Boeing war einst der grösste Flugzeughersteller der Welt. Dann kam die Profitgier. Und heute gibt es massive Probleme mit der Flugsicherheit der Boeing 737 Max. Wie das geschehen konnte.
Wer in Downtown Seattle am berühmten Pike Place Market in einen Linienbus steigt, kann in weniger als 30 Minuten zur Keimzelle von Boeing in den Stadtteil South Park fahren. Hinter Verwaltungsgebäuden und Werkshallen des Flugzeugherstellers schlängelt sich der schmale Duwamish River. Hier stand seit 1909 ein roter Holzschuppen, in diesem «Red Barn» arbeitete zunächst eine Schiffswerft, 1917 wurde diese übernommen von William Boeing, der sie für seine Boeing Airplane Company nutzte.
Das vom Sohn des deutschen Auswanderers Wilhelm Böing gegründete Unternehmen wurde später ein Weltkonzern und war bereits im Ersten Weltkrieg einer der wichtigsten Flugzeughersteller der Welt. Boeing galt immer als Ingenieur-getriebene Firma, die im Laufe ihrer über hundertjährigen Geschichte viele ikonische Flugzeug-Designs hervorbrachte und für die Verbindung zwischen Menschen und Kontinenten sorgte wie keine andere.
Die grosse Zeit von Boeing im Luftverkehr begann 1958 mit der Einführung des ersten Langstreckenjets Boeing 707, dem 1970 der gigantische Jumbo-Jet folgte; die 747 wurde bis 2023 produziert. Gleich hier am East Marginal Way sind im Museum of Flight die Prototypen der 727, 737, 747 und 787 ausgestellt, alles Welterfolge, die Boeings Siegeszug bei Passagierflugzeugen zementierten. Sogar das Originalgebäude des «Red Barn» steht jetzt hier.
Hinter dem Museum liegt Boeing Field, der Flughafen, von dem alle 737 Max an Kunden ausgeliefert werden und auch Flugerprobungen stattfinden. Ted Huetter, der PR-Mann des Museums, liebt den Ausblick aus seinem Bürofenster auf die Piste und die am nördlichen Ende aufragende Skyline der Stadt. Doch was er sieht und gern auf sozialen Netzwerken teilt, ist kein gutes Zeichen für die gegenwärtige Lage bei Boeing.
«Es ist grossartig, die riesige 777X von hier aus zu Testflügen starten zu sehen – aber eigentlich sollte sie seit vier Jahren bei Kunden in aller Welt im Liniendienst stehen», sagt Huetter. Manchmal mehrfach täglich rollt das grösste derzeit produzierte Verkehrsflugzeug Boeing 777-9 an ihm vorbei mit seinen typischen ausklappbaren Flügelspitzen. Emirates, einer der Erstkunden des Typs, wollte es eigentlich schon im Juni 2020 in Betrieb nehmen. Immer neue Pannen und Verzögerungen bei der Zulassung verhinderten das.
Mehr als 100 blockierte 737 Max
Die Airline aus Dubai hofft ebenso wie die Lufthansa dringend darauf, dass die zuletzt gemachten Versprechungen erster Lieferungen vor Ende 2025 nun endlich eingehalten werden. Und Ted Huetter braucht nur den East Marginal Way vor dem Museum zu überqueren und ein wenig nach Norden zu laufen, dann offenbart sich das nächste Boeing-Dilemma. Auf einem vormaligen Mitarbeiterparkplatz stehen seit 2019 etliche neue Flugzeuge weitab des Flugfelds. Damals wurde weltweit die 737 Max nach den zwei Abstürzen gegroundet, hastig mussten überall Abstellplätze gefunden werden.
Jetzt parkieren hier vor allem 737-Max-Jets für chinesische Kunden – seit dreieinhalb Jahren weigert sich das Land, bestellte Maschinen abzunehmen, 121 von derzeit noch 185 an verschiedenen Plätzen abgestellte Max warten auf die Überführung nach China. Nach den jüngsten Ereignissen, prophezeien Insider, würden vermutlich bald wieder mehr Max auf Halde stehen.
Seit dem verstörenden Zwischenfall, bei dem am 5. Januar ein fehlerhaft verankertes Rumpfsegment einer nagelneuen Alaska Airlines 737 Max 9 im Fluge herausgerissen wurde und nur durch viel Glück niemand zu Schaden kam, stehen Boeings Qualitätsprobleme für Publikum, Airlines und Luftfahrtaufseher wieder ganz oben auf der Agenda.
Dabei waren gravierende Defizite auch bis in die Wochen zuvor durch Aufdeckung immer neuer Fehler an Boeing-Flugzeugen ständig und seit Jahren systematisch sichtbar, auch wenn sie zwischendurch oft nur in der Fachwelt ein Thema waren. Problematisch ist auch der Umgang der Firma damit in der Öffentlichkeit. «Boeings Kommunikationsstrategie, wenn man sie überhaupt so nennen kann, war die letzten vier Jahre nichts anderes als ein Desaster», sagt Dominic Gates, Investigativreporter der Lokalzeitung «Seattle Times».
