtergezogen [hat], womit man meinen Penis sah».
Am häufigsten üben gemäss der Studie Soldaten Diskriminierung aus, es folgen Unteroffiziere, Offiziere und Berufsoffiziere. Eine besonders hohe Diskrepanz besteht hier bei der letzten Gruppe, den Berufsoffizieren, die überproportional oft genannt wurden (38 Prozent der Befragten), obwohl sie nur rund 1 Prozent der Armeeangehörigen ausmachen.
Das erschreckend hohe Ausmass an Diskriminierung und sexualisierter Gewalt in der Schweizer Armee wirft die grundsätzliche Frage nach dem moralischen Zustand der Truppen auf. Die Fachstelle schreibt, diese Probleme hätten negative Folgen auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Armeeangehörigen. Dennoch erklärt der Bericht einerseits, es werde schon viel getan gegen Diskriminierung und sexualisierte Gewalt in der Schweizer Armee. Etwa im Rahmen der Diversity-Strategie, die es seit Sommer 2023 gibt. Ausserdem sei das Problem «eine Aufgabe für die Gesellschaft insgesamt». Andererseits bezeichnen die Autoren der Fachstelle, die Studie als ein «ein Weckruf». Das Ausmass sei beträchtlich und der Handlungsbedarf nach wie vor gross, schliesslich hat sich die Armee im letzten Jahr zu einer Nulltoleranz-Strategie bekannt.
Die Armeeführung hat aufgrund der Studie zusätzliche Massnahmen festgelegt. Einerseits sollen Diskriminierung und sexualisierte Gewalt aufgrund des Geschlechts und/oder der sexuellen Orientierung vorbeugend verhindert werden, zum Beispiel mit einem anonymen Meldetool und der Sensibilisierung der Armeeangehörigen. Andererseits sollen Opfer besser geschützt und Verfahren verbessert werden, unter anderem zusammen mit der Militärjustiz.
Der Frauenanteil in der Schweizer Armee liegt aktuell unter zwei Prozent. Der Chef der Armee möchte ihn bis 2030 auf 10 % erhöhen. Doch der Befund dieser ersten Studie der Fachstelle Frauen in der Armee und Diversity zeigt, dass es nicht nur an Infrastruktur oder geeigneter Ausrüstung für Frauen fehlt, sondern vor allem an Akzeptanz. Im Militär herrscht offensichtlich ein veraltetes Frauenbild vor, das Diskriminierung und sexualisierte Gewalt zulässt, ungeahndet. Warum sollten sich Frauen das freiwillig antun? Das muss sich auch der Chef der Armee ernsthaft fragen.