Das deutsche Duo, das bloss so tat, als sänge es, hat exemplarisch gezeigt, wie die Pop-Musik bisweilen auf Illusionen und Fälschungen setzt. Gleich zwei Filme rollen die Erfolgs- und Skandalgeschichte neu auf.
Im November 1990 reist der deutsche Musikproduzent Frank Farian Hals über Kopf in die USA, um im Rahmen einer Medienkonferenz die Wahrheit über Milli Vanilli aufzudecken. Bei dem deutschen Pop-Duo, das selber nie wirklich sang, handle es sich um eine Art Kunstprojekt, nicht um Betrug.
Zwei Jahre zuvor hatte Farian «Girl You Know It’s True», einen Song der amerikanischen Band Numarx, übernommen und mit Synthi-Klängen neu arrangiert. Im Studio wurde die Gesangsmelodie von routinierten Sängern aufgenommen. Auf der Bühne und im Video aber traten zwei Schönlinge als Sänger in Erscheinung – ohne dass ihre eigenen Stimmen zu hören waren. Denn Robert «Rob» Pilatus und Fabrice «Fab» Morvan gaben mit lippensynchroner Mimik bloss vor, die Interpreten zu sein.
Das Täuschungsmanöver war eigentlich erfolgreich. Rob und Fab liessen sich unter dem Namen Milli Vanilli – eine Idee von Farians Sekretärin – bald als Stars feiern. «Girl You Know It’s True» wurde zum Hit. Dass Farian das Geheimnis schliesslich lüftete, lag an der schwindenden Kontrolle über die beiden Performer, die sich immer verdächtiger machten mit ihrem hochtrabenden Star-Getue. Mit dem Gang vor die Öffentlichkeit konnte er seinen Ruf noch halbwegs retten. Rob und Fab hingegen, die sich später in einer eigenen Pressekonferenz bei den Fans entschuldigten, ernteten den Hohn und den Hass des empörten Publikums.
Die Komik des Skandals
Die öffentlichen Erklärungen von Frank Farian und Milli Vanilli zählen zu den Schlüsselszenen in Simon Verhoevens Biopic «Girl You Know It’s True», das die Erfolgs- und Skandalgeschichte von Milli Vanilli aufrollt. Das ist aber nicht der einzige neue Film über das deutsche Pop-Duo. Dass für die Streaming-Plattform Paramount Plus gerade auch die Dokumentation «Milli Vanilli» produziert worden ist (Regie: Luke Korem), unterstreicht die Aktualität des Stoffes.
Der Fall Milli Vanilli ist tatsächlich exemplarisch für die Illusionsmaschinerie der Pop-Kultur. Wo der Mensch Schwächen und Grenzen aufweist, wird hier unverfroren auf Fake gesetzt – auf Filter, Tricks und Playback. Angesichts von KI und den Möglichkeiten, den humanen Anteil auf ein Minimum zu reduzieren, mag das Täuschungsmanöver von Farian, Fab und Rob heute fast harmlos wirken.
Das erklärt auch, weshalb Korem und vor allem Verhoeven die Komik des historischen Pop-Skandals hervorheben: Die beiden Protagonisten des Kinofilms – sehr überzeugend verkörpert von Tijan Njie und Elan Ben Ali – tragen ein entwaffnendes, treuherziges Grinsen im Gesicht, wann immer sie von ihrer Hinterlist erzählen.
Die dramatische Spannung verdanken der Spiel- und der Dokumentarfilm aber auch der wechselhaften Lebensgeschichte der Pseudostars. So ist es kein Zufall, dass beide Produktionen, obwohl unterschiedlich im Modus, sehr ähnlich strukturiert sind. Da wie dort folgt die Erzählung dem roten Faden von Biografie und Chronologie. Die stürmischen Auftritte und das schwelgerische Leben der Wannabe-Stars werden mitunter von Verwandten und Vertretern der Musikindustrie kommentiert.
Im Mittelpunkt stehen indessen die Zeugnisse der Protagonisten selbst. Wo im Spielfilm das Duo für einen narrativen Wechselstrom sorgt, muss Fabrice Morvan im Dokumentarfilm solo auftreten. Robert Pilatus hat das Ende der Band nicht überlebt, auf die Pop-Karriere folgte der Absturz in die Drogen, der mit einer Überdosis tragisch endete.
Aus Fabrice Morvan ist unterdessen zwar tatsächlich ein Pop-Sänger geworden, er muss sich allerdings mit kleinen Bühnen begnügen. Rückblickend erzählt er, wie er, geboren 1966 in Paris und aufgewachsen bei der Mutter, sich während der 1980er Jahre in München als Model und Tänzer verdingte. Dabei lernte er Robert Pilatus kennen, der vierjährig von deutschen Eltern adoptiert worden war. Die beiden zogen als einzige Schwarze gemeinsam durch die Münchner Nachtwelt und setzten sich tanzend im Hintergrund billiger Pop-Videos in Szene.
Performer statt Interpreten
Dabei reifte die Idee, sich selbst als Pop-Stars zu versuchen. In Gedanken an Stars wie Michael Jackson oder Bob Marley dachten sie zunächst an ihre äussere Aufmachung, um sich gleich auf eine charakteristische Frisur zu einigen – überlange, feine Dreadlocks. Ihrer modischen Erscheinung verdankten sie tatsächlich die Aufmerksamkeit Frank Farians. Für sein Disco-Band-Projekt Bonny M. hatte dieser auf die erotische Ausstrahlung des afroamerikanischen Frontmanns Bobby Farrell gesetzt; weil Farrell nicht singen konnte, hatte Farian selbst den Gesangspart übernommen.
Für das Projekt Milli Vanilli setzte er auf eine ähnliche Rollenteilung zwischen Gesang und Performance. Dabei ging es nicht einfach um die physische Attraktivität der Darsteller, von entscheidender Bedeutung war ihre dunkle Haut, die sie nun zu Markte tragen sollten. Seit der Disco-Mode galten schwarze Pop-Stars im weissen Mainstream per se als so sexy wie musikalisch.
Der ins Positive gewendete Rassismus hat die Glaubwürdigkeit von Milli Vanilli untermauert. Publikum und Musikbusiness betrachteten ihre Musikalität als so selbstverständlich wie ihren Sex-Appeal. Und während europäische Pop-Stars sonst oft jahrelang auf Anerkennung in den USA warten müssen, begrüsste das amerikanische Publikum Rob und Fab sofort wie eigene Söhne. Die Popularität von Hits wie «Baby, Don’t Forget My Number» oder «Blame It On The Rain» trug Milli Vanilli auf immer grössