«Mann, ich wünsche mir einen anderen Schluss», sagte der Hollywoodstar, nachdem er fast an Covid gestorben wäre. In seinen Memoiren «Sonny Boy» schreibt Pacino auch über die eigene Drogenabhängigkeit.
Er war schon tot. Zweimal sogar. Das erste Mal war harmlos. Auf Youtube hatte jemand die Nachricht vom Ableben des Hollywoodstars in die Welt gesetzt. Ein «grausiges Gefühl» sei das gewesen, erinnert sich Al Pacino in seinen soeben erschienenen Memoiren «Sonny Boy». «Andererseits bin ich einmal wirklich gestorben.»
Es war 2020, Al Pacino hatte Covid. Hohes Fieber, er war komplett dehydriert. Ein junger Pfleger kam und legte ihm zu Hause eine Infusion. Offenbar ein sehr freundlicher Mann. «Mensch, ich mag den Jungen», dachte Pacino noch. Dann verlor er das Bewusstsein. Und das Nächste, was er sah, waren zwei Ärzte plus sechs Sanitäter, die im Wohnzimmer standen. Alle von Kopf bis Fuss im Schutzanzug, «als kämen sie aus dem Weltall».
Wenn das Ganze eine «Todeserfahrung» war, wie Pacino vermutet, dann war es eine nicht ganz befriedigende: «Nun, ich kehrte wieder, und ich kann Ihnen berichten, dass da draussen nichts war.»
Kein Licht am Ende des Tunnels. Kein Film, der vor dem inneren Auge das Leben im Schnelldurchlauf rekapituliert. Nur «traumloser Schlaf». Pacino weiss nicht so recht, was er davon halten soll. «Irgendwie toll», meint er. Sehr friedlich. «Aber, Mann, ich wünschte mir auf jeden Fall einen anderen Schluss.»
Im Sarg aufwachen
Nächstes Jahr wird Al Pacino 85 Jahre alt. Der Gedanke an das Lebensende beschäftigt den Altstar. Die Autobiografie gerät ihm schliesslich fast zur Ars Moriendi, zur Einübung auf den Tod.
Pacino plagt auch eine gruselige Phantasie: Er stellt sich vor, im Sarg aufzuwachen. Es sei kein Albtraum, betont er. Sondern etwas, was er immer wieder ganz plastisch vor Augen habe. «Vielleicht ist die Einäscherung doch das Richtige.» Er hat noch nicht entschieden.
Ja, je näher das Buch der letzten der knapp 400 Seiten entgegensteuert, desto nachdenklicher wird es. Aber schon davor erzählt der «Sonny Boy», wie die Mutter ihr einziges Kind nannte, aus einem Leben, in dem das Söhnchen gar nicht so oft in der Sonne stand. Sondern eher irrlichternd im Nebel. Um nicht zu sagen: Pacino war benebelt. Die Drogen, der Alkohol auch, waren ihm lange treue Begleiter.
Wenn er zu manchen Stationen in seiner Karriere nicht viel zu sagen hat, liegt es auch daran, dass er zu dicht war, um sich zu erinnern. Beim Dreh von «The Godfather 2» war er meistens zugedröhnt. «Ich bevorzugte einen halbwachen Dämmerzustand.»
Was der Leser davon hat, ist die andere Frage. Pacino palavert unterhaltsam, die grosse Selbsterkenntnis strebt er eher nicht an. Typischer Pacino-Satz: «Objektiv betrachtet, wusste ich nie, was zur Hölle ich eigentlich tat.»
«Scheissangst» vor Marlon Brando
Dies scheint auch für die Liebesbeziehungen in seinem Leben zu gelten, die offensichtlich nie lange hielten. Dass er wohl schwer auszuhalten war in seinem Delirium, kommt ihm nicht in den Sinn. Für ihn stimmte immer alles. «Wir fanden das richtige Tempo, die richtige Temperatur», so bewertet er die Jahre mit Diane Keaton. «Es war viel Liebe zwischen uns», heisst es kurz zur «mondänen» Schweizerin Marthe Keller.
