Moll-Akkorde fluten die Hitparade, triste Zeilen gleiten aus den Boxen. Welche Trauer drückt sich hier aus?
Rob ist Mitte 30, wohnt in London und führt einen Plattenladen. Als die Freundin ihn verlässt, weil ihr seine ewige Adoleszenz auf die Nerven geht, verfällt er dem Selbstmitleid. Nur die Musik kann ihm helfen, sein Elend zu ertragen. Weil sie so elend klingt, wie er sich fühlt. Elende Musik für elende Zustände.
Und Rob fragt sich: «What came first, the music or the misery?» Was kam zuerst, die Musik oder das Elend? Und vor allem: «Höre ich Musik, weil ich mich so schlecht fühle? Oder fühle ich mich so schlecht, weil ich Musik höre?» Eltern würden sich dauernd über die Gewalt sorgen, die ihren Kindern drohe, sagt er. «Aber es kümmert sie kein bisschen, dass die Kinder sich Tausende von Liedern über gebrochene Herzen, Zurückweisung, Schmerz, Depression und Verlust anhören.»
Tendenz zunehmend
Rob ist der Erzähler von «High Fidelity», Nick Hornbys Kultroman der neunziger Jahre über die Unfähigkeit von Männern, Gefühle zu zeigen, und ihren Hang, diese stattdessen in die Pop-Musik zu exportieren. Das Buch geriet zum Millionenerfolg und wurde vier Jahre später von Stephen Frears mit John Cusack in der Hauptrolle verfilmt, der am Drehbuch mitschrieb. Der Roman erklärt, welche Rolle traurige Musik für uns spielt.
Wie sich immer deutlicher zeigt, war Hornbys Erkenntnis nicht nur treffend, sondern auch hellsichtig. Denn nicht nur hören wir traurige Musik, weil wir uns traurig fühlen, und fühlen uns traurig, weil wir traurige Musik hören. Sondern die Tendenz zum Tristen nimmt zu. Das legen Studien, Statistiken, Vergleiche und Algorithmen nahe.
«Sad songs say so much», sang Elton John 1984 nach einem Text von Bernie Taupin. Der Titel passte zum Sänger. Denn Elton befand sich damals, wie er später in seiner Autobiografie bekannte, auf dem Höhepunkt seiner Kokainsucht.
«Sad songs say so much», traurige Lieder sagen so viel aus. Traurige Lieder sprechen zu allen. Und es werden der Unglücklichen immer mehr. So zeigt eine Auswertung der «Billboard Top Hundred», der wichtigsten amerikanischen Hitparade und damit der wichtigsten Hitparade der westlichen Welt, dass sich das Tempo der meistgehörten Songs seit der Jahrtausendwende verlangsamt hat. Zu diesem Schluss kommt der Jazzmusiker und Autor Ted Gioia im Fachblatt «Journal of Musical Things» und bilanziert lakonisch: «Pop music is getting sadder and more depressing.»
Der Befund klingt insofern ungewöhnlich, als die Hitparade ihrem Wesen nach die gute Laune feiert, das Jungsein und Aufgestelltsein und Freundin-im-Arm-Wiegen und Fahrtwind-im-Haar-Haben. Sehnsucht in den Strophen, Erfüllung im Refrain. Langsamkeit dagegen ist ein Synonym für Traurigkeit. Es kommt einem vor, als würden die Songs der letzten Jahre in die Charts hineinregnen.
Ärger und Angst in den Texten
Andere Studien bestätigen die Tendenz. So untersuchte der Datenanalyst Lior Shamir von der Technical University in Kansas die Lyrics von über 6000 Billboard-Singles zwischen 1951 und 2016. Er fand heraus, dass der Ausdruck von Gefühlen wie Ärger, Angst oder Abscheu sich innert dieser Zeit verdoppelt hat.
Auch Songs über Trauer haben seit den achtziger Jahren zugenommen. Die kalifornische Mathematikerin Natalia Komarova liess mit dem Datenprogramm «Acoustic Brainz» Tonart und Tempo von gegen 500 000 Songs analysieren. Und kam zum selben Resultat wie ihre Kolleginnen und Kollegen anderer Universitäten, etwa jene der Freien Universität Berlin, die ebenfalls Studien zum Thema erstellten. Gemeinsamer Befund: Die Musik, die wir am liebsten hören, klingt nicht nur immer trauriger. Sie handelt auch immer häufiger von Trauer oder Zorn.
Mehr noch: Im Vergleich zu den sechziger Jahren, in denen über 80 Prozent der Hits im optimistischen Dur daherkamen, sind heute mehr als die Hälfte im melancholischen Moll gehalten. Und weil die Hitparade den Mehrheitsgeschmack wiedergibt, lässt sich aus ihrer Entwicklung eine Tendenz herauslesen.
Ein dröger Sommer
So kann es nicht erstaunen, dass das Wort «sad» die Suchmaschine von Spotify dominiert, dem beliebten musikalischen Streamingdienst. Seine Betreiber waren vom Hang ihrer Hörerinnen und Hörer zu Playlists wie «Sad and Slow», «Sad, but True» oder «Sad Songs to Cry to When You’re Lonely» dermassen angetan, dass sie im Herbst eine Kollektion mit dem Namen «Bummer Summer» veröffentlichten. Der Name der Liste lässt sich mit «dröger Sommer» übersetzen, die Liste selbst enthält fünfzig Lieder, die das Traurigsein vertonen. Von Bright Eyes bis Radiohead, von Kings of Leon bis The National.
