Am 2. November könnte Porsche bei der Langstrecken-Weltmeisterschaft den Titel holen. Der Bündner Urs Kuratle leitet die Geschicke des Teams und erklärt die Gründe für die Rückkehr zur Erfolgsstrasse im für das Schicksal des Autobauers wichtigen Motorsport.
Der aus Graubünden stammende, 56-jährige Urs Kuratle begann seine Karriere 1989 als Mechaniker beim Schweizer Sauber-Team. Damals dominierte das Hinwiler Team die Langstrecken-Weltmeisterschaften mit seinen Silberpfeilen und Mercedes-Motoren. Höhepunkt war ein Doppelsieg beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans.
In der Formel 1 stieg Kuratle zum Chefmechaniker bei Sauber auf. Nach neunzehn Jahren beim Hinwiler Team machte er 2008 sein Hobby zum Beruf und wanderte nach Kanada aus, wo er als Helikopterpilot arbeitete. Wenige Jahre später kehrte er zu Sauber in die Schweiz zurück. Über Kontakte zu BMW wechselte er 2013 zum Rennsportteam von Porsche und begann aufgrund seiner Erfahrung in der Abteilung für Langstreckenrennen.
Das Projekt, mit dem Porsche 919 aus dem Nichts ein neues Hybrid-Rennauto aufzubauen, um damit die 24 Stunden von Le Mans zu gewinnen, reizte Kuratle. Zunächst war Kuratle für die Einsatz- und Transportlogistik auf den Rennstrecken in aller Welt verantwortlich.
Urs Kuratle, hat Porsche sich das Know-how für Le-Mans-Siege quasi im Paket bei Ihnen eingekauft?
Wenn man weiss, wie eine Teilnahme an 24-Stunden-Rennen professionell ablaufen sollte, hat man enorme Vorteile. Angefangen bei den nötigen Materialien für die Boxen, die Ersatzteile bis hin zu den Einsatzplänen war ich bereits mit dem Thema vertraut. Ich hatte ein gutes Team dazu, es waren in voller Grösse bis zu 250 Personen.
Bei Sauber waren es weniger als 50 Personen. Stiessen Sie bei Porsche in neue Dimensionen vor?
Ein Team von null auf hundert so aufzubauen, war eine äusserst interessante Aufgabe, wenn auch eine sehr fordernde. Wir hatten täglich eine Vielzahl von Bewerbungsgesprächen, und man lernt selbst sehr viel dazu.
Wie sah es auf der technischen Seite aus? Wann entstand der später so erfolgreiche Rennwagen 919?
Das Auto wurde zu einem sehr frühen Zeitpunkt zusammengebaut. Bereits im Juni 2013 war es auf der Teststrecke in Weissach bei Stuttgart unterwegs. Da haben wir das erste Mal gesehen, wie Welten aufeinanderprallten. Auf der einen Seite war das Porsche-Werk mit einer funktionierenden und erfahrenen Rennsportabteilung, auf der anderen Seite das neue Einsatzteam für den 919, das kaum Erfahrung mitbrachte. Da sind wir zunächst an Grenzen gestossen.
Wann kamen die ersten Renneinsätze mit dem neuen Fahrzeug?
Wir sind 2014 erstmals in Rennen mitgefahren, haben dabei viel Lehrgeld gezahlt und nur ein Rennen gewonnen. Das Auto war technisch sehr komplex. Alle Komponenten wurden bei Porsche im Werk entwickelt, das machte die Sache nicht einfacher.
Aber es gelang Ihnen, rasch aus gemachten Fehlern zu lernen.
Ab 2015 kamen die gewünschten Erfolge. Wir hatten bei dem einen oder anderen Rennen auch Glück, aber das ist Teil des Rennbetriebs. Besonders erfreulich war es, zu beobachten, wie das so rasch aufgebaute Team zu funktionieren begann. Die Erfolge mit den Siegen in Le Mans 2015, 2016, 2017 und den drei Weltmeistertiteln in Folge waren die Belohnung für die Aufbauarbeit.
Damit war das Ziel erreicht, der 919 durfte bereits in Pension gehen. War Ihre Arbeit damit beendet?
Es gab anschliessend eine Reihe interessanter Projekte, etwa auch die mögliche Entwicklung eines Formel-1-Motors mit Red Bull. Dieses kam aus unterschiedlichen Gründen letztlich nicht zustande, aber wir haben 2018 den Langstreckenwagen 919 Hybrid als Evo weiterentwickelt, damit er noch Rekordrunden fahren konnte, etwa auf der Nürburgring-Nordschleife.
Der Rennsport ist traditionell bei Porsche Teil der Markenwerte. War das Ziel dieser Annäherung des Motorsports an die Porsche-Serienproduktion, das Neuwagengeschäft noch stärker anzukurbeln?
Möglicherweise. Aber solch verrückte und am Ende sehr erfolgreiche Projekte auf die Beine zu stellen, ist eigentlich nur bei Porsche möglich.
War das Thema Langstreckensport bei Porsche damit ad acta gelegt?
Keineswegs. Wir wollten den Motorsport technisch weiterentwickeln und beteiligten uns intensiv an der Entstehung eines neuen Reglements mit hybridgetriebenen Rennwagen, sogenannten LMDh, in Nordamerika oder Hypercars in der Weltmeisterschaft. Ich war da persönlich weniger involviert, aber 2022 stiess ich zu dem LMDh-Projekt mit dem neuen Rennauto Porsche 963.
