Trekking-Team
Seit Millionen Jahren formen gewaltige Kräfte tief unter der Erde das Hölloch im schwyzerischen Muotatal. Eine zweitägige Tour durch das gigantische Labyrinth offenbart seine geheimnisvolle Schönheit – ein Erlebnis, das tief ins Innere führt, nicht nur geologisch.
Ich bin einer von zwanzig Körpern, durch die die kühle Höhlenluft zirkuliert, und erstaunt darüber, wie unterschiedlich Menschen atmen. Einige atmen tief und schwer, als erfordere es eine bewusste Anstrengung, andere flach, fast unhörbar durch den Mund, als scheuten sie das Geräusch des Luftholens.
Nicht weit von meinem Ohr schnarcht jemand. Wir liegen Schlafsack an Schlafsack nebeneinander, unter uns eine plastifizierte Matratze, über uns eine Plane und 300 Meter Stein. Es ist so dunkel, dass ich weder die Plane über noch die Umrisse der Gesichter 20 Zentimeter neben mir sehe. Trotzdem erwarte ich, dass es morgen, wenn ich aufwache, heller sein wird. Natürlich ist das Unsinn. Es wird genauso dunkel sein wie jetzt, selbst wenn draussen die Sonne scheint.
Wir sind tief im Berginnern, 2,5 Kilometer oder mehrere Stunden von der Aussenwelt entfernt. Die Dunkelheit und die Dehnung der Zeit lassen jegliches Gefühl für sie verschwinden. Wir bewegen uns anders in der Höhle, selbst kurze Strecken erfordern viel Zeit. So vergehen auch die Stunden anders, oder besser: Sie spielen hier unten im Hölloch im Muotatal im Kanton Schwyz kaum eine Rolle. Die zeitliche Grössenordnung der Höhle misst sich in Hunderttausenden von Jahren. Stunden zählen nur für die Laufzeit unserer Stirnlampenakkus.
57 Höhlentiere leben in der Unterwelt
Das «Dombiwak» am Ende des riesigen Domganges thront hoch oben auf einer Lehmplattform einer gewaltigen Höhle. Das Schlaflager, zwei lange Tische und eine Küchenecke schaffen ein Gefühl von Häuslichkeit. Bedenkt man, dass jeder Picknickteller, jeder Kochtopf und jede Gabel hineingetragen werden musste, ist das beeindruckend. Mehr braucht es nicht, um sich wohlzufühlen. Rote Kerzen tauchen den Essbereich in warmes Licht. Das dampfende Fondue wärmt, während der Weisswein in bunten Plastiktassen die Stimmung hebt.
Unsere Guides, Gregi Bättig und Fredi Slavici, erzählen Geschichten und teilen ihr Fachwissen. Sie erzählen von Höhlenforschern, die ein Sommergewitter überraschte und zehn Tage lang in einer Höhle einschloss – ohne Biwak. Ich stelle mir vor, wie es sein muss, so lange in dieser Dunkelheit auszuharren, in dieser Stille, dieser Abgeschiedenheit.
Von der Aussenwelt bekommt man nichts mit, alles Vertraute wurde von Menschen hineingetragen. Eine Coca-Cola-Flasche hier wirkt ungewohnt, ein rot-weiss kariertes Plastiktischtuch hätte ich hier nicht erwartet. Ebenso wenig, dass hier bei einer konstanten Temperatur von 6 Grad Celsius Tiere leben. 57 Troglobionten, Höhlentiere also wie Wasserflohkrebse, Höhlenwürmer und Höhlenspinnen, die allesamt klein sind, teils blass, teils blind.
Die Abgeschiedenheit in der Dunkelwelt macht die zweitägige Exkursion zu einem Erlebnis. Während ich im Schlafsack liege und dem Atem der Gruppenmitglieder lausche, fühlt es sich an wie ein Klosteraufenthalt. Gedanken an den Alltag scheinen hier, tief in der Erde, fast unmöglich. Schafft es doch einmal eine Sorge durch die verzweigten Gänge, über die Felswände, durch die Finsternis, über die kleinen Seen und Höhlenbäche bis zum «Dombiwak», wirkt sie geradezu lächerlich. Was ist sie schon im Vergleich zu diesem Höhlensystem, das sich über 212 Kilometer und über 1000 Höhenmeter erstreckt und mehrere Eiszeiten alt ist?