Was sind das für Sängerinnen und Sänger, die solche Songs schreiben? Es sind Melancholikerinnen wie die 23-jährige Billie Eilish aus Los Angeles, eine bleiche Frau mit Neigung zu morbiden Themen. Sie besingt ein durchgängiges Gefühl der Entfremdung und vermittelt den Eindruck, nur Mieterin ihres eigenen Körpers zu sein. «Happier Than Ever» nannte sie ihr zweites Album, aber das war natürlich als beissende Selbstironie formuliert, klang das Album doch noch düsterer, verschleppter und langsamer als das erste.
Elvis im «Heartbreak Hotel»
Man hört diese Trauer bei vielen anderen Songwritern, von Bon Iver bis Taylor Swift, Adele bis Lana Del Rey, James Blake oder Mark Everett. Nun ist trauriger Pop, dieses seltsame Oxymoron, keine stilistische Neuigkeit. Neu ist allenfalls, dass er die Trauer bloss noch konstatiert, statt sich dagegen aufzulehnen.
Denn wer in die Geschichte der populären Musik zurückgeht, stösst auf Bands wie die Doors, die Smiths oder Talk Talk. Und auf Songwriter wie Jacques Brel, Randy Newman, Nick Drake, Joni Mitchell, Scott Walker, Nick Cave und natürlich Leonard Cohen, den Gründervater der gesungenen Verzweiflung.
Schon seine erste Platte klang dermassen düster, dass die Plattenfirma CBS sie mit der Frage «Hatten Sie auch schon das Gefühl, mit Ihrem Leben Schluss machen zu wollen?» bewarb. Sogar Elvis Presley, tanzende Verkörperung der Vitalität, gelang der erste Millionenerfolg mit einer Ballade der Einsamkeit: «Heartbreak Hotel».
Neu ist das Traurigsein im Akkord also nicht; es scheint sich bloss immer stärker auszubreiten und ohne die Hoffnung auf Veränderung zu verklingen. Woran liegt das? Was sagt es über unsere Zeit aus, über unser Befinden, über unsere Befürchtungen? Keine Kunstform spielt Gefühle so stark zurück wie die Musik, weder die Malerei noch das Kino und nicht einmal das Theater und die Literatur, jedenfalls nicht in dieser Intensität. «Es kommt selten vor», sagt die amerikanische Performance-Künstlerin Laurie Anderson, «dass wir in einem Museum in Tränen ausbrechen.»
Die traurige Generation
Für Soziologinnen, Psychologen und die Autoren der zitierten Studien ist klar: Die Melancholie in der Musik vertont die Gefühle der sogenannten Generation Z. Das sind die um die Jahrtausendwende Geborenen, ihrer Sensibilität wegen auch die Schneeflocken-Generation genannt. Ihnen kann kein Akkord zu verschattet, keine Klage zu gross klingen. Diese Grundmelancholie verbindet sich mit narzisstischen Anforderungen an die Umwelt und einem hohen moralischen Selbstverständnis. Traurige Pop-Musik ist dann ihr Gospel ohne Kirche.
Das alles mag einem überempfindlich vorkommen, aber zum Traurigsein und Angstbekommen hat diese Generation offenbar allen Anlass. Im Vergleich zu den Sechzigern, die in den USA trotz Vietnamkrieg, politischen Morden und Rassengewalt ein Jahrzehnt der gesellschaftlichen Befreiung waren, lasten die Aussichtslosigkeit der Gegenwart und die Hoffnungslosigkeit der Zukunft schwer auf den Nachgeborenen. Sie werden eine der ersten Generationen sein, denen es schlechter gehen wird als ihren Vorgängern.
Wir hören gar nicht zu
Nur Donald Trump und seine Fans können noch ernsthaft bezweifeln, dass uns zivilisatorische, politische und ökologische Katastrophen in einem nicht auszudenkenden Ausmass drohen. Es scheint immer schneller immer schlimmer zu werden. Hoffnungsarme Zeiten rufen nach düsteren Liedern, denn diese helfen, das Traurigsein besser zu ertragen. «There’s comfort in melancholy», singt Joni Mitchell in ihrem Stück «Hejira», Melancholie gibt Trost.
Aber vielleicht ist das zu pauschal gedeutet. Möglicherweise hat die Verdüsterung der populären Musik nicht nur mit Psychologie, Soziologie oder Geschichte zu tun, sondern ist auch ein Kollateralphänomen der Technik. Denn wir hören Musik anders als früher. Während eine neue Platte oder Single in den Sechzigern und Siebzigern verehrt wurde wie eine Hostie, haben sich die Hörgewohnheiten mit den MP3-Geräten, den iPhones und Streamingdiensten wie Spotify verändert. Die neue Ordnungseinheit ist nicht mehr die Platte, sondern die Playlist. Und die kann man gezielt auf die Tageszeit, die Stimmung oder das Wetter ausrichten. Statt wegen einer Platte aufzustehen, lässt man die Playlist laufen.
Und was einfach laufen gelassen wird, sollte idealerweise nicht stören. Stille Musik macht es möglich, ihr nicht wirklich zuzuhören. Und das ist an dieser Musik das Traurigste von allem.