Behörden sollten bei der Information keine Tabuzonen errichten.
War der Mann, der mit dem Samuraischwert einen Kiosk überfiel, einfach nur ein 22-Jähriger? Oder vielleicht ein 22-jähriger Algerier? Und soll die Polizei das mitteilen?
Es ist ein Detail, bei dem es um grosse Themen geht. Um Migration, Diskriminierung, Fakten und Vorurteile.
In der Stadt Zürich schien die Frage abschliessend geklärt. Doch das Ringen um die Angabe von Nationalitäten in Polizeimeldungen geht in eine dritte Runde. 2017 wurde die Praxis auf Druck des links dominierten Stadtparlaments abgeschafft. 2021 wurde dieser Beschluss auf Betreiben der SVP von den Stimmberechtigten im Kanton übersteuert. Und jetzt stehen die linken Parteien in der Stadt zusammen mit der GLP kurz davor, auch diesen Volksentscheid wieder zu kippen.
Es wäre ein Fehler. Denn es geht dabei auch um die Frage, ob wir vor der eigenen Denkfaulheit kapitulieren oder nicht. Ob sich eine aufgeklärte Gesellschaft vor transparenten Informationen schützen muss, weil sie zu anfällig für Kurzschlüsse ist. Was für ein mutloses Menschenbild!
Gegner der Nationalitätennennung führen ins Feld, dass es keinen Zusammenhang mit der Kriminalität gebe. Das Wissen um die Herkunft helfe nicht, eine Tat zu verstehen; ausschlaggebend seien der soziale und der wirtschaftliche Hintergrund. Es gehe bloss darum, Vorurteile zu schüren.
Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig.
Ja, es stimmt, dass sich solche Angaben im Kopf schnell zu stereotypen Erzählungen zusammenfügen. Und es ist richtig, dass diese Schwäche politisch gerne ausgenutzt wird.
Aber es stimmt nicht, dass es keinerlei Zusammenhang zwischen Nationalität und Straffälligkeit gibt. Natürlich geht es nicht um direkte Kausalität, sondern um Korrelation.
Die Inhaftierungsraten in der Schweiz, der Anteil Verhafteter pro Nationalität zeichnen ein komplexes Bild: Tunesier, Algerier oder Nigerianer etwa fallen durch hohe Werte auf – in diesen Gruppen ist aber auch der Anteil junger Männer gross, und junge Männer haben grundsätzlich ein erhöhtes Kriminalitätsrisiko. Andererseits haben auch Brasilianer oder Kameruner hohe Werte, obwohl hier Frauen klar in der Überzahl sind. Zugewanderte von den Philippinen wiederum sind so gut wie nie in Haft.
Was unter Verschluss gehalten wird, erscheint verdächtiger
Nur wenn man solche Daten kennt, kann man die relevanten Fragen stellen: Warum gibt es unter den Einwanderergruppen solche Unterschiede? Welche Probleme stecken dahinter? Wie kann man diese gezielt angehen, polizeilich und sozialpolitisch?
An diesen Punkt gelangt man nicht, wenn man aus Angst vor Vorurteilen Tabuzonen errichtet. Stattdessen generiert man so ein Faktenvakuum, in dem sich Fehleinschätzungen ungehindert ausbreiten können. In den Köpfen jener, denen Ausländerkriminalität Sorgen bereitet, wird jeder nicht näher beschriebene Verhaftete zum potenziellen Ausländer. Was unter Verschluss gehalten wird, erscheint umso verdächtiger.
Man kann einen Diskurs, der von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung ohnehin geführt wird, nicht einfach unterbinden. Man kann sich ihm nur stellen.
Dabei ist es zweitrangig, ob Nationalität ein relevantes Kriterium ist oder nicht. Würde eine grosse Volkspartei die These verbreiten, dass kleine Männer oder Katholiken besonders oft kriminell würden, wäre dies ein triftiger Grund, auch Grösse und Religion anzugeben.
Das erste und wichtigste Argument für die Angabe der Nationalität in Polizeimeldungen ist also, den Anschein zu vermeiden, dass eine unbequeme Wahrheit verschleiert werden soll.
Kritiker halten den Preis für zu hoch: Damit wecke man Vorurteile bei Menschen, die zuvor keine gehabt hätten. Die Sorge ist begründet. Polizisten oder Richter, die fast nur mit kriminellen Ausländern zu tun haben, beobachten den Effekt an sich selbst.
Die entscheidende Frage ist darum: Wie gehen wir verantwortungsvoll mit solchen Informationen um und vermeiden Verzerrungen? Antwort: indem wir uns die Grenzen ihrer Aussagekraft immer wieder vor Augen führen und uns bewusst machen, warum wir diese meist überschätzen. Indem wir also unsere Intuitionen mit unserem Verstand disziplinieren.
Warum wir falsche Schlüsse aus solchen Meldungen ziehen
Von grossem Wert sind dabei die Einsichten des Psychologen und Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, die jeder kennen sollte. Er unterstreicht, dass das rationale Denken, auf das unsere Spezies so stolz ist, anstrengend und langsam ist. Wir sind darum denkfaul.
Wenn wir uns in der Welt orientieren, verlassen wir uns meist auf ein einfacheres, schnelles System, das fortlaufend Entscheide trifft, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Evolutionär gesehen ist dies sinnvoll: Wer auf einen Blick Freund von Feind unterscheiden kann, überlebt.