Die zweitägige Tour verlangt Kraft, Balance und Ausdauer
Begonnen hat die Exkursion in den Bauch des Berges vor mehreren Stunden mit drei breiten Schächten, gefüllt bis zum Rand mit dunkelgrauem Sand und Kies. Der Abstieg über die Dünen ist einfach und angenehm, die Gummistiefel sinken weich in den Boden, und das Gefühl, gleichzeitig drinnen und draussen zu sein, ist noch neu.
Nach der dritten Sandhalde steht die erste Herausforderung an: eine Felswand namens «Zimmermanns Angst». Unser Guide Gregi erzählt, dass der Entdecker eines Gangs diesen benennen darf. Ich versuche mir die Menschen vorzustellen, die Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal vor dieser feuchten Felswand standen. Der namensgebende Zimmermann muss einer der ersten Höhlenforscher im Hölloch gewesen sein, das ab 1889 systematisch erforscht wurde – damals noch mit gewöhnlichen Bergschuhen und Petroleumlampen.
1905 begann eine belgisch-schweizerische Gesellschaft, den vorderen Teil der Höhle mit elektrischem Licht, Treppen und Geländern auszustatten und für Touristen zugänglich zu machen. Der grosse Ansturm blieb jedoch aus, besucht wurde die Höhle vor allem von den Dorfbewohnern, die noch nie elektrisches Licht gesehen hatten.
120 Jahre später enthüllen die Lichtkegel unserer Helmlampen die geheimnisvollen Steinformationen. Der Aufstieg erfordert Mut und Geschick. Wir ziehen uns an aufragenden Felsen hoch, suchen mit den Stiefeln auf Vorsprüngen und in Löchern Halt. Als wir oben angekommen sind, wird klar, warum nur Thermowäsche unter dem robusten Overall empfohlen wird. Unsere Expedition führt uns durch dunkle Schächte und wunderbare Gänge, die mal breit und hoch, mal eng und niedrig sind.
Mehrmals denke ich, dass ich mich hier drinnen alleine verirren würde. Zum Glück bin ich mit einem diplomierten Höhlenführer unterwegs. Die Tour verlangt Kraft, Balance und Ausdauer. Die erwartete Stille bleibt dagegen vorerst aus. Ein ständiges Rauschen begleitet uns und wird mit jedem Schritt lauter. «Das ist kein Fluss, das ist der Wind», sagt Gregi. Bald darauf kommen wir zu einer Bretterwand, die gegen den starken Luftzug im Hölloch errichtet wurde. Dahinter verstummt das Rauschen.
«Wo man hineinkriecht, kommt man auch wieder raus»
Wir erreichen die «Böse Wand», die sich senkrecht in der Dunkelheit verliert. Hier erreicht auch der stärkste Lichtkegel nicht das Ende. Über eine 45 Meter lange Eisenleiter steigen wir gut gesichert hinauf. Oben lassen wir unsere Klettergurte zurück und setzen unseren Weg zum «Wasserdom» fort. Der 18 Meter hohe Wasserfall rauscht noch lauter als der Wind. Das Wasser glitzert im Schein unserer Helmlampen. Die glatten Steine glänzen schwarz. Die Dimensionen der Höhle sind kaum fassbar und wirken durch die begrenzte Beleuchtung noch grösser. Mir kommen Videospiele, in denen man sich durch fremde, mondartige Welten bewegt, in den Sinn. Mit unseren Gummistiefeln, roten Overalls und Helmen haben wir ohnehin etwas von Weltraumforschern.
