Manche Frauen übergeben sich in der Schwangerschaft so häufig, dass sie ins Spital müssen. Einige erwägen eine Abtreibung ihres Wunschkinds oder wollen nicht einmal mehr weiterleben. Was dahinter steckt und was sich dagegen tun lässt.
Sie hatte sich auf die Schwangerschaft gefreut. Aber was Jenny Merz erlebte, hatte nichts damit zu tun, «guter Hoffnung zu sein». Ihr war schon schlecht, bevor sie wusste, dass sie schwanger war. Erst dachte sie an eine Magen-Darm-Grippe, bis ein Schwangerschaftstest die frohe Botschaft brachte. Die schlechte Nachricht: Die Übelkeit hörte nicht auf.
Nach jeder Mahlzeit musste die werdende Mutter erbrechen. Sie versuchte es mit kleinen Gerichten, mit Ingwer und anderen geläufigen Tipps. Aber nichts half. Sie ass, erbrach, ass und erbrach. Irgendwann konnte sie nicht einmal mehr Wasser in sich behalten.
«Am Anfang dachte ich: So ist es halt, wenn man schwanger ist. Aber ich wurde immer schwächer. Ich fühlte mich ausgelaugt. Mir war schwindelig, und ich konnte mich kaum auf den Beinen halten», erzählt Jenny Merz. Einmal, nach ein paar Wochen, sei sie vom Bett aufgestanden und gegen die Wand gelaufen. Das war zu viel. Ihr Mann brachte sie ins Spital.
Drei Wochen im Spital
Nachdem die junge Frau untersucht worden war, bekam sie eine Infusion gegen den Flüssigkeitsverlust. Aber weil ihr Zustand so ernst war, musste sie im Spital bleiben – «bis Sie nicht mehr erbrechen müssen», hatte der Arzt gesagt. Endlich erfuhr sie auch, woran sie litt: Hyperemesis gravidarum lautet der medizinische Fachbegriff für sehr häufiges Erbrechen in der Schwangerschaft. Auch mit Behandlung sollte es drei Wochen dauern, bis man sie wieder entliess.
In der Frühschwangerschaft sind Übelkeit und Erbrechen sehr verbreitet, etwa 70 Prozent der werdenden Mütter leiden daran. Aber ein bis drei Prozent der Frauen müssen so häufig erbrechen, dass die Gefahr einer Dehydrierung besteht – wie bei Jenny Merz. Warum es dazu kommt, ist noch nicht abschliessend geklärt. Jedoch haben Forscher kürzlich eine Erklärung geliefert, die womöglich auch die Behandlungsoptionen verbessern könnte.
In einer Publikation im Wissenschaftsmagazin «Nature» zeigten sie, dass ein Protein namens GDF15 bei der Entstehung von Hyperemesis eine wichtige Rolle spielt. Es wird mehrheitlich von den kindlichen Zellen in der Plazenta produziert und nimmt während der Schwangerschaft auch im Blut der Mutter stark zu. Das löst laut der Studie die Übelkeit aus. Je höher der GDF15-Spiegel, desto grösser das Risiko für Schwangerschaftsübelkeit und Hyperemesis.
Allerdings hängt die Intensität der Übelkeit laut der Studie nicht nur davon ab, wie viel des Proteins das Kind produziert, sondern auch wie empfindlich die Mutter ist. Trägt sie eine seltene genetische Variante, die bei ihr selbst tiefe GDF15-Werte zur Folge hat, reagiert sie besonders empfindlich auf den plötzlichen Anstieg des Proteins in der Schwangerschaft. Im Gegensatz dazu leiden Frauen, die aufgrund einer Blutkrankheit ständig erhöhte GDF15-Spiegel aufweisen, äusserst selten unter Schwangerschaftsübelkeit und -erbrechen.
Aber wofür ist denn das Protein überhaupt gut? Die Forscher vermuten, dass es eine Signalwirkung hat. Es signalisiert dem Gehirn normalerweise, dass Bakterien oder Gifte in den Körper gelangen, die gemieden werden sollten. Auch bei einer Chemotherapie verursacht es die damit verbundene Übelkeit. Aus evolutionsbiologischer Sicht kann es von Vorteil sein, wenn eine Frau in der Frühschwangerschaft empfindlich auf potenzielle Schadstoffe reagiert, denn das Kind befindet sich in einer heiklen Phase der Entwicklung.
Doch bei einer Hyperemesis ist dieser Schutzmechanismus zu stark ausgeprägt und kann die Entwicklung des Kindes gefährden, wenn keine Behandlung erfolgt. Ein weiteres Problem ist, dass die Betroffenen sich depressiv fühlen können. Einige denken an Suizid, oder sie wollen die Schwangerschaft beenden.
Auch Jenny Merz hat in Momenten höchster Verzweiflung geschrien: «Ich will nicht mehr weitermachen.» Zum Glück habe ihr Mann gelassen reagiert und sie daran erinnert, dass es ein absolutes Wunschkind sei.
Keine psychische Ursache
Irene Hösli, emeritierte Professorin für Gynäkologie und Geburtshilfe am Universitätsspital Basel, sagt: «Es ist eine wichtige Nachricht für alle betroffenen Frauen, dass die Hyperemesis eine genetische Ursache hat. Früher hat man gesagt, dass es psychisch sei, dass die Betroffenen das Kind nicht wirklich wollten. Davon ist man zwar schon lange weggekommen. Aber es ist wichtig, die biologischen Ursachen noch besser aufzuklären.»
