Über Jahrhunderte gehörte das Böse zum spirituellen Kompass des Abendlandes. Es gerät zunehmend in Vergessenheit. Davon zeugt die moralische Verwirrung unserer Tage.
Angesichts von Krisen, Krieg und Terror erschöpfen sich die Debatten meist im Wunsch nach einer besseren Politik. Davon verspricht man sich mehr Frieden, wie man sich von besseren sozialen Verhältnissen weniger Verbrechen erhofft. Mit bösen Kräften, die uns übersteigen und auf uns einwirken, wird nicht gerechnet. Der aufgeklärte Zeitgenosse rechnet mit der Natur, die keine Moral kennt, und mit einer offenen Gesellschaft, die jedem erlaubt, selbstbestimmt zu leben.
In die Ferne gerückt ist die Warnung des französischen Dichters Charles Baudelaire: «Vergesst nie, wenn ihr das Lob über den Fortschritt der Lichter hört, dass der schönste Trick des Teufels darin besteht, euch zu überzeugen, dass er nicht existiert!» In die Ferne gerückt ist die Vorstellung, dass mehr zwischen Himmel und Erde existiert, als wir wissen, Mächte und Gewalten, gegen die keine Verhandlungen helfen.
In der Bibel erscheint das Böse als Todesschlange im Garten des Lebens, um Misstrauen in den Grund der Schöpfung zu säen. Oder als Dämon, der Angst, Verzweiflung und Hass in die Seele träufelt. Vielleicht ist es das gleiche Böse, das der amerikanische Schriftsteller Louis Begley anklagt, wenn er das 20. Jahrhundert als «satanisches Requiem» bezeichnet: das Jahrhundert von Hitler, Stalin und Mao mit Hunderten Millionen von Toten.
Angesichts solcher Erschütterungen der Zivilisation greift die bürgerliche Gesellschaft gern auf akademische Abstraktionen zurück, auf historische oder soziologische Untersuchungen, um sich den Abgrund vom Leib zu halten. Das Beängstigende darf nicht Teil einer Dunkelheit sein, die auch im eigenen Herzen nistet.
Der unfassbare Abgrund
Der unfassbare Abgrund muss fassbaren Ursachen weichen: Armut, soziales Unrecht, Verführung durch Rechtspopulisten. Besonders beliebt ist die psychische Störung, die den Abgrund zu einem klinischen Problem reduziert. Unerwünscht ist die Ahnung einer Hölle, an der wir alle im Verborgenen arbeiten, umso mehr, je weniger es uns bewusst ist.
Der Scheinfriede des Wohlstands lässt uns davon träumen, der Mensch sei von Natur aus gut. Das schmeichelt dem eigenen Ich. Das Übel, das es in der Welt gibt, muss dann wohl von bösen Machtstrukturen kommen. Man will nicht glauben, dass jeder Mensch nicht nur zum Grossen, sondern auch zum Niedrigen fähig ist, dass Freiheit bedeutet, jederzeit auch das Böse wählen zu können.
«Im Menschen wohnt die Lust des Tieres und die Lust des Engels, beides zugleich», schrieb der Kirchenlehrer Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert. Das gehörte lange zum spirituellen Kompass des Abendlandes, gerät aber zunehmend in Vergessenheit. Davon zeugt die moralische Verwirrung unserer Tage.
Universale Menschenrechte ja, aber der Westen darf diese Werte nicht für allgemeingültig erklären, denn alle Kulturen sind gleichwertig. Freiheit und Wohlstand ja, aber der westliche Kapitalismus muss verschwinden, obwohl alle anderen Modelle mehr Armut produzieren. Der Westen zweifelt an sich selbst, herausgefordert durch totalitäre Systeme wie Russland und China, durch islamistische Judenhasser und postkoloniale Ankläger, die an den eigenen Universitäten und in den eigenen Parlamenten und Medien wirken.
Ihr werdet sein wie Gott
Eine Zivilisation der Freiheit, die nicht mit dem Bösen rechnet, wird offensichtlich nicht besser oder freier, sondern verliert nur die Fähigkeit, das Böse zu erkennen. Das Böse als Zerstörung der Freiheit, als Lebensfeindlichkeit, das sich ausbreitet wie ein Virus und die kulturelle Resilienz schwächt.