Die Zusammenarbeit mit all den ikonischen Regisseuren oder Schauspielpartnern stellt sich auch bemerkenswert banal dar. Vor einer Begegnung mit Marlon Brando, mit dem er «The Godfather» dreht, drückt der junge Schauspieler sich zunächst. «Im Ernst, das jagte mir eine Scheissangst ein.»
Schliesslich trifft man sich in einem Zimmer des Krankenhauses, in dem man dreht. Brando sitzt auf dem Spitalbett und isst «Pollo Cacciatore mit den Händen». Pacino ist ganz auf die vollgekleckerte Ikone konzentriert. «Er redete – mampf, mampf, mampf, mampf –, und ich war wie hypnotisiert.» Was er wohl anschliessend mit seinen Händen mache, fragt sich Pacino. Irgendwann streicht Brando die Finger einfach an der weissen Krankenhausbettwäsche ab. Der junge Al Pacino ist fasziniert: «Macht man das als Filmstar so?»
«Sonny Boy» beschränkt sich über weite Strecken auf mal mehr, mal weniger witzige Geschichten aus dem Leben des Al Pacino. Gedanken darüber hinaus entwickelt der Star kaum. Sein Blick auf die Welt bleibt aussen vor, gesellschaftliche oder politische Diskurse sind kein Thema, es fehlt an Relevanz. Wieso erzählt er uns das alles?
Keine Lust auf «Star Wars»
Aber gut, warum liest man Memoiren von Stars? Zwei Gründe, die auch hier greifen: Erstens muss der hartgesottene Fan alles wissen. Hätte Pacino wirklich Han Solo in «Star Wars» spielen sollen? Ja, aber er wurde «nicht schlau daraus». Auch die Rolle des Billy the Kid in Sam Peckinpahs «Pat Garrett & Billy the Kid» gehörte eigentlich ihm, doch hatte er plötzlich Zweifel: «Ich steige auf kein Pferd. Die sind zu gross.»
Pacino stellte sich vor, wie er mit Peckinpah in Mexiko sitzt, «und wahrscheinlich sterbe ich an Alkoholvergiftung, weil ich ständig etwas zu trinken um mich habe». Besser nicht, sagte er sich. So hat man nun also schwarz auf weiss, wem Al Pacino alles den Schuh gegeben hat (Bergman, Bertolucci und Fellini sind auch darunter).
Der zweite Grund, warum man sich «Sonny Boy» besorgen mag, ist, dass es einen womöglich wundernimmt, ob der Mensch auf der Leinwand Ähnlichkeit hat mit dem echten Pacino: die klassische «Ist der wirklich so?»-Frage.
Kurze Antwort: Ja, sieht so aus. Vor der Kamera kennen wir Al Pacino als Derwisch. Sein Urzustand ist aufgekratzt. Er tigert gerne von einer Bildhälfte in die andere. Wahrscheinlich gibt es auch keinen Schauspieler, der mehr mit den Händen arbeitet.
Oder mit dem dicken Pinsel. An einer Stelle sagt er: «Darsteller sind wie Maler – verrückte, wilde Maler, die Figuren malen.» Am liebsten malt Al Pacino Fratzen. Fratzen wie die von Tony Montana aus «Scarface»: «Bei Tony Montana bekommt man genau das, was man sieht, und ein kräftiges ‹Leck mich!› dazu.» Pacino mag es deftig und roh.
Montana, aber auch der Bankräuber in «Dog Day Afternoon», der ebenfalls Sonny heisst, oder der New Yorker Polizist Serpico im gleichnamigen Film: Die Figuren, mit denen er sich eingeprägt hat, sind Getriebene – wie er selbst. Al Pacino, sozialisiert in der Bronx, ist die Strassenkatze unter den Superstars. Wenn er philosophiert, klingt das so: «Der Hunger bewegt dich dazu, loszuziehen und zu tun, was auch immer du tust. Es geht nicht nur um die Gesundheit. Es geht um den Hunger.»
Dramatische frühe Jahre
Im Buch fängt er von vorne an. «Meine Mutter ging schon mit mir ins Kino, als ich gerade einmal drei oder vier Jahre alt war.» Es klingt nach einem lüpfigen Einstieg. Doch kaum hat man umgeblättert, wird es dramatisch. Die Eltern trennen sich, da ist er noch ein Baby, in einer desolaten Ecke in der South Bronx wächst der Junge ohne Vater auf. Die Mutter ist eine «schöne Frau, aber verletzlich, mit einem fragilen Gefühlsleben».