Dabei entsteht jedoch ein verzerrtes Weltbild. Das schnelle, automatische Denken stört sich nicht an unvollständigen Daten. Konfrontiert mit einer komplexen Frage, die es überfordert, weicht es flugs auf eine einfachere Frage aus, auf die es die Antwort kennt.
Eine dieser Denkabkürzungen, die Kahneman beschreibt: Wenn wir abschätzen sollen, wie oft ein Ereignis eintritt, müssten wir die Daten studieren; stattdessen wendet sich unser schnelles Denken der simplen Frage zu, wie leicht ihm ein Beispiel für dieses Ereignis einfällt. Geht das schnell, halten wir es für häufig. Weil sich aber unsere Aufmerksamkeit – auch die mediale – auf aussergewöhnliche Ereignisse konzentriert, haben wir mehr Flugzeugabstürze im Kopf abgespeichert als Rasenmäherdefekte. Und liegen daher falsch.
Eine andere von Kahneman beschriebene Verzerrung hängt damit eng zusammen: Wenn wir fremde Menschen einschätzen, verlassen wir uns auf Stereotype. Unser automatisches Denken stellt sich etwa die Frage, ob der Mann auf der Strasse unserem abgespeicherten Bild eines Drogendealers entspricht – und fällt ein Urteil.
An vielen Stereotypen ist zwar etwas dran. Aber unsere Intuition lässt die statistisch entscheidende Frage ausser acht: Wie wahrscheinlich ist es grundsätzlich, einem Dealer zu begegnen? Wie gross ist deren Anteil an der Gesamtzahl der Menschen am betreffenden Ort?
Sonst würden wir einsehen, dass bestimmt auch ein gewisser Prozentsatz der Nicht-Dealer unserem Stereotyp entspricht. Und selbst wenn deren Anteil klein ist, sind die Nicht-Dealer insgesamt so viel zahlreicher, dass unser Mann wahrscheinlich kein Dealer ist. Das aber ist eine kognitive Leistung, die uns viel Anstrengung abverlangt.
Das Beispiel ist nicht fiktiv: Vor zwanzig Jahren wurde in Zürich viel über die «Kügelidealer» aus Nigeria berichtet, die an der Langstrasse Drogen verkauften. Danach hatten viele Stadtbewohner intuitive Vorbehalte, wenn sie dort Männern schwarzer Hautfarbe begegneten.
Das scheint nachvollziehbar. Aber nehmen wir an, dass es damals zehn Dealer gab und dass unter den 10 000 Passanten an der Langstrasse hundert Männer schwarzer Hautfarbe waren – dann lag die Intuition zu 90 Prozent daneben. Würde der eigene Ruf auf dem Spiel stehen, ginge bei einer solchen Quote niemand die Wette ein.
In den gleichen Jahren wurde in Zürich auch oft über Gewalttaten kosovarischer Jugendlicher berichtet. Eine ganze Generation stand unter Verdacht. Nur wenige stellten die Fallzahl in Relation zur Gesamtzahl dieser Jugendlichen. Später stellte man fest: Für viele Taten waren immer wieder die gleichen Täter verantwortlich – es waren bloss zwei Dutzend.
Gegen stereotype Verzerrungen helfen unerwartete Beispiele
Daraus sollte jeder die Lehre ziehen: Polizeimitteilungen haben auch in der Summe keine statistische Relevanz. Selbst wenn man zweimal von einem Eritreer liest, der jemanden vor einen Zug gestossen hat, darf dies nicht Grundlage des Entscheids werden, ob man eritreische Flüchtlinge noch aufnehmen soll. Doch dieses Argument gab es schon.
Kommt hinzu, dass nur die wenigsten Polizeieinsätze zur Meldung verarbeitet werden; es findet eine Selektion statt. Die Polizei verfolgt auch nicht jede Deliktart mit gleicher Konsequenz und gleichem Erfolg – ein Taschendiebstahl ist leichter aufzuklären als ein Finanzbetrug. Schliesslich ist ein Verhafteter noch kein Schuldiger. Alles verzerrende Faktoren.
Wie gesagt: Diese Lehre sollte jeder ziehen. Bloss ist das nicht so einfach, wie es klingt. Laut Kahneman zeigten Versuche, dass nicht einmal mit Statistik vertraute Psychologiestudenten in der Lage waren, aufgrund abstrakter statistischer Tatsachen ihre falschen Überzeugungen aufzugeben. Beeindrucken liessen sie sich erst durch unerwartete Einzelbeispiele.
Im Kontext der Nationalitäten in Polizeimitteilungen heisst das: Das wirksamste Korrektiv gegen stereotype Verzerrungen sind Nachrichten über den FDP-Präsidenten kosovarischer Herkunft oder über die Spitzengastronomin mit nigerianischen Wurzeln. Nicht Zensur.
Eine aufgeklärte Öffentlichkeit, die sich etwas zutraut, braucht möglichst viel Transparenz. Bei Kriminalia gerne auch Angaben zum sozialen Hintergrund; so gewinnt das Bild an Tiefenschärfe. Der Mann zum Beispiel, der mit dem Samuraischwert den Kiosk überfiel, war arbeitslos und medikamentensüchtig. Und er war Schweizer.