In Tianjin, der chinesischen Stadt mit der höchsten Verschuldung, steht seit neun Jahren ein halbfertiger, fast 600 Meter hoher Wolkenkratzer. Dem Immobilienentwickler ging das Geld aus.
Es waren die Jahre zu Beginn des neuen Jahrtausends, als in Tianjin alles nicht schnell genug gehen konnte, die Hochhäuser nicht hoch genug, die Shoppingmalls, Bahnhöfe und Flughäfen nicht protzig genug sein konnten. Tianjins Wirtschaft boomte, die Wachstumsraten der Stadt erreichten mit Leichtigkeit 10 Prozent und mehr.
Im Jahr 2008 wollte die Stadtregierung sich und ihren vermeintlichen Erfolgen ein Denkmal setzen – die Bauarbeiten am China 117 Tower begannen. Es sollte der seinerzeit fünftgrösste Wolkenkratzer der Welt werden. Auf 128 Etagen, über eine Höhe von fast 600 Metern verteilt, sollten Apartments, Büros und ein Hotel entstehen.
Dann, im Jahr 2015 kamen die Arbeiten abrupt zum Stillstand, dem Immobilienentwickler Goldin Properties aus Hongkong war das Geld ausgegangen. Seither ragt in dem Aussenbezirk von Tianjin ein halb verglastes Gerippe aus Stahl und Beton in den Himmel.
Tianjin steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise
Ein schweres Eisengitter trennt die verwaiste Baustelle von einer sechsspurigen Ausfallstrasse. Im Hof liegen aufgestapelt rostige Eisenträger. Ein breites Banner, das auf eine Kulturveranstaltung zur Unterstützung von Schulen hinweist, erinnert an bessere Zeiten. Ausser zwei gelangweilt dreinblickenden Wachmännern ist auf dem Gelände niemand zu sehen.
Der abrupte Baustopp am China 117 Tower war ein früher Fingerzeig auf das, was auf Tianjin noch zukommen sollte.
Tianjin, eine Stadt mit 13 Millionen Einwohnern, etwa eine Autostunde südlich von Peking gelegen, steckt heute in einer tiefen Krise. Die örtliche Wirtschaft wächst langsamer als im Landesdurchschnitt. Und die Stadt, die wie Schanghai, Peking und Chongqing den Status einer Provinz hat, hält einen traurigen Rekord: Keine chinesische Provinz hat höhere Schulden als Tianjin.
Schulden sind in Finanzvehikeln versteckt
Rund 250 Prozent der Wirtschaftsleistung soll der Schuldenstand betragen. Doch genau weiss das niemand. Denn ein beträchtlicher Teil der Verbindlichkeiten ist in undurchsichtigen Finanzvehikeln der Lokalregierung versteckt. Tianjin hatte auf Sand gebaut.
Während der guten Jahre ahnte kaum einer der Verantwortlichen, was sie mit ihrer Politik anrichten würden. Tianjin investierte in Infrastruktur und Immobilien, als gäbe es kein Morgen. Die Parteiführung der Stadt hatte die Devise ausgegeben, aus Tianjin möge ein zweites Manhattan werden.
Ähnliches geschah auch in anderen Städten in China. Doch die Exzesse in Tianjin sind einzigartig.
Heute durchzieht ein weitverzweigtes Netz von Schnellstrassen und U-Bahn-Linien die Stadt, überall recken sich glitzernde Hochhäuser gen Himmel. Viele der Büros und Wohnungen stehen leer.
Im Osten Tianjins sollte innerhalb weniger Jahre eine komplett neue Stadt entstehen, die Binhai New Area. Die Verantwortlichen der örtlichen Regierung planten Industrieparks, Hotels, Bürotürme und Wohnsiedlungen und bauten gleich drei Bahnhöfe für Hochgeschwindigkeitszüge.
Den Investoren ging das Geld aus
Doch die Stadt, auf dem Reissbrett geplant, hob nie ab. Weite Teile von Binhai gleichen heute einer Geisterstadt. Viele Ladengeschäfte und Restaurants sind verrammelt, mehrere Türen des Binhai Center, eines 20-stöckigen Bürohochhauses, sind mit Vorhängeschlössern abgesperrt. In einem der drei überdimensionierten Bahnhöfe sind an einem Nachmittag kaum mehr als zwanzig Fahrgäste zu sehen.
Teile von Binhai wurden nie fertig gebaut, weil den Investoren das Geld ausging. Ganze Strassenzüge sind gesäumt von halbfertigen Hochhäusern. Arbeiter sind auf den Baustellen nicht zu sehen, keiner der vielen Baukräne bewegt sich. Binhai ist auch eine Stadt der Ruinen.
