Zehntausende Zivilisten sind bereits aus dem nördlichen Gazastreifen geflohen. Viele sind jedoch geblieben – jüngst wurden offenbar Dutzende Menschen bei einem Luftangriff getötet. Die Lage in den Spitälern ist desaströs, und noch nie kam so wenig Hilfe wie jetzt.
Abgetrennte Gliedmassen, von Staub bedeckte Kinderleichen, Angehörige, die schreiend zusammenbrechen. Diese Bilder aus dem nördlichen Gazastreifen wurden am Dienstag in den sozialen Netzwerken geteilt, nachdem ein israelischer Angriff ein Wohnhaus in Beit Lahiya hatte einstürzen lassen. Laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden mindestens 70 Menschen getötet. Gemäss Angaben der Uno befanden sich unter ihnen mindestens 20 Kinder.
Ein Sprecher des amerikanischen Aussenministeriums nannte den Angriff «einen entsetzlichen Vorfall mit einem entsetzlichen Ergebnis». Die US-Regierung habe von der israelischen Regierung eine genaue Aufklärung des Angriffes gefordert. Eine anonyme Militärquelle sagte gegenüber der «Times of Israel», dass der Angriff einer Person mit einem Feldstecher in dem Gebäude gegolten habe. Es sei aber nicht geplant gewesen, das fünfstöckige Haus zum Einsturz zu bringen. Der Armee sei nicht klar gewesen, dass sich Zivilisten in dem Wohnhaus befunden hätten.
Laut den Vereinten Nationen war der Angriff auf Beit Lahiya nur einer von vier Angriffen in der vergangenen Woche mit «massenhaft Verletzten» im nördlichen Gazastreifen. Nach einem Jahr Krieg ist die Lage im Norden des Gazastreifens wohl so schlimm wie noch nie.
Manche können nur noch kriechen
Vor drei Wochen hatte die Armee zum wiederholten Mal eine grosse Offensive in Nordgaza begonnen, um dort gegen die Hamas zu kämpfen. Im Zentrum der Angriffe steht die Stadt Jabalia. «Die gegenwärtige Situation in Jabalia ist verheerend», sagt Sarah Vuylsteke, Projektkoordinatorin für Ärzte ohne Grenzen im Gazastreifen, in einer Sprachnachricht. Seit Beginn der Offensive seien Hunderte getötet oder verletzt und Tausende vertrieben worden. Als sie am Dienstag die Nachricht schickt, befindet sie sich in der sogenannten humanitären Zone weiter südlich.
Zudem hätten keine Hilfsgüter Jabalia erreicht. Laut der Uno sind die Hilfslieferungen in den Gazastreifen auf den tiefsten Stand seit Kriegsbeginn gefallen. So erreichten in den ersten drei Oktoberwochen nur 704 Lastwagen mit humanitärer Hilfe das Küstengebiet. Im September waren es noch über 3000 Lkw gewesen. Diese Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen – Israel zweifelt sie an und geht von höheren Hilfslieferungen aus.
Viele sind inzwischen geflüchtet: Laut der israelischen Armee haben seit Beginn der Offensive 50 000 Menschen Jabalia verlassen. «Die Menschen werden dazu gezwungen, zu Fuss zu gehen, unter ihnen Alte, körperlich Beeinträchtigte, Kinder, Kranke und Verletzte», sagt Sarah Vuylsteke. Kollegen der Uno hätten Menschen gesehen, die nur noch auf dem Boden hätten kriechen können.
Gesundheitsversorgung am Limit
Ärzte ohne Grenzen ist zudem äusserst besorgt über die Lage in den drei verbleibenden Spitälern in Nordgaza. Das Indonesische Spital sei praktisch nicht mehr in Betrieb. Das Kamal-Adwan-Spital habe zwar vergangene Woche noch Blutkonserven, Diesel und Nahrungsmittel in Empfang nehmen können. Doch vergangenen Freitag begann die israelische Armee einen Einsatz in dem Spital. Dabei wurde laut der Hilfsorganisation die Mehrheit des medizinischen Personals festgenommen.
Am Montag beendete die Armee den Einsatz. Sie teilte mit, in dem Spital Dutzende mutmassliche Terroristen festgenommen und rund 20 getötet zu haben. Ausserdem habe ein Verdächtiger in einem Verhör zugegeben, dass die Hamas die Ambulanzen des Spitals verwendet habe, um Kämpfer zu transportieren.
«Die Spuren der Zerstörung nach der Razzia sind verheerend», sagt Vuylsteke. Nun bleibe nur das Al-Awda-Spital in «kritischem Zustand» in Betrieb. Patienten würden dort ohne weiteren Nachschub an Hilfsgütern behandelt. Auch in Gaza-Stadt, wohin Tausende geflohen sind, können die Menschen laut Ärzte ohne Grenzen nur unzureichend behandelt werden. In der Klinik, die die Organisation in Gaza betreibt, habe die Zahl der Patientenkonsultationen um 50 Prozent zugenommen.
Internationaler Druck nimmt zu
Wegen der katastrophalen Lage im nördlichen Gazastreifen nimmt der internationale Druck auf Israel weiter zu. Am 13. Oktober schickte das Weisse Haus einen Brief an die israelische Regierung, in dem es Israel eine dreissigtägige Frist setzt, um die humanitären Hilfslieferungen auszuweiten sowie «die Isolation des nördlichen Gazastreifens» zu beenden. Washington droht damit, die Militärhilfe für Israel einzuschränken, sollten seine Forderungen nicht innerhalb der Frist erfüllt werden.
So fordern die USA, dass täglich 350 Lastwagen das Küstengebiet erreichen müssen. Nimmt man die Zahlen der israelischen Armee als Massstab, sind die derzeitigen Lieferungen noch weit davon entfernt. Nach israelischen Angaben erreichten am Mittwoch 182 Lastwagen den Gazastreifen.
Am Donnerstag verschärfte auch der Uno-Generalsekretär António Guterres seinen Ton. Er forderte die internationale Gemeinschaft dazu auf, alles dafür zu tun, die «ethnischen Säuberungen» im Gazastreifen zu unterbinden. Es sei eine mögliche Intention Israels, die Palästinenser zu vertreiben.
Einige israelische Experten vermuten, dass die Armee im nördlichen Gazastreifen den sogenannten Plan der Generäle umsetzt. Dieser beinhaltet die Evakuierung aller Zivilisten aus dem nördlichen Gazastreifen sowie einen kompletten Stopp aller humanitären Hilfslieferungen. Laut Medienberichten hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gegenüber dem amerikanischen Aussenminister Antony Blinken zwar versichert, dass dieser Plan nicht verfolgt werde. Öffentlich habe er dies aber nicht sagen wollen. Im vergangenen Monat hatte Netanyahu noch gesagt, der «Plan der Generäle» sei eine der Vorgehensweisen, die er für den Krieg im Gazastreifen erwäge.
Laut der israelischen Zeitung «Haaretz» ist ohnehin nur eine Handvoll Flüchtlinge in den südlichen Teil des Küstenstreifens geflohen. Der Rest verbleibt zusammengepfercht in den nördlichen Gebieten – wo das Leid täglich zunimmt.