Jörg Kukies ist ein enger Vertrauter von Olaf Scholz, nun springt er als Finanzminister ein: Was hat ihn auf seinem Weg angetrieben – und wie tickt er wirtschaftspolitisch?
Wenn Jörg Kukies demnächst vom Bundeskanzleramt am Spreeufer ins Finanzministerium an der Berliner Wilhelmstrasse umziehen wird, ein einst von den Nazis als Reichsluftfahrtministerium errichtetes gigantisches Gebäude, wird er nicht nach dem Weg fragen müssen. Bereits von 2018 bis im Dezember 2021 hatte er sein Büro hier. Er war Finanzstaatssekretär unter dem damaligen sozialdemokratischen Finanzminister Olaf Scholz in der schwarz-roten Regierung Merkel. Nun soll Kukies bis zu den vorgezogenen Neuwahlen selbst Finanzminister werden. Er ersetzt den Liberalen Christian Lindner, den Bundeskanzler Scholz am Mittwochabend mit harschen Worten in die Wüste geschickt hat.
Enger Vertrauter von Scholz
Scholz greift damit in der politischen Krise auf einen Mann zurück, mit dem er nicht nur das Parteibuch teilt, sondern auch seit 2018 in verschiedenen Rollen eng zusammenarbeitet. Als er nach der Bundestagswahl von 2021 zum Bundeskanzler gewählt wurde, holte er Kukies als Staatssekretär ins Bundeskanzleramt nach. Dort war dieser zuständig für die Wirtschafts-, die Finanz- und die Klimapolitik, aber auch für die Europapolitik.
Zudem war er «Sherpa» von Scholz für die G-7- und die G-20-Gipfel, die Treffen der Staats- und Regierungschefs der wichtigsten sieben Industrie- bzw. der zwanzig grössten Industrie- und Schwellenländer. Sherpas werden jene hochrangigen Beamten genannt, die im Vorfeld in endlosen Videokonferenzen und Sitzungen die Gipfeltreffen ihrer Chefs so weit vorbereiten, dass diese am eigentlichen Gipfel im Idealfall nur noch einige wenige offene Fragen selber klären müssen.
Auch im Inland war der promovierte Ökonom Scholz’ Mann für die Wirtschaft. Es gab kaum einen Entscheid, an dem er nicht beratend, gestaltend und moderierend im Hintergrund beteiligt war.
Ob es um die letzten Atomkraftwerke, die Gaspreisbremse, die Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco an einem Terminal im Hamburger Hafen, die Verstaatlichung des Energiekonzerns Uniper, das Heizungsgesetz oder den umstrittenen Industriestrompreis ging: Beteiligt waren oft mehrere Fachministerien, die angesichts der ideologischen Differenzen zwischen den drei bisherigen Regierungsparteien, den Sozialdemokraten, den Grünen und den Liberalen, nicht selten unterschiedliche Ansätze verfolgten.
Umso wichtiger war dann das Bundeskanzleramt, um eine einheitliche Linie hinzubekommen. Das ist indessen je länger, je schlechter gelungen. Nun ist die Koalition an diesen Gegensätzen zerbrochen – und Kukies spült es auf einen Ministersessel.
Ein Juso in Harvard
Für Politik habe er sich immer schon interessiert, erzählte der 1968 in Mainz geborene Kukies vor gut einem Jahr im Gespräch mit der NZZ. Seine Grosseltern mütterlicherseits seien sehr stark gewerkschaftlich und sozialdemokratisch orientiert gewesen, seine Eltern hätten «Wählt Willy» (SPD-Slogan für Willy Brandt im Bundestagswahlkampf 1972) oder «Stoppt Strauss!» alternativ als Motto auf verschiedenen Autos in die Welt getragen, und im Elternhaus in Mainz hätten der «Spiegel» und die «Zeit» aufgelegen.
Als Schüler lernte er auf der Busfahrt zu einer Anti-Apartheid-Demo ein paar Juso kennen. Er trat dieser Jugendorganisation der SPD bei und brachte es bis zu deren Landesvorsitzendem im Bundesland Rheinland-Pfalz. In dieser Funktion war er Vorgänger von Andrea Nahles, der späteren SPD-Vorsitzenden und heutigen Chefin der Bundesagentur für Arbeit.