Jetzt allerdings blieb CEO Dave Calhoun nichts anderes übrig, als sich öffentlich hinzustellen und zu sagen: «Wir müssen Fehler eingestehen.» Sichtlich bewegt, stellenweise anscheinend den Tränen nah, zeigte er sich sehr betroffen. «Das waren sehr erschreckende Umstände, die mich bis auf die Knochen erschüttert haben», so Calhoun zu Mitarbeitern angesichts der Vorstellung, was hätte passieren können.
Der Boeing-Chef, dessen stets eiskalt auftretender Vorgänger Dennis Muilenburg nie Empathie zeigte und auch deswegen über die Max-Krise stolperte, versprach «100 Prozent Transparenz» bei der Aufklärung. Und prägte gleichzeitig den euphemistischen Begriff «quality escapes» für die gegenwärtig in grosser Zahl entdeckten Mängel an neuen Boeing-Jets, deren unzureichende Komponenten den Qualitätskontrolleuren folglich «entflohen» seien. Doch spätestens jetzt fragt sich auch die breite Öffentlichkeit: Wie konnte es bei Boeing, früher bekannt für die Genialität der Ingenieure, so weit kommen?
Die 787 war um acht Jahre verspätet
Einer, der es wissen muss, ist Dominic Gates. Er berichtet seit 2003 über die Firma und gewann 2023 mit seinen Enthüllungen zur Max-Krise den Pulitzerpreis. «Ein grosser Kulturwechsel bei Boeing begann vor 25 Jahren nach der Übernahme von McDonnell Douglas», erklärt Gates der NZZ. «Deren Chef Harry Stonecipher wurde dann einer der Boeing-Chefs und erklärte den Mitarbeitern, die sich bis dahin immer als grosse Familie gesehen hätten, sie seien keine Familie, sondern ein Team. Und dass Boeing profitorientiert sei, und wenn man nicht profitabel wäre, seien ihre Jobs in Gefahr.»
Plötzlich spielten nicht mehr Ingenieurbelange die Hauptrolle, sondern Aktienkurs und Shareholder Value. Sinnbild dieses dramatischen Wandels war 2001 der Umzug der Hauptverwaltung von Seattle, wo weiterhin die meisten Mitarbeiter agierten, in ein gläsernes Hochhaus in Downtown Chicago, näher zur Wall Street. Das Vorhaben ging schief, das Hauptquartier stand meistens fast leer, während in Seattle die Dinge aus dem Ruder liefen. 2022 dann der erneute Umzug des Firmensitzes, diesmal nach Arlington bei Washington DC, ganz in der Nähe des Pentagons, was auch als Statement dafür gedacht war, sich enger an die Regierung zu binden.
Die Probleme begannen mit dem ersten Flugzeugtyp, der unter neuer Führung entwickelt wurde. «Als sie die 787 starteten, vergab man wichtige Arbeiten erstmals rund um die Welt an fremde Unternehmen, damit sollten Kosten gespart werden. Am Ende war die 787 acht Jahre verspätet und ein finanzielles Desaster», so Gates. Bis heute leidet die 787-Produktion unter anhaltenden Problemen, 2022 wurde daher die Auslieferung für fast ein Jahr ganz gestoppt.
«Unglücklicherweise spielten finanzielle Aspekte jetzt eine vorrangige Rolle, und der Start des kostengünstigen Max-Programms erfolgte in dieser Form auch wieder aus finanziellen Gründen», erklärt Boeing-Experte Gates. Die Boeing 737 flog erstmals 1968 im Liniendienst bei Lufthansa. Bis zur 737 Max wurde sie in endlosen Abwandlungen weiterentwickelt, das Basiskonzept aber blieb das alte. Noch 2011 wollte Boeing endlich den Forderungen der Airlines nachkommen und tatsächlich ein neues Flugzeug entwickeln, was extrem teuer ist.
Doch dann schnappte sich Airbus einen Mega-Auftrag des bisherigen Boeing-Kunden American Airlines und verkaufte der Gesellschaft hundert ihrer neuen A320 neo. Auch nichts anderes als die seit 1988 bewährte A320, aber mit neuen, effizienten Triebwerken. Die wollte Boeing nun eilig auch unter ihre alte 737 hängen, um schneller gegenhalten zu können im Wettbewerb. Eigentlich war das gar nicht möglich, die Tragflächen befanden sich zu nahe am Boden, aber das hielt Boeing nicht ab. Man verlängerte das Fahrwerk und hängte die Motoren vor die Flügel statt darunter.
Die aerodynamischen Probleme bei der Flugsteuerung wollte man mit der berüchtigten MCAS-Software eliminieren, von der man den Piloten lieber nichts erzählte. Denn dann hätte man sie extra im Simulator trainieren müssen, und das war den Airlines zu teuer. Boeing hatte ihrem wichtigsten Kunden Southwest Airlines sogar eine Million Dollar Nachlass pro Flugzeug versprochen, wenn doch Training nötig wäre. Der Versuch kostete 346 Menschen das Leben, Boeing die Reputation und Unternehmen wie Shareholder sehr viel Geld. Nach dem Alaska-Airlines-Zwischenfall verlor Boeing zwölf Milliarden US-Dollar an Marktwert. In den letzten fünf Jahren hat die Boeing-Aktie über 20 Prozent ihres Werts eingebüsst, zuletzt erlitt sie angesichts der Meldungen erhebliche Einbrüche.
