Nach den kräftigen Kursavancen ist die Stimmung an den Finanzmärkten ausgezeichnet. Risiken – wie etwa die US-Wahlen, geopolitische Auseinandersetzungen und die Rezessionsgefahr – sind derzeit kein Thema. Muss die ETF-Sektorstrategie von The Market angepasst werden?
Nichts kann die Börsenrally stoppen. Angeführt von den USA ist der MSCI World seit Jahresbeginn in Dollar um rund 17% vorgeprescht, in Franken beträgt der Zuwachs mehr als 20%. Rückschläge wie im April oder im Sommer hat der Index jeweils rasch wieder überwunden und ist schon bald darauf auf neue Höchst geklettert. 2024 hat der Weltaktienindex vierzig Mal auf einem Rekordhoch geschlossen.
Die mannigfaltigen Risiken haben die Marktteilnehmer bislang beiseite gewischt, da die Unternehmensergebnisse überzeugten und auch die befürchtete Rezession ausgeblieben ist. Weder der Krieg in der Ukraine, die Eskalation im Nahen Osten noch die nahenden US-Präsidentschaftswahlen vermochten die Anleger nachhaltig zu beeindrucken.
Im Gegenteil, wurde die Aufwärtsbewegung bei den Aktien lange von einigen wenigen Titeln vorwiegend aus dem Technologiesektor getragen, sind zuletzt weitere Segmente von einer positiven Dynamik erfasst worden – die Hausse wurde breiter. Derzeit handeln rund zwei Drittel der im MSCI World erfassten Valoren über ihrem 200-Tage-Schnitt.
Ein wichtiger Treiber hinter der aufgeräumten Stimmung sind die Notenbanken, die auf den abnehmenden Inflationsdruck reagiert und die Leitzinsen erstmals in diesem Zyklus gesenkt haben. Zu den Vorreitern gehört die Schweizerische Nationalbank, die bereits drei Senkungsschritte à 25 Basispunkte (Bp) auf 1% vollzogen hat (blaue Linie unten in der Grafik).
Auch die Europäische Zentralbank hat die geldpolitischen Zügel spürbar gelockert. Für die Börsen ungleich wichtiger ist allerdings die US-Notenbank Fed, die im September die Federal Funds Rate in einem Doppelschritt von 50 Bp auf ein Zielband von 4,75 bis 5% gesenkt hat. Weitere Schritte dürften folgen.
Mit dieser beherzten Massnahme haben sich die Aussichten verbessert, dass der US-Wirtschaft eine sanfte Landung gelingen und eine Rezession vermieden werden kann. Das scheint inzwischen auch die Mehrheitsmeinung an den Finanzmärkten zu sein, wenn man die monatliche Fund Manager Survey von Bank of America zum Massstab nimmt.
In Kombination mit den jüngst etwas besseren Konjunkturdaten rund um den Globus, die die Prognosen zuletzt wieder leicht übertroffen haben, war das ein fruchtbares Umfeld für Aktien. Und wer weiss, womöglich sorgen die Stimulusmassnahmen in China ebenfalls für eine Wachstumsbeschleunigung.
Achtung, Überschwang
Im Gleichschritt mit den in den Hintergrund rückenden Rezessionssorgen und den steigenden Aktienkursen hat sich die Stimmung unter den Anlegern merklich aufgehellt. Waren diese im August noch vorsichtig, sind sie mittlerweile vom Optimismus erfasst worden. Das verdeutlicht beispielsweise die oben erwähnte Fund Manager Survey, die zeigt, dass die Anlageprofis ihre Aktienquote zuletzt markant aufgestockt haben.
Aber auch die Umfrage des Forschungsinstituts Conference Board unter US-Konsumenten lässt grosse Zuversicht erkennen. In der jüngsten Befragung äusserten sie sich überaus optimistisch über die künftige Börsenentwicklung. Eindrückliche 51,4% der Konsumenten erwarten für die kommenden zwölf Monate steigende Aktienkurse – das entspricht dem höchsten Wert seit der ersten Erhebung dieser Frage im Jahr 1987.
Die Gefahr von Enttäuschungen hat deshalb zugenommen. Zumal die Konjunktur noch immer schwächelt, wie etwa die Einkaufsmanagerindizes zeigen, die vielerorts wieder – oder weiterhin – unter der Wachstumsschwelle von 50 Zählern notieren.