So weit, so klassisch-sozialdemokratisch. Dann aber ermunterte der Ökonomieprofessor Klaus Rose («die Legende der Volkswirtschaftslehre in Mainz») seinen jungen Studenten, sich um ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes zu bewerben. Kukies erhielt den Zuschlag für Paris: «Wow, das ist doch mal geil, an der Sorbonne, im Quartier Latin, mal ein Jahr in Paris», beschrieb er seine damalige Reaktion. Auf Paris folgten die Harvard University, wo Kukies 1997 einen Master erwarb, und die University of Chicago, wo er seine Studien 2001 mit einem Doktorat abschloss.
Nächste Station war die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs. In Chicago habe er immer sonntags mit Freunden Fussball gespielt, und unter ihnen seien einige gewesen, die einmal im Sommer «bei Goldman, bei Merrill oder bei Morgan Stanley» gearbeitet und Positives berichtet hätten, erklärte Kukies seinen Entscheid, sich dort zu bewerben, statt eine akademische Karriere einzuschlagen. Ähnlich wie zuvor bei den Juso machte er bei der Bank rasch Karriere. Nach Posten in London, Frankfurt und wieder London arbeitete Kukies ab 2014 als Co-Chef von Goldman Sachs für Deutschland und Österreich in Frankfurt.
Ein Banker im Staatsdienst
Diesen Job hatte der verheiratete Familienvater noch immer, als ihn an einem Sonntagnachmittag im März 2018 eine folgenreiche SMS erreichte: Olaf Scholz, damals designierter Finanzminister der Regierung Merkel IV, lud ihn zum Gespräch nach Berlin ein. Am Tag der Vereidigung des neuen Kabinetts trafen sich die beiden Sozialdemokraten. Nach einem zweistündigen Gespräch über die damals anstehenden finanz- und wirtschaftspolitischen Themen habe ihm Scholz den Posten eines Staatssekretärs im Finanzministerium angeboten, erklärte Kukies später.
Die beiden hatten sich zuvor nicht persönlich gekannt; sie trennt ein Altersunterschied von rund zehn Jahren.
Doch was bewegt einen hochbezahlten Banker zum Wechsel in den öffentlichen Dienst? Kukies erklärte es im Gespräch an einem Beispiel: In seiner ersten Arbeitswoche habe er an einem Treffen der grossen EU-Staaten zum damals noch aktuellen Thema der griechischen Staatsschulden teilgenommen. In der Bank habe er Research-Berichte über diese Schulden gelesen und an diesen mitgearbeitet, das sei natürlich spannend gewesen. Aber am Tisch zu sitzen und mitzuverhandeln, sei wesentlich direkter und in gewisser Hinsicht auch spannender.
Bei solchen Einsätzen kam ihm seine reiche Erfahrung aus der Finanzwelt zugute. Das zeigte sich auch gut drei Jahre später im Wirecard-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags. Im Betrugsskandal um den deutschen Finanzdienstleister, der im Juni 2020 spektakulär kollabiert war, hatten zahlreiche staatliche Stellen keine gute Figur gemacht.
Im April 2021 nahm der Ausschuss deshalb auch die damalige politische Führungsspitze in die Zange, auch Finanzminister Scholz, zu dessen Verantwortungsbereich die Finanzaufsicht Bafin gehörte. Schon am Vorabend war sein Staatssekretär Kukies an der Reihe. Auch er wurde kritisiert, unter anderem für ein Treffen mit dem Wirecard-Chef Markus Braun. Doch er stand den Abgeordneten mit Fachwissen, Sachlichkeit und in seiner verbindlichen Art derart ausführlich Red und Antwort, dass manch eine Kastanie bereits aus dem Feuer geholt war, als anderntags der Auftritt von Scholz begann.
Im Küchenkabinett
Die Herkunft aus der Finanzbranche, noch dazu aus dem Hause Goldman Sachs, das manche Europäer für den Inbegriff eines ruchlosen US-Finanzkapitalismus halten, brachte Kukies indessen auch harsche Kritik ein. Das war nicht nur im Wirecard-Untersuchungsausschuss so, sondern auch schon bei seiner Berufung. Scholz mache «die Brandstifter zur Feuerwehr», hatte zum Beispiel Fabio De Masi, damals stellvertretender Vorsitzender der Linken im Bundestag, kritisiert.
