Die queere Amerikanerin aus dem Mittleren Westen scharte innerhalb weniger Monate viele Fans um sich, online wie offline. Jetzt stellt sie die Art und Weise des Starkultes infrage.
Explosiv und massereich kam der Erfolg für den neuen Pop-Star am amerikanischen Firmament. Wie die «Red Wine Supernova», die Chappell Roan in einem ihrer bekanntesten Songs besingt. Am Lollapalooza in Chicago, das 110 000 Besucher pro Tag zählt, soll Chappell Roan vor einer der grössten Hörerschaften in der Geschichte des Festivals aufgetreten sein.
Stilistisch bewegt sich Chappell Roan im Mainstream des Gegenwarts-Pop – mit sehnsüchtigen Balladen, beschwingten achtziger Synthi-Hymnen und Cheerleader-Hits zum Mitsingen. Um ein musikalisches Profil geht es ihr eben erst in zweiter Linie. Roan will mit Musik und Performance vor allem ein Gefühl von Gemeinschaft und Intimität vermitteln. In den Liedern singt sie darüber, wie es ist, mit einem anderen Mädchen zu flirten. Auf Tiktok berichtet Roan, der mit 22 Jahren Bipolarität diagnostiziert wurde, von ihrer psychischen Gesundheit. Die Fans scharen sich um die Person, die sich offen, verletzlich und nahbar zeigt.
Gerade erst hat sie ihre Anhänger noch eng an sich binden wollen, doch schon erscheint ihr der Anhang wie ein Korsett. Während Taylor Swift ihren Erfolg damit kultiviert, mit ihren Fans befreundet zu sein, geht Roan in die entgegengesetzte Richtung. Sie bittet die Leute darum, sich ihr nicht zu nähern, wenn sie privat unterwegs ist. Damit markiert Roan einen popkulturellen Wandel. Sie will definieren, wo die Wertschätzung der Fans endet und übergriffiges Verhalten beginnt.
Verkleidetes Mädchen
«The Rise and Fall of a Midwest Princess» lautete der Titel von Chappell Roans Debütalbum (2023), der die Probleme scheinbar schon vorwegnahm. Gesungen wird aus der Perspektive eines Mädchens, das aus einer konservativen Kleinstadt nach West Hollywood zieht. Es lernt eine neue Welt kennen, tanzt in Bars, erkundet seine Sexualität, lernt Queerness kennen, wird erwachsen, findet zu sich selbst.
Chappell Roan hat schon darüber gesungen, wie sie durch Manhattan rennt und Mädchen küsst, bevor sie im echten Leben eine Frau geküsst hat. Die Vermischung von Realität und Fiktion ist Teil ihrer Kunst. Sie sei schüchterner als ihr Performance-Ich, so gibt sie in Interviews zu. Und doch hat die 1998 als Kayleigh Amstutz geborene Roan selber Ähnliches erlebt.
Der Nachname stammt von einem Urgrossvater mit Schweizer Wurzeln. Aufgewachsen ist Roan aber in Willard, Missouri, unter 6500 Einwohnern. Dort ging sie dreimal pro Woche in die Kirche und lernte Bibelverse in Sommercamps auswendig. Sie fühlte sich isoliert. Wegen der starren Normen im ländlichen Mittleren Westen. Wegen des Gefühls, gefallen zu müssen und nicht verstanden zu werden.
Das Singen und Komponieren bot ihr eine Möglichkeit, aus dem kleinkarierten Umfeld auszubrechen. Sie begann, Coverversionen bekannter Songs auf Youtube hochzuladen, wurde mit 17 Jahren von Atlantic Records entdeckt und zog nach Los Angeles. Inspiriert von der bekannten Gay-Bar «The Abbey», schrieb sie 2020 die Liedzeile «It’s where I belong down at the Pink Pony Club».
Seither hat sie eine visuell beeindruckende Kunstfigur aus sich erschaffen: feurigrotes Arielle-Haar, puderweisses Gesicht, blauer Lidschatten, aufwendige Kostüme, eine Mischung aus Western, Kitsch, Horrorfilmen und Burlesque. Ihre Arbeit, die sie als ihr Drag-Projekt bezeichnet, versteht sie auch als therapeutische Praxis. «Ich bin das Mädchen, das Verkleiden spielt», sagt sie dem Magazin «The Face». Sie widme ihre Karriere der Würdigung einer Kindheit, die sie nie gehabt habe.
Das Gesicht ist extravagant geschminkt, die Bewegungen sind weiblich, aber in den Haaren hat sich eine Zigarette verfangen; manchmal trägt sie eine Schweinchennase. Die Hyperfemininität, die sie zur Schau stellt, spielt mit gesellschaftlichen Erwartungen und Schönheitsidealen und stellt diese zugunsten des Trashigen, Hässlichen oder Düsteren infrage. Symbolfiguren wie Clowns, Teufel und Cowboys, die in ihren Texten und Videos auftauchen, verweisen auf die Empfindung, ausgeschlossen und verunglimpft zu werden.
Belästigende Superfans
Chappell Roans offenes Auftreten als queere Person ermutigt Fans, eigene Erfahrungen mit ihren Songs in Verbindung zu bringen. Aus der Illusion heraus, Roan zu kennen, glauben sie, ihr alles sagen zu können. Bei Meet-and-Greets hätten ihr Fans ungefragt schwere Dinge aus ihrem eigenen Leben erzählt, sagt Roan dem Magazin «Glamour». Sie wolle mit ihrer Musik Trost spenden, persönliche Treffen aber zukünftig vermeiden: «Ich will das Trauma nicht hören, weil ich es dann verarbeiten und gleichzeitig eine Show aufführen muss, als hätte ich das alles nicht gehört.»
Dass aufstrebende Künstler sich den Anhängern bereits wieder entziehen, scheint ungewöhnlich. Musste man früher an Konzerte, um einen Star zu erleben, schaffen soziale Netzwerke heute eine scheinbare Nähe zu den Idolen, die zu hochfliegenden Fan-Erwartungen führen kann. Ungeschönt spricht Roan in den sozialen Netzwerken jetzt über das «gruselige Verhalten» von Superfans. Ein fanatischer Anhänger habe sie in einer Bar angefasst und geküsst. Ein anderes Mal habe die Polizei eingreifen müssen, als ein Autogrammjäger ein Nein nicht akzeptiert habe. Zu Fotos und Umarmungen dürfe sie trotz Berühmtsein Nein sagen.
Ihr Verhalten provozierte eine Debatte darüber, was Stars ihren Fans schulden. Manche warfen Roan vor, undankbar zu sein und ihre Popularität nicht verdient zu haben, wenn sie nicht auch die Konsequenzen trage. Rasch zirkulieren in den sozialen Netzwerken auch Fehlinformationen und Hasskommentare. Mittlerweile ist es um Chappell Roan dort stiller geworden. Sie versucht, die Beziehung zu den Fans neu zu definieren. Und konzentriert sich dabei auf ihre Live-Auftritte, wo sie ihre Wirkung und Identität besser behaupten kann.