Jenny Merz bestätigt das. «Was mich in jener Zeit viel beschäftigt hat, war das Gefühl der Unfähigkeit, dass ich nicht fähig bin, schwanger zu sein. Jede kriegt das hin – nur ich nicht.» Sie habe im Spital auch psychologische Unterstützung erhalten, vor allem, damit sie besser mit der Situation zurechtkomme.
Es hat lange gedauert, bis man die Hyperemesis als Krankheit ernst genommen hat. Laut der Gynäkologin Hösli muss man sie von der normalen Schwangerschaftsübelkeit abgrenzen. Das sei gar nicht so einfach. Es ist ein fliessender Übergang. In Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen hat Hösli 2019 begonnen, für die Schweiz Diagnosekriterien zu erarbeiten. Im Jahr 2021 veröffentlichten sie einen Expertenbrief, der neben den Diagnosekriterien auch Empfehlungen zur Behandlung enthält.
Der Anstoss dazu kam laut Hösli aus den USA und England. Die Erstautorin der aktuellen «Nature»-Studie, Marlena Fejzo von der University of Southern California, habe dabei eine wichtige Rolle gespielt. Diese litt selbst an Hyperemesis.
Laut einer Pressemitteilung der Universität sagte sie: «Als ich schwanger war, konnte ich mich kaum bewegen, ohne dass mir übel wurde. Ich versuchte, herauszufinden, was es war, und realisierte, wie wenig darüber bekannt war, ausser dass Schwangerschaftsübelkeit sehr verbreitet ist.» Die junge Frau begann zu forschen und stiess schon bald auf eine Assoziation zwischen Hyperemesis und einer genetischen Variante von GDF15. In der neusten Publikation haben sie und ihre Kollegen den Zusammenhang nun noch weiter untermauert.
Gänzlich geklärt ist das Problem damit allerdings noch nicht. Irene Hösli sagt: «Schliesslich leiden nicht alle Frauen mit dieser Genvariante an Hyperemesis.» Sie vermutet, dass es noch weitere Ursachen gibt, hormonelle, genetische sowie nicht genetische, die zusammen die Krankheit auslösen.
Betroffene brauchen bessere Behandlungsmöglichkeiten
In Jenny Merz’ Familie kam es gehäuft zu massiver Schwangerschaftsübelkeit mit Erbrechen. Eine starke genetische Ursache ist bei ihr daher wahrscheinlich. Ihre Schwester musste nur drei Tage ins Spital, aber die ständige Übelkeit hielt bei ihr neun Monate lang an. Das ist äusserst selten. Sie wolle keine weitere Schwangerschaft mehr auf sich nehmen, sagt Jenny Merz über ihre Schwester. Neue Behandlungsmethoden wären ein Hoffnungsschimmer.
In der Publikation wird die Möglichkeit erwogen, Frauen mit einem hohen Risiko für Hyperemesis vor der Schwangerschaft mit GDF15 zu desensibilisieren. Wenn man ihre eigenen Werte erhöht, reagieren sie womöglich nicht mehr so stark auf den Anstieg des Proteins, ähnlich wie die Frauen mit den chronisch erhöhten GDF15-Werten.
Daniel Surbek, Chefarzt Geburtshilfe und fetomaternale Medizin des Inselspitals Bern, schreibt dazu auf Anfrage: «Der Bedarf an neuen Behandlungsmöglichkeiten ist gross. Die Behandlungsansätze sind begrenzt. Leider ist der Weg dazu noch weit, weil aufwendige klinische Studien die Voraussetzung wären.»
Die Behandlung der Hyperemesis bleibt also schwierig. Weil es sich um eine heikle Phase der Schwangerschaft handelt, dürfen nur Medikamente verwendet werden, von denen man weiss, dass sie dem Kind nicht schaden. Und das sind wenige.
Die Behandlung beginnt mit Ernährungsempfehlungen und Komplementärmedizin. Wenn das nichts nützt, wird eine Kombination aus Vitaminen und Antihistaminika empfohlen. Wichtig sei, dass man früh genug mit einer Therapie beginne, damit es gar nicht erst zu einer starken Dehydrierung und Mangelerscheinungen komme, sagt Irene Hösli. Dadurch sei schon viel gewonnen.
Und plötzlich war die Übelkeit vorbei
Hätte die Behandlung bei Jenny Merz früher begonnen, wäre sie nicht ganz so ausgezehrt gewesen. Als sie Anfang 2018 aus dem Spital entlassen wurde, war sie immer noch sehr schwach. Ihre Eltern päppelten sie damals wieder auf.
Und so plötzlich, wie die Übelkeit gekommen war, war sie nach drei Monaten auch wieder vorbei. «Von da an habe ich stark zugenommen, es ging von einem Extrem ins andere», erzählt sie lachend. Als ihr gesunder Sohn geboren wurde, war sie versöhnt mit der schwierigen Schwangerschaft.
Trotz der Qual konnte sie sich ein Jahr später sogar für eine zweite Schwangerschaft entscheiden. «Ich wollte nicht, dass mein Sohn ein Einzelkind bleibt», sagt sie.
Ihre Eltern hatten ihre Unterstützung zugesichert. Sie kümmerten sich um den Enkel, als die Tochter ein zweites Mal unter Hyperemesis litt und ins Spital musste – diesmal nur für zwei Wochen. «Und ich habe es psychisch besser vertragen. Ich wusste, nach drei Monaten ist die Übelkeit vorbei.» Damit sollte sie recht behalten. Und auch die Freude über den zweiten Sohn war riesig.