Wachsender Druck auf die Zulieferer
Und die Probleme sind bis heute nicht überwunden, Qualitätsmängel bei allen Modellen halten an. Der durch den Alaska-Airlines-Fall in Verdacht geratene Zulieferer Spirit AeroSystems in Kansas war bis 2005 selbst Teil des Boeing-Konzerns in Wichita, Kansas, und wurde dann verkauft. Und beliefert heute auch Airbus. «Spirit ist für uns ein wichtiger Zulieferer, wir schauen sorgfältig, was man aus dem jüngsten Fall für Schlüsse ziehen muss, und erwarten, dass Spirit das auch tut», sagte Airbus-Chef Guillaume Faury Mitte Januar.
Tatsache ist, dass beide grossen Flugzeughersteller auf riesigen Auftragspolstern sitzen, Boeing hat zurzeit 5626 noch zu erfüllende Aufträge abzuarbeiten, etwas weniger als zuvor, während Airbus mit 8600 Orders einen absoluten Rekord-Auftragsbestand verzeichnet.
Wer jetzt bestellt, erhält kleinere Flugzeuge wie die 737 Max und A320 neo erst zum Ende des Jahrzehnts geliefert. Grossraumflugzeuge verspricht zumindest Airbus bei sofortiger Bestellung bis 2028. Beide Hersteller weiten derzeit die Produktion vor allem bei ihren Bestsellern A320 (von 44 auf 75 im Monat) und 737 Max (von 38 auf 50) massiv aus und üben daher bei Liefermenge und Preis starken Druck auf die Zulieferer aus.
Aus Personalmangel und manchmal aufgrund von Stockungen bei eigenen Lieferketten kommen die Partner aber oft nicht nach – was auch bei Spirit im gegenwärtigen Fall der herausgefallenen Tür geprüft wird. Genauso fragt sich, warum Boeing keine ausreichenden Kontrollen der angelieferten Komponenten schafft. Eine Antwort: Auch Boeings Standards leiden unter der Unerfahrenheit noch vieler Mitarbeiter, nachdem zahlreiche alte Hasen dem Unternehmen nach Corona endgültig den Rücken gekehrt haben.
«Solche Probleme wie bei Boeing habe ich bei Airbus nicht in gleichem Mass erlebt, vielleicht weil die europäischen Regierungen Airbus so starker Kontrolle unterziehen», sagt Sir Tim Clark, als Chef von Emirates Airlines aus Dubai seit vielen Jahren einer der wichtigsten Kunden beider Hersteller. «Die Wurzel des Problems bei Boeing ist die Abweichung im Geschäftsmodell von der Zeit, als Qualitäts- und Ingenieurexzellenz im Vordergrund standen. Das ist leider abgelöst worden von einer Fokussierung auf Marktanteile, Profite, Cashflow, Dividenden und Bonuszahlungen. Ich habe diesen Trend bereits seit den neunziger Jahren beobachtet», so Clark zur NZZ.
Die Frage, die sich jetzt stellt, ist, ob die derzeitigen Ereignisse die noch anstehenden Zulassungen verschiedener Boeing-Typen weiter verzögern. «Die Luftfahrtbehörde FAA schaut jetzt sehr genau hin, und ich bin froh, das zu sehen», sagt Reporter Dominic Gates, denn in der Max-Saga machte die FAA zunächst gemeinsame Sache mit Boeing, was später vom US-Kongress detailliert seziert wurde und woraus Änderungen resultierten.
Die New Yorker Analysten von Bernstein meinen bereits warnend: «Die gründlicheren Überprüfungen der FAA könnten zu weiteren Verzögerungen der Zulassung von 737 Max 7, 737 Max 10 und 777X führen.» Das wäre nicht nur für Sir Tim Clark von Emirates eine überaus schlechte Nachricht. Oder für die Lufthansa-Gruppe mit ihrer 777X-Bestellung, nachdem sie kürzlich erstmals seit über drei Jahrzehnten wieder kleine Boeings geordert und 40 Exemplare der 737 Max 8 bestellt hat.
Boeing hatte bereits mehrfach Druck auf die Regierung in Washington ausgeübt, verschiedene Max-Versionen durchzuwinken, auch wenn ihre Zertifizierung gegen zuvor gültige Verordnungen verstiess. Die Drohung mit der Einstellung einzelner Varianten und einem Wettbewerbsnachteil für den US-Hersteller zeigte Wirkung. «Es geht bei der Max 7 und der Max 10 um wirklich sicherheitsrelevante Aspekte», sagt Dominic Gates.
«Ich denke, sie werden wieder eine Ausnahmegenehmigung bekommen. Aber das hiesse, die FAA würde Flugzeuge mit einem bekannten Sicherheitsproblem genehmigen. Das gab es noch nie.» Ob sie sich das derzeit überhaupt noch leisten kann?