BMW und Mercedes haben schon autonom fahrende Autos. Bis jetzt dürfen sie aber noch nicht alles. Ein Selbstversuch zeigt, was uns in den kommenden Jahren bevorsteht.
Matthias Kaiser sucht den nächsten Stau. Was andere Autofahrer zu umfahren versuchen, ist sein Arbeitsplatz. Der Ingenieur entwickelt bei Mercedes Systeme für hochautomatisiertes Fahren und testet die neu entwickelten Systeme am liebsten im realen Verkehr. Wir begleiten ihn heute, um zu testen, was der Mercedes EQS in Sachen autonomes Fahren kann – und was nicht.
Kaiser hat klare Vorstellungen davon, was ein Fahrzeug können muss, um eines Tages autonom, also ohne Eingriff eines Piloten am Steuer, fahren zu können. «Was wir heute entwickeln, erreicht die Autonomiestufen 2 und 3», erklärt er. Das bedeutet, dass Autos in bestimmten Situationen, bei bestimmten Geschwindigkeiten und nur auf ausgewählten Strassen eigene Fahrentscheidungen treffen können. Das ultimative Ziel wäre die Autonomiestufe 5, bei der der Mensch weder Lenkrad noch Pedale benötigt, sondern sich während der Fahrt auf den Rücksitz legen, lesen oder schlafen kann.
«Das ist der Unterschied», erklärt Matthias Kaiser in seiner oft humorvollen Art. «Wenn ich dem Auto sage, es solle zum Burger-Restaurant fahren, bringt es mich auf Autonomiestufe 3 dorthin. Fährt es auf Stufe 5, bringt es mich stattdessen ins Fitnessstudio.»
So weit denkt ein Mercedes noch nicht mit. Aber die neuen Fahrzeuge wie E-Klasse, EQS und EQE verfügen bereits über drei redundante Algorithmen für das automatisierte Fahren. Diese sind notwendig, um auf alle möglichen Fahrsituationen vorbereitet zu sein. Eines der Programme erkennt zum Beispiel ein Hindernis auf der Fahrbahn durch ein Radarsystem mit einem Blickwinkel von 80 Grad. Das zweite System berechnet, wie das Hindernis umfahren werden kann, das dritte beurteilt die Beschaffenheit des Hindernisses: Handelt es sich um Herbstlaub, kann es umfahren werden.
Alle Systeme sind über das Internet mit Navigationsprogrammen verbunden. Was aber, wenn die Internetverbindung ausfällt? «Das Bordnetz verfügt über eine Notfallebene, in der es autark weiterarbeiten kann», erklärt Kaiser. «Und der Fahrer kann jederzeit das Steuer übernehmen.»
Erster Schritt zu Autonomiestufe 3
Derzeit arbeiten automatisierte Fahrsysteme bei vielen Fahrzeugen anderer Hersteller noch auf Autonomiestufe 2. Neu beim Stuttgarter Autobauer ist die Erweiterung des Systems, das bei Mercedes «Drive Pilot» heisst, auf Stufe 3, bei der die Hände des Fahrers auch einmal nicht am Lenkrad sind und die Augen nicht die Strasse beobachten müssen. Noch ist dies aufgrund einer Versuchsanordnung der deutschen Behörden allerdings nur auf mehrspurigen Strassen und nur bis zu einer Geschwindigkeit von 60 km/h erlaubt.
Auf der Autobahn bedeutet das, dass der Drive Pilot derzeit nur im Stau oder bei stockendem Verkehr getestet werden kann. Genau deshalb ist der Versuchsleiter Kaiser immer auf der Suche nach dichtem Verkehr rund um Stuttgart. Intern nennt man ihn scherzhaft den «Stau-Sommelier», der immer ein gutes Gespür für Stausituationen auf den Autobahnen rund um das Stuttgarter Kreuz hat.
Zusammen mit Kaiser im Versuchswagen und begleitet von einem Testfahrer in einem zweiten Fahrzeug geht es auf die A 8 zwischen Stuttgart-Feuerbach und Pforzheim. Das Staumeldesystem zeigt Kaiser Geschwindigkeiten um die 60 km/h an – die ideale Testsituation. Sie dürfte oft gegeben sein, wenn man den häufigen Staumeldungen im Radio für diese Region Glauben schenkt.
«Aber so trivial ist das nicht», erklärt Kaiser. «Insgesamt 2700 verschiedene Bedingungen müssen erfüllt sein, damit der Drive Pilot auf Autonomiestufe 3 funktioniert.» So fragt der Drive Pilot beispielsweise bei der Mercedes-Fahrleitzentrale ab, ob es auf der Strecke Baustellen gibt. Ist dies der Fall, erhält das System keine Freigabe für das automatisierte Fahren.