Finanzminister #Scholz imitiert #Trump & macht die Brandstifter zur Feuerwehr: Mit #JörgKukies wird Deutschlands #GoldmanSachs Boy Nr. 1 beamteter Staatssekretär. Kann man auch gleich Bankster die Gesetze schreiben lassen: https://t.co/d1PfYbbqiC pic.twitter.com/j6OC4A2Oum
— Fabio De Masi 🦩 (@FabioDeMasi) March 19, 2018
Zwischen dem damaligen Finanzminister und dem Staatssekretär bildete sich indessen rasch Vertrauen. So war es keine Überraschung mehr, dass Scholz diesen nach der Bundestagswahl von 2021 und seiner Wahl zum Bundeskanzler ins Kanzleramt «mitnahm». Dort hatte Kukies bisher zum kleinen Kreis der engsten Vertrauten des Kanzlers gezählt, zusammen etwa mit dem Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, der Leiterin des Kanzlerbüros Jeanette Schwamberger und dem Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Das Nachrücken als Finanzminister war nur folgerichtig.
Wirtschaftsvertreter beschreiben Kukies als klugen Mann, als Strategen, als einen, der «mit den Amerikanern kann», auch gilt er als unermüdliches Arbeitstier mit randvollem Terminkalender, das Unmengen von Akten durcharbeitet. All dies wird er ebenso wie seine Finanzkompetenz in seinem neuen Posten erst recht gebrauchen können. Viel Gestaltungsspielraum dürfte er indessen kaum haben. Es ist derzeit nicht absehbar, wie die Regierung Scholz nach der Trennung von der FDP einen Haushalt für 2025 durch den Bundestag bringen kann.
Der Intel-Flop
In der wirtschaftspolitischen Ausrichtung ticken Scholz und Kukies ähnlich. Das sei kein Zufall, schliesslich wähle man sich die Leute ein Stück weit aus, mit denen man zusammenarbeite, meinte Kukies letztes Jahr gegenüber der NZZ. Die Politik müsse der Privatwirtschaft sehr klare Linien und Rahmenbedingungen vorgeben, aber nicht in Einzelentscheidungen eingreifen, beschrieb er die gemeinsame Grundphilosophie.
Allerdings war Kukies eng eingebunden in genau solche Interventionen in Einzelfällen, darunter der Versuch, neue Halbleiterwerke nach Deutschland zu locken. Im Juni 2023 unterzeichnete er zusammen mit Keyvan Esfarjani, Vorstandsmitglied des amerikanischen Halbleiterkonzerns Intel, eine Absichtserklärung über die Aufstockung einer geplanten Chipproduktion von Intel in Magdeburg und deren Subventionierung mit rund 10 Milliarden Euro.
Es sollte die grösste jemals getätigte Einzelinvestition eines ausländischen Unternehmens in Deutschland werden. Kukies verteidigte die geplanten Milliardensubventionen mit Verve. «Es ist nun mal so, dass die überaus kapitalintensive Errichtung einer Chipfabrik überall in der Welt öffentliche Unterstützung erhält, egal ob in Taiwan, China, Indien, den USA oder in EU-Staaten», sagte er letztes Jahr zur NZZ. Deshalb müsse man entscheiden, ob man dabei sein wolle oder nicht.
Wolle man dabei sein, müsse man konkurrenzfähige Unterstützung anbieten, weil die Firmen sonst anderswo investieren würden. Sei man nicht dabei, riskiere man in einer nächsten Wirtschaftskrise oder geopolitischen Zuspitzung Lieferengpässe. Die Corona- und die Russland-Krise hätten gezeigt, dass strategische Wirtschaftsgüter als Waffe eingesetzt würden. Angesichts der Bedeutung von Halbleitern für künstliche Intelligenz, die Digitalisierung der Industrie, die mRNA-Technologie oder intelligente Energienetze seien die erwähnten Milliarden deshalb eine gute Investition.
Inzwischen hat Intel das Projekt trotz der geplanten massiven Unterstützung auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Liberale Ökonomen sehen dies als Beleg dafür, dass der Staat besser die Rahmenbedingungen für alle Unternehmen verbessern statt hohe Summen in Einzelprojekte stecken sollte. Und Kukies’ Name ist nun auch mit diesem Misserfolg verbunden.
Dieser Artikel ist am 29. Oktober 2023 in der NZZ erschienen und wurde nach Kukies’ Ernennung zum Finanzminister überarbeitet und aktualisiert.
Sie können dem Berliner Wirtschaftskorrespondenten René Höltschi auf den Plattformen X und Linkedin folgen.