Zu den Politikern, die die Binhai New Area mit besonderer Verve vorantrieben, gehörte der damalige Ministerpräsident Wen Jiabao. Der Grund lag auf der Hand: Wen wurde 1942 in Tianjin geboren und wollte seiner Heimatstadt wohl ein besonderes Geschenk machen. Wie so oft in Chinas staatlich gesteuerter Wirtschaft stand bei dem Vorhaben weniger die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund als vielmehr das Prestige.
Bei der Normalbevölkerung rufen Projekte wie Binhai nur Kopfschütteln hervor. «Jeder Vorsitzende baut sich seine eigene Stadt», spottet ein Taxifahrer in Binhai und meint damit auch den jetzigen Staats- und Parteichef Xi Jinping. Der lässt nämlich in der an Peking grenzenden Provinz Hebei zurzeit die Stadt Xiong’an bauen.
Die Busfahrer bekommen keinen Lohn mehr
Die Folge der Investitionsoffensive in den frühen 2000er Jahren waren Wachstumsraten, von denen andere Provinzen nur träumen konnten. Zwischen 2000 und 2016 wuchs die Wirtschaft Tianjins durchweg schneller als im Landesdurchschnitt. Die Kehrseite: Bis Ende 2015 hatte die Provinz allein durch Investitionen in Infrastruktur Schulden in Höhe von fast 140 Milliarden Dollar angehäuft.
Im Jahr 2017 stürzte die Wirtschaft Tianjins schliesslich ab. Von 2016 auf 2017 brach das Wirtschaftswachstum von 9 Prozent auf 3,6 Prozent ein. Die Stadt hatte zu lange an alten Industrien festgehalten, während andere Städte im Süden und im Osten Chinas konsequent in Hochtechnologien und grüne Technologien investierten.
Sicher, Airbus betreibt in Tianjin eine Anlage zur Endmontage, und auch der Volkswagen-Konzern hat in der Stadt ein Werk. Doch andere Landesteile waren schlicht schneller als Tianjin beim Erschliessen neuer Wachstumsbranchen. Die Corona-Pandemie hinterliess zusätzliche Bremsspuren; die Immobilienkrise, die vor gut drei Jahren ihren Anfang nahm, versetzte Tianjin schliesslich den Todesstoss – die Stadt ist finanziell praktisch handlungsunfähig.
Vor einiger Zeit machten Berichte die Runde, nach denen die Stadt nicht einmal mehr ihre Busfahrer entlohnen kann. Auch für einen Rückbau des China 117 Tower fehlt das Geld. Investieren darf Tianjin inzwischen nur noch mit ausdrücklicher Genehmigung der Zentralregierung in Peking.
Peking will die Lokalregierungen unterstützen
Die Krise ist längst bei den einfachen Chinesinnen und Chinesen angekommen. Im Schatten der Ruine des China 117 Tower steht ein kleiner Imbissstand. Ein Mann in den Mittzwanzigern verkauft Pfannkuchen mit Poulet und Eiern. Von der Pleite rund um den halbfertigen Wolkenkratzer weiss er nichts.
«Keine Ahnung, warum nicht weitergebaut wird», sagt der junge Chinese. Was er hingegen weiss, ist, dass sein Geschäft nicht gut läuft. «Es kommen kaum noch Arbeiter», sagt der Verkäufer und zeigt auf die vielen anderen ruhenden Baustellen ringsherum. Auch die Belegschaften der Fabriken in dem Stadtteil seien offenbar ausgedünnt worden. Früher seien die Arbeiter gute Kunden gewesen.
Was die Zentralregierung plant, um die lahmende Konjunktur wieder auf Touren zu bringen, ist bislang nur in Umrissen bekannt. Womöglich wird die Regierung noch diese Woche ein Konjunkturprogramm ankündigen. Bekannt ist immerhin, dass Peking lokalen Regierungen wie jener in Tianjin bei der Bewältigung ihrer Schuldenprobleme unter die Arme greifen will.
Die Ruine des China 117 Tower zieht inzwischen vor allem Neugierige an. An einem sonnigen Vormittag stehen zwei junge Männer aus der zentralchinesischen Provinz Hubei vor dem schweren Eisengitter und fotografieren. «Wir haben von dem halbfertigen Wolkenkratzer im Internet gelesen», sagt einer der beiden Männer, «da wollten wir den Turm mit eigenen Augen sehen.»