Es ist so weit, der Verkehr auf der dreispurigen Fahrbahn verengt sich zusehends. Kaum sind wir unter 60 km/h, geht es auch schon wieder flüssig weiter. Also ab zur nächsten Ausfahrt und auf dem Rückweg auf einen neuen Stau hoffen.
Wir haben Glück – wenn man bei einem Stau überhaupt von Glück sprechen kann. In unserem Fall steht der Verkehr. Per Druck auf eine Taste im Lenkradkranz aktivieren wir den Drive Pilot. Matthias Kaiser kontrolliert, ob alles funktioniert. Das ist der Fall, also ruft er auf dem Infotainment-Bildschirm ein Videospiel auf. Ein einfaches Tennisspiel im Stil des guten alten «Pong» aus den siebziger Jahren soll uns ablenken.
«Nicht immer auf die Strasse schauen», mahnt Kaiser. Das fällt uns schwer, noch trauen wir dem Drive Pilot nicht. Nach ein paar Kilometern im Stau klappt es halbwegs, aber irgendwie können wir die Verantwortung nicht ganz an das Auto abgeben. Das virtuelle Tennismatch verlieren wir klar. Und dann ist der Stau auch schon wieder vorbei, es geht zurück ins Labor im Mercedes-Werk Sindelfingen.
«Wären wir jetzt in Los Angeles, hätten wir viel mehr Zeit zum Testen», erklärt Matthias Kaiser, der mit seinem Team auch häufig zu Drive-Pilot-Tests in der kalifornischen Metropole unterwegs ist. «Dort gibt es auf den Stadtautobahnen bis zu 100 Minuten Stau am Stück – da habe ich dank Drive Pilot schon ganze Kinofilme wie ‹The Matrix› genossen.» Allerdings schränkt die niedrige Geschwindigkeit von 60 km/h die Funktionsweise des automatisierten Fahrsystems doch deutlich ein.
«Bis Ende 2024 soll der Drive Pilot bereits bei 90 km/h funktionieren», verrät der Testingenieur. «Bis 2030 wollen wir ihn auf Geschwindigkeiten von 130 km/h weiterentwickeln.» Möglich werden diese Fortschritte durch weiterentwickelte Soft- und Hardwaresysteme sowie eine noch bessere Datenbasis. In einigen Versuchsfahrzeugen sammeln die Rechner lokal bis zu 50 Terabyte an Daten, die per Datenkabel an die Hauptsysteme im Labor übertragen werden.
Das Auto wird zur Sensorzentrale
Insgesamt 35 Sensoren sorgen schon heute für präzises Fahren auf Level 3 ohne Zutun des Fahrers, davon allein 5 Radarsensoren an der Fahrzeugfront und hinter dem Rückspiegel. 12 Ultraschallsensoren messen Abstände zu Hindernissen, je 2 Multimode-Sensoren an Front und Heck liefern Umfelddaten. Hinzu kommen ein Lidar-System zur dreidimensionalen Erfassung der Umgebung sowie eine Hochleistungsantenne zum Empfang von Positionsdaten der Navigationssysteme GPS, Galileo, Glonass (Russland) und Baidu (China).
Zusammen mit dem eigenen hochaufgelösten Kartenmaterial und den Sensoren ergeben sich drei Datenebenen für die Fahrpräzision. «Das haben andere Hersteller noch nicht», sagt Kaiser.
Damit lässt sich das Fahrzeug in der Navigation bis auf 10 Zentimeter genau positionieren. Doch damit gibt sich Mercedes nicht zufrieden, wie Matthias Kaiser stolz erklärt: «Wir haben sogar die Kontinentaldrift, also die tektonische Verschiebung der Erdoberfläche, in die Positionierung mit einbezogen. Auf jedes Detail wird geachtet.»
Eine spezielle Heckkamera beobachtet den Verkehr hinter dem Auto. «Nähert sich ein Krankenwagen, ein Feuerwehrauto oder ein anderes Einsatzfahrzeug mit Blaulicht, erkennt das die Kamera und deaktiviert den Drive Pilot – der Fahrer wird aufgefordert, wieder selbst zu übernehmen», erklärt Kaiser.
Ein weiteres System überwacht den Zustand der Fahrbahn. «Ein hochempfindliches Piezomikrofon mit Keramikmembran nimmt die Abrollgeräusche der Räder auf. Ist es nass, erkennt das System, dass es den Bremsweg länger berechnen muss.» Kameras in den Seitenspiegeln des Mercedes erkennen die seitliche Begrenzung der Fahrspur und ermöglichen ein automatisches Ausweichen nach aussen, um eine Rettungsgasse zu bilden.
Der Fahrer des Mercedes EQS wird vom Drive Pilot also rundum überwacht. Dazu gehört auch eine Kamera im Kombiinstrument vor dem Lenkrad. Sie prüft, wie müde der Fahrer ist und ob er vielleicht eine Pause braucht. Alles ist erlaubt, kann aber auch abgeschaltet werden. Beruhigend.