Sie sind seither der Leiter dieses Projektes und tragen die Gesamtverantwortung für die Einsätze des 963 in aller Welt. Was wurde anders?
Es gab neue Herausforderungen. Wir arbeiten als Team mit dem amerikanischen Rennsportunternehmen Penske zusammen. Um uns für die FIA WEC und die nordamerikanische IMSA-Serie richtig aufstellen zu können, haben wir ein Porsche-Penske-Rennteam in Nordamerika und eines in Deutschland aufgebaut. Ich pendele daher oft zwischen meinem Büro in Weissach, dem deutschen Einsatzteam in Mannheim und dem amerikanischen in Mooresville (North Carolina).
Warum ist das deutsche Team nicht bei Porsche in Weissach angesiedelt?
Es ist wichtig, dass das Einsatzteam vom Werk getrennt in Ruhe arbeiten und zusammenwachsen kann. Dort sind drei 963, das ganze Engineering, Material und der Fahrzeugaufbau angesiedelt. Eines der Fahrzeuge ist für den Einsatz in den USA vorgesehen, weitere stehen in Mooresville. Dort hat Penske Racing seinen Hauptsitz, und von dort werden auch die Penske-Einsätze in den Nascar- und Indycar-Serien betreut.
Sind auch in den USA unerfahrene neue Mitarbeiter im Einsatz?
Das 963-Team ist dort zwar neu, aber es sind viele Personen dabei, die aus der Formelserie Indycar und den Nascar-Tourenwagenrennen Erfahrung mitbringen.
Wie verlief der Neubeginn mit dem Porsche 963?
Mit den beiden Teams brachten wir die Fahrzeuge ab 2023 an den Start. Die Fahrzeugentwicklung fand und findet in Weissach statt. Dort werden auch alle Prüfstandarbeiten und Simulatorentests erledigt. Das Team in Mannheim bestreitet die Weltmeisterschaftseinsätze in engem Kontakt mit Weissach. Auch das Mooresville-Team steht für die Rennen in den USA in enger Verbindung mit der Rennsportabteilung in Stuttgart. Nur wenige Personen bestreiten beide Serien, darunter auch ich.
Gibt es keine Terminkollisionen bei elf Veranstaltungen in Nordamerika und acht in der WM?
Dieses Jahr gab es zwei Überschneidungen, nächstes Jahr noch eine. Wenn das passiert, ist die Weissacher Truppe besonders gefordert. Wir haben dort einen Einsatzraum mit vierzehn Personen, von dem aus wir die Teams an der Rennstrecke unterstützen. Diese Ingenieure sind unser Backbone, unser Rückgrat. Aber wenn ein Rennen in Kalifornien und ein anderes im Nahen Osten stattfindet, wird es schwierig mit den Zeitzonen.
Es gibt weitere Porsche 963 bei privaten Teams. Werden die vom Werk ebenfalls unterstützt?
Der gesamte Kundensportbereich ist bei mir angesiedelt. Es gibt derzeit drei Kundenautos in der WM, weitere in den USA. Wir mussten ab 2022 gleichzeitig die Werksteams aufbauen und den Aufbau der Kundenteams unterstützen. Das war eine besondere Herausforderung.
Lässt sich mit dem Kundensport der Werkseinsatz querfinanzieren?
Das ist Teil des Geschäftsmodells. Über Zahlen spricht Porsche nicht, aber es ist dem Werk wichtig, dass es auch Kundenteams gibt. Fällt einmal ein Werksauto aus, kann ein Kunden-Porsche 963 in die Bresche springen.
Gibt es da keine Konflikte zwischen Werk und Kunden?
Manchmal kämpfen Kundenautos und Werkswagen gegeneinander um den Sieg. Dann wird meine Rolle etwas schwieriger. Aber genau diese Art der internen Konkurrenz begrüsst Porsche ausdrücklich. Wir können mit dieser Doppelspurigkeit umgehen. Das gilt auch für die Ersatzteillogistik, es werden nach Möglichkeit alle gleich behandelt.
In der amerikanischen Imsa-Serie hat der Porsche 963 dieses Jahr alle neun Titel gewonnen, in der Weltmeisterschaft sind die Chancen auf höchste Titelehren bei Fahrern, Teams und Herstellern ebenfalls gross. Was folgt nach einem solch überlegenen Gewinn des 963 als Nächstes?
Die Homologation des 963 ist von der Motorsportbehörde um zwei Jahre verlängert worden und endet erst 2029. Bisher war unsere Planung bis 2027 ausgelegt. Der Vorstand wird nun entscheiden müssen, ob wir unser Projekt ebenfalls bis 2029 weiterführen. Gleiches gilt für die Kundenteams.
Das ergäbe eine im Rennsport ungewöhnlich hohe Planungssicherheit.
Das kommt auf die Sichtweise an. Bei einem Autohersteller kann sich die Strategie je nach Marktsituation sehr unterschiedlich entwickeln. Das Projekt mit dem 919 dauerte nur vier Jahre. Ausserdem muss sich erst erweisen, in welche Richtung sich die Mobilität generell technisch entwickelt. Das wirkt sich auch auf die Motorsportstrategie bei Porsche aus.