Risikofaktor US-Präsidentschaftswahlen
Auch die Präsidentschaftswahlen in den USA könnten für unliebsame Überraschungen sorgen. Derzeit scheinen sich die Marktteilnehmer auf eine zweite Amtszeit von Donald Trump einzustellen. Er verspricht Steuersenkungen und neue Zölle, um die heimische Wirtschaft zu schützen. Die Aussicht liess die Börsen weiter nach oben klettern, die Kapitalmarktrenditen legten zu und auch der Dollar wurde stärker.
Ob Trump 2.0 tatsächlich gut für Wirtschaft und Börse sein wird, ist jedoch alles andere als sicher. Seine protektionistischen Tendenzen und seine Vorliebe für niedrige Zinsen bergen die Gefahr eines neuen Inflationsschubs, zumal er keine Anstalten macht, ein ausgeglichenes Budget erreichen zu wollen.
Unter Kamala Harris drohen im Gegenzug höhere Unternehmenssteuern, hat sie doch den Vorschlag von Präsident Joe Biden unterstützt, die Hälfte der unter Trump beschlossenen Steuerreduktion rückgängig zu machen und den Unternehmenssteuersatz wieder auf 28% anzuheben. Gemäss Ned Davis Research würde das zu einem Rückgang des Gewinns pro Aktie für die S&P-500-Unternehmen von fast 9% führen.
Natürlich hängt vieles davon ab, wie sich die Verhältnisse im Parlament präsentieren werden. Unabhängig vom Wahlausgang ist es allerdings nahezu sicher, dass die US-Finanzpolitik in den kommenden Jahren expansiv bleiben wird, was die Inflation anheizen und Anleihen belasten dürfte. Die Börsianer scheinen allerdings ein erfreuliches Szenario einzupreisen – was die Gefahr von Enttäuschungen mit sich bringt.
Anspruchsvolle Bewertungen
Der zunehmende Optimismus spiegelt sich in sportlichen Bewertungen, insbesondere in den USA. Wie ein Bewertungsmass des Marktbeobachters Charlie Bilello zeigt – er vergleicht den Indexstand des S&P 500 mit den jeweils höchsten historischen Gewinnen über zwölf Monate – sind US-Aktien derzeit so teuer wie nie seit der Technologieblase zur Jahrtausendwende. Andere Kennzahlen zeigen ein ähnliches Bild.
US-Aktien sind teuer
S&P 500 jeweils relativ zum höchsten Gewinn über vier Quartale
Nur wenige Sektoren sind günstig
Auch auf der Stufe der globalen Aktiensektoren lassen sich zunehmend ambitiöse Bewertungen beobachten, wie ein von The Market ermittelter Bewertungsindikator zeigt. Er umfasst fünf Kennzahlen – das Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis, das vorwärtsgerichtete KGV, das Kurs-Umsatz-Verhältnis, das Kurs-Buchwert-Verhältnis sowie die Dividendenrendite –, die jeweils mit der Historie jedes Sektors verglichen und in ein Gesamtmass aggregiert werden. Es bewegt sich zwischen 0 und 100; je höher sein Wert, desto unattraktiver ist die Bewertung (in diesem Artikel wird die Konstruktion des Indikators erklärt).
Nach der Hausse der vergangenen Monate handelt keiner der elf Sektoren unter seiner langfristigen mittleren Bewertung (was dem 50. Perzentil entspricht). Am günstigsten sind Energievaloren, die nur leicht über ihrer durchschnittlichen Bewertung notieren. In einem angemessenen Rahmen bewegen sich zudem die Bewertungen von Basiskonsumgütern, akzeptabel sind die Bewertungen der Branchen Grundstoffe und Versorger.
Ein nahezu perfektes Szenario preisen die Sektoren Technologie, Industrie und Kommunikationsdienste ein. Nur geringfügige Enttäuschungen haben das Potenzial, heftige Rückschläge auszulösen.
In der Summe lässt sich festhalten, dass die Rohstoffsektoren Energie und Grundstoffe sowie die defensiven Branchen Basiskonsum und Versorger aus Bewertungsoptik noch am besten abschneiden. Gleichzeitig werden diese Segmente von den Marktteilnehmern tendenziell verschmäht, was sie aus Contrarian-Sicht interessant macht.