Als Al sechs Jahre alt ist, sitzt sie eines Tages weinend in der Küche. Sie bindet dem Kind die Schuhe, dann bedeckt sie es mit Küssen. Er geht raus zum Spielen. Kurz darauf rennen Leute aufgeregt in Richtung des Hauses: «Es ist was mit deiner Mutter.» Vor dem Gebäude, so erinnert er sich, steht ein Krankenwagen, «und in der offenen Haustür erschien meine Mutter auf einer Trage». Sie hatte versucht, sich umzubringen.
Fünfzehn Jahre später ist es dann ein Freund, der zu ihm sagt, dass etwas mit der Mutter passiert sei: «Geh besser mal hin, Mann.» In der Wohnung warten die Grosseltern, «die Augen tränennass». Ob es Selbstmord war, weiss man nicht. Die Mutter ist «auf die gleiche Art wie Tennessee Williams gestorben», so drückt es Pacino aus, «erstickt an den Pillen, die sie erbrochen hatte».
Er hatte sie nicht retten können. Als angehender Schauspieler stellte sich Al Pacino vor, wie er ihr durch seinen Erfolg aus der Verzweiflung heraushelfen würde. «Es hätte sie wachgerüttelt», glaubt er, «dann hätte sie überlebt.»
Es ist nicht der einzige Schicksalsschlag. Die South Bronx ist ein hartes Pflaster. Pacchi, wie sie ihn in seiner Clique nennen – manchmal auch Pistacchio, weil er Pistazieneis mag –, treibt sich auf der Strasse herum. Mit seinen besten Freunden Cliffy, Bruce und Petey fühlt er sich stark. «Wir waren die Obermacker.» Zum Abhängen steigen sie auf die Hausdächer, «auch weil sie uns Fluchtwege boten, falls wir verfolgt wurden». Die Jungs liefern sich Jagden mit anderen Banden, sie springen hinten auf fahrende Busse auf.
Die Freunde sterben an Drogen
Heute erinnert sich Pacino an das Gefühl von Freiheit. An die Liebe, welche die Freunde füreinander empfanden. Er weiss aber auch, wie viel er seiner Mutter zu verdanken hatte, die ihn im Auge behielt. Und ihn «von dem Weg abgebracht hat, der zu Straftaten, Gefahr und Gewalt führte, zur Spritze, zu dieser tödlichen Wonne namens Heroin».
Petey war neunzehn, als er mit einer Spritze im Arm verendete. «Die Nachricht erreichte uns über den Umweg irgendeines Dreckskerls aus seiner Drogenclique mit einer schmutzigen Visage, der grinsend sagte: ‹Er kriegte den Hals nicht voll, Mann. Wer den Hals nicht vollkriegt, stirbt.›»
Bruce wurde in einem Motel an der Schnellstrasse gefunden, «neben einer Reisetasche lag er tot auf dem Fussboden». Auch bei Cliffy war es das Heroin. Cliffy war so etwas wie der Anführer gewesen, «ein Gelehrter, ein echtes Original, furchtlos und selbst mit dreizehn nie ohne eine Dostojewski-Ausgabe unterwegs». Dieser Junge, so schreibt Pacino, habe das Potenzial gehabt, alles im Leben zu erreichen.
Warum er nicht geendet habe wie Cliffy, fragt sich der 84-jährige Al Pacino am Ende, als das Buch dann noch richtig gut und herzergreifend wird. War es Glück? War es Tschechow, weil ihn eine Aufführung von «Die Möwe» mit 15 Jahren darauf gebracht hatte, Schauspieler zu werden? Oder war es die Mutter, die aus dem Küchenfenster zum Jungen hinunterrief: «Sonny Boy, du hast noch nichts gegessen, das Abendessen steht auf dem Tisch!»
Al Pacino. Sonny Boy. Mein Leben. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Piper-Verlag, München 2024. 400 S., Fr. 37.90.