Vom «Wasserdom» ist es nicht mehr weit bis zum «Dombiwak», wo wir Tee trinken und uns besser kennenlernen. Das Gefühl für die Zeit haben wir längst verloren, es könnten genauso gut drei oder elf Stunden verstrichen sein. Allzu spät kann es aber nicht sein, denn bald brechen wir auf, um noch tiefer in das Höhlensystem vorzudringen. Die Gänge werden niedriger und enger. Alles, was wir noch hören, ist das Knittern der Overalls und das dumpfe Geräusch der Gummistiefelschritte auf dem Lehmboden.
An Seilen überwinden wir Pfützen und steile Felspartien, gehen minutenlang gebückt durch Schächte. Dann erreichen wir das «Nadelöhr»: einen kurzen Felstunnel. Gregi beruhigt uns: «Wo man hineinkriecht, kommt man auch wieder raus.» Wir gelangen zu einer Kammer, in der wir aufrecht sitzen können. Dort lässt uns Gregi die Lampen löschen.
Absolute Stille, vollkommene Dunkelheit. Die Höhle, wie sie wirklich ist. Die Stimmen verstummen. Wir sitzen reglos da. Halten den Atem an. Da bemerke ich das phosphoreszierend leuchtende Ziffernblatt von Gregis Tissot. Und von weit weg, wie durch ein Rohr, dessen Ende in einer anderen Welt liegt, Fredi Slavicis dröhnende Stimme, die von den Wänden der Gänge hallt.
Wir sind hier in einer anderen, auf wunderbare Weise authentischen Welt. Die Höhle ist wie geschaffen, um Distanz zu bekommen von der immerdröhnenden Welt draussen. Oder, wie ich im Dunkeln denke: Den Alltag ausblenden, zu sich kommen, das ist hier leicht.
Im Finsteren auf die Probe gestellt
Am nächsten Morgen lockt aus der Küchenecke der Duft von Rührei, Rösti und gebratenem Speck. Wir schälen uns aus den warmen Schlafsäcken. Nach dem Frühstück machen wir uns auf den Rückweg. Obwohl wir demselben Weg zurückgehen, kommt uns kaum etwas vertraut vor. An einer Weggabelung in der Hälfte biegen wir jedoch ab. Der Schacht führt zum «Styx», einem Höhlensee, der in die Unterwelt zu führen scheint. Die Schächte dahinter sind so schlammig und nass, dass der Feuchtigkeit auch die Gummistiefel und die Gartenhandschuhe nichts entgegensetzen können.
Während wir das Gummiboot, in dem wir zu zweit kauern, an dem Seil zurückziehen, stelle ich mir vor, wie einer der Höhlenforscher das Boot über die «Zimmermanns Angst» und die «Böse Wand» bis hierher geschleppt hat. Auch wir müssen diese Hindernisse noch einmal überwinden, bis wir wieder am Fuss der dritten Sandhalde stehen.
Seit dem gestrigen Morgen scheint eine Ewigkeit verstrichen zu sein. Wir stapfen die Düne hinauf, was weitaus anstrengender ist, als sie hinunterzulaufen. Wir knöpfen die Overalls auf und lachen darüber, dass die Höhle uns nicht so leicht gehen lässt. Dann stehen wir vor dem äussersten Sandschacht. «Eine letzte Probe steht euch noch bevor», sagt Gregi mit leuchtenden Augen.
Wir sollen noch einmal das Licht löschen und ohne seine Hilfe nach oben finden.
Ungläubig sehen wir ihn in der Dunkelheit verschwinden, und löschen dann doch alle unsere Stirnlampen. Es ist stockfinster. Zum Glück tragen wir wieder unsere Klettergurte, mit deren Karabinern wir uns aneinandergekettet haben. Vorsichtig setzen wir uns in Bewegung. Waten durch den weichen Sand und die Schwärze. Suchen nach dem radiumgrünen Ziffernblatt, nach der vollkommenen Stille. Doch wir hören unser Atmen, das Rascheln der lehmverschmierten Overalls, das Rieseln des Höhlensands. So tasten wir uns weiter vor.
Am Sonntag, 24. November 2024, feiert das neue Besucherzentrum Hölloch seine Eröffnung mit einem Tag der offenen Tür. www.hölloch.ch
Diese Reportage wurde möglich durch die Unterstützung von Trekking-Team.