Sektorallokation: Defensiv bleibt Trumpf
Angesichts der hohen Erwartungen der Anleger, der Bewertungen, die ein optimales Szenario vorwegnehmen und der mannigfaltigen Risikofaktoren wie der US-Wahlen, der geopolitischen Spannungen und ausufernder Staatsausgaben, bevorzugt The Market weiterhin relativ günstige und unbeliebte Value-Sektoren und/oder defensive Segmente wie Versorger, Gesundheit und Grundstoffe.
Auch Energie verdient ein leichtes Übergewicht. Einerseits ist der Sektor im Quervergleich attraktiv bewertet, andererseits bietet er einen gewissen Schutz vor einem Preisschub beim Rohölpreis. Angesichts der Kriege im Nahen Osten muss dieses Risiko berücksichtigt werden.
Im Gegenzug werden die teuersten und populärsten Sektoren – Technologie, Industrie und Kommunikation – weiterhin untergewichtet. Diese Branchen bieten keinerlei Sicherheitsmarge und sind besonders anfällig, sollte das Wirtschaftswachstum enttäuschen oder die hohen Gewinnerwartungen verfehlt werden.
Zugegeben, in den vergangenen Monaten hat sich der Fokus auf defensive Sektoren und die Rohstoffbranchen nicht ausbezahlt. Zwar kann sich die Performance der Sektorstrategie auf absoluter Basis durchaus sehen lassen (Gesamtrendite von 26,6% seit Lancierung), allerdings blieb sie zuletzt hinter dem MSCI World zurück (+29,2%).
Sollten die US-Präsidentschaftswahlen für Turbulenzen sorgen, meldet sich die Inflation wider Erwarten zurück oder droht eine weitere Eskalation im Nahen Osten oder in der Ukraine, dürfte die Sektorstrategie den Rückstand allerdings verringern. Gelingt den Notenbanken eine sanfte Landung oder zieht die Konjunktur in den kommenden Monaten an, wird die Sektorstrategie höchstwahrscheinlich weiter an Terrain einbüssen.
Wenn das Generikum teurer ist als das Original
Sie stehen selten im Rampenlicht, ihr Einfluss ist indes enorm: die Rede ist von Indexanbietern wie FTSE Russell, MSCI und S&P Dow Jones Indices. Erhält etwa ein Unternehmen den Ritterschlag und wird in den prestigeträchtigen US-Leitindex S&P 500 aufgenommen, kann das bedeutende Finanzströme – und Kursbewegungen – auslösen. Wer einem solchen Barometer folgt, wie das beispielsweise passive Vehikel wie ETF tun, ist gezwungen, die Aktien des entsprechenden Unternehmens zu erwerben. Im Gegenzug werden die Valoren des ausgeschlossenen Konzerns verkauft.
Diverse Indizes sind zu Marken geworden, was den Anbietern eine entsprechende Markt- und Preismacht verleiht. Das spüren auch ETF-Anbieter, die den Indexkonzernen eine entsprechende Gebühr entrichten müssen, wenn sie beispielsweise einen ETF auf den FTSE 100, den Swiss Market Index oder den Dow Jones Industrial herausgeben möchten.
Hohe Lizenzgebühren
Wie die drei Akademiker Bige Kahraman, Sida Li und Anthony Limburg von der Saïd Business School und der Brandeis International Business School in einem neuen Arbeitspapier mit dem Titel «Index Disruption: The Promise and Pitfalls of Self-Indexed ETFs» schreiben, machen die Lizenzgebühren rund ein Drittel der ETF-Kosten aus. Kein Wunder, wird nach Alternativen gesucht.
Die Lösung: Self-Indexing. Statt sich auf die etablierten Indexanbieter abzustützen, kreieren etwa ETF-Anbieter wie State Street und Global X ihre Benchmarks gleich selber. Das kann ein Barometer sein, das europäische Large Caps abbildet oder Unternehmen umfasst, die vom steigenden Stromverbrauch profitieren oder solche, die im Einklang mit katholischen Werten stehen. Indem ein ETF-Anbieter eigene Indizes kreiert, lassen sich die Kosten senken, wovon theoretisch auch die Anleger profitieren sollten.
Doch wie sagte der legendäre US-amerikanische Baseballspieler Yogi Berra einst: «In der Theorie gibt es keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. In der Praxis schon.» Das zeigen Bige Kahraman, Sida Li und Anthony Limburg in ihrem Paper schön auf. Denn gemäss ihrer Untersuchung, die alle in den USA gehandelten ETF seit 2012 umfasst, waren die Gebühren von selbstindexierenden ETF zwischen 12 und 14% höher als diejenigen, die auf klassischen Indizes basieren.