Umso wichtiger wäre es, über das Böse zu reden. Aber das wirkt reaktionär im Mainstream eines Relativismus, der universale moralische Prinzipien leugnet. Dort, wo das Böse noch eine Rolle spielt, im Kino oder in einer Netflix-Serie, wirkt es oberflächlich. Der Mord aus Fanatismus, der dunkle Keller des Serienkillers, die Machtzirkel geheimer Satanisten: Was hier als böse präsentiert wird, ist überzeichnet finster und abscheulich.
Im wahren Leben sucht das Böse allerdings den Applaus der grossen Bühne. Es wirkt nicht abstossend, sondern attraktiv. Es verspricht ein besseres Selbst, ein schöneres Leben. Das Gegenteil dessen, was es bringt. Das hat die klassische Literatur noch gewusst. Wie die Schlange im Garten Eden dem Menschen verspricht, selber wie Gott sein zu können, so verspricht Mephisto in Goethes «Faust» ein Wissen, das ins Göttliche emporhebt.
Bei Dostojewski träumen die nihilistischen Revolutionäre vom neuen Menschen ohne die Fesseln der alten Moral, deren Sprengung ein paar Opfer kostet und schliesslich Krieg. In Wladimir S. Solowjows «Kurzer Erzählung vom Antichrist» tritt der Satan als Humanist auf. Er gibt vor, die Nationen und Religionen zusammenzuführen, um ein vereintes Europa zu schaffen, mit ihm, Satan, als Präsident, dem die Völker zujubeln.
Die grossen Versuchungen
Vater der Lüge: Das ist im christlichen Denken ein Name Satans. Beschrieben wird er als Durcheinanderbringer der Seele, als Schmeichler des Egos, der die Menschen in die Irre führt. In den Krieg gegen menschliche Grenzen, verkauft als Befreiung. In die Einsamkeit, verkauft als Autonomie.
Der Mensch soll die Illusion nicht durchschauen. Er soll nicht merken, dass der Weg von der Steinschleuder zur Megabombe, vom Rauchzeichen zum Smartphone ein technischer Fortschritt sein mag, aber kein kultureller oder moralischer. Dass Hightech-Medizin auch zum Töten taugt und die cleverste digitale Zivilisation ihr menschliches Gesicht verliert, wenn sie nicht mehr erkennt, wie das Böse die Standards des Humanen herabsetzt. Wie die Gesellschaft kälter wird und schliesslich gnadenlos: zum Nährboden für Entfremdung, Hass und Gewalt.
Es ist wichtig, zu betonen, dass die Rede vom Bösen keine Rechtfertigung für Verbrecher ist, die den Teufel für ihre Taten verantwortlich machen. Das Christentum versteht die menschliche Freiheit als bedingte Freiheit. Sie steht unter dem Einfluss von Natur, Umwelt und verschiedenen Mächten, aber so, dass stets Freiräume des Entscheidens, des Handelns und des Verantwortens bleiben.
Richtig verstanden, ist die Rede vom Bösen eine Hilfe, um die Versuchungen zu erkennen, denen der Mensch ausgesetzt ist. Eine seelische Orientierung, die wachsam und bescheiden machen soll, selbstkritisch und dadurch selbstbewusst, nüchtern und dadurch charakterfest.
Die Tatsache, die immer vorhanden bleibt
Herrschen stattdessen Ignoranz und Gleichgültigkeit, wird der Mensch schwach. Es überwiegt das ängstliche Mitgehen mit der Herde, das Schönreden und Wegschauen: eine nützliche Grundlage für Schreckensherrschaften. Die Geschichte lehrt, dass die schweigende Mehrheit dem Bösen aus Feigheit und Bequemlichkeit oft mehr Raum gibt als der Extremismus verstreuter Minderheiten.
Die Wiederentdeckung des jüdisch-christlichen Realismus könnte die Kräfte zum Guten mobilisieren, auch bei jungen Menschen, die im Vergnügungspark der Gegenwart nach Tiefe und Sinn suchen. Eine Tiefe, zu der die Erfahrung gehört, dass Freiheit und Güte nicht selbstverständlich sind, dass man ihnen Sorge tragen muss. Und dass der Mensch nicht von Natur aus gut ist. Er kann viel Leid in die Welt bringen, aber auch viel Liebe. Mit den Worten des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt: «Die Liebe ist ein Wunder, das immer wieder möglich ist, das Böse eine Tatsache, die immer vorhanden bleibt.»
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.