Wie kann das sein?
Zwei mögliche Erklärungen
Die Autoren beleuchten zwei Hypothesen: Die erste lautet, dass die Selbstindexierung den Emittenten einen grösseren Spielraum bei der Umsetzung von Anlagestrategien bietet, und dass diese Flexibilität zu finanziellen Vorteilen für die Anleger führt. Sprich: Dank der grösseren Freiheit bei der Gestaltung von Benchmarks sollten die Renditen besser ausfallen. Auch wenn die Kosten etwas höher sind, profitieren die Investoren dennoch von attraktiveren Renditen.
Weniger erfreulich ist die alternative Hypothese: Sie geht davon aus, dass die Kosten primär wegen Interessenkonflikten, die sich aus der Doppelrolle als Index- und ETF-Anbieter ergeben, höher ausfallen. Das könnte vor allem dann der Fall sein, wenn die Firma zusätzlich Vermögensverwaltungs- und Beratungsdienste anbietet. Dann kann das Unternehmen ihren Kunden nämlich aggressiv die eigenen Produkte vermarkten.
Leider stützt die Evidenz die zweite Hypothese. Alle Tests und Untersuchungen, welche die Autoren vornehmen, stehen im Einklang mit der Vermutung, dass Interessenskonflikte bestehen. Die «generischen» Indizes schlagen vergleichbare etablierte Indizes nämlich nicht, was dagegen spricht, dass die Anleger damit bessere Renditen erzielen.
Zudem ist bei den von Anlageberatern emittierten selbstindexierten ETF im Durchschnitt ein geringerer externer Mittelzufluss zu beobachten, weil sie primär von eigenen Beratungskunden der emittierenden Gesellschaft in Anspruch genommen werden. Schliesslich bevorzugen ETF-Emittenten, die auch Modellportfolios anbieten, ihre auf eigenen Indizes basierenden ETF mit grösserer Wahrscheinlichkeit für diese Auswahl als ETF, die auf etablierten Benchmarks basieren.
Kurzum: Von der Selbstindexierung profitieren primär die Anbieter und nicht die Anleger.
Grafik des Monats: Wann ist das Ende der Fahnenstange erreicht?
Lange wurden ETF belächelt, weil sie lediglich einen «durchschnittlichen» Anlageerfolg abwerfen und langweilig seien. Das ist allerdings kein Makel, sondern ein Vorzug, der von Privatanlegern bis zu Pensionskassen längst erkannt wurde. Dank der passiven Fonds sparen Anleger jährlich Milliarden von Franken an Gebühren – zum Leidwesen der Banken, die lieber ihre (teuren) eigenen Fonds verkaufen – und sie können ohne grossen Aufwand ein diversifiziertes Portfolio zusammenstellen.
Nur folgerichtig, dass das mittels ETF verwaltete Vermögen seit Jahren weltweit steil nach oben zeigt. Wie Daten des Beratungsunternehmens ETFGI zeigen, waren per September 2024 rekordhohe 14,3 Bio. $ in ETF investiert. Vor zwanzig Jahren waren es noch weniger als 300 Mrd. $. Auch gemessen am gesamthaft investierten Vermögen legen ETF zu, wie die jüngsten Zahlen des Analysehauses Investment Company Institute belegen.
In gewissen Ländern wie Japan, den USA und dem Vereinigten Königreich kommen die passiven Anlagefonds auf einen Marktanteil von rund 25% – dabei werden ETF auf Aktien, Anleihen, Immobilien und Rohstoffe berücksichtigt. In Kanada erreichen sie knapp weniger als 20%, global sind es gegen 18%.
Kontinentaleuropa kann da (noch) nicht mithalten: Insbesondere in Frankreich (1,7%) und in Deutschland (2,5%) ist die Verbreitung von ETF noch kümmerlich, weshalb noch beträchtliches Aufholpotenzial besteht. Die Schweiz gehört mit einem Anteil von etwas über 5% ebenfalls zu den Nachzüglern mit Spielraum nach oben.
Die Prognose, dass der ETF-Markt weiter wachsen wird, scheint nicht allzu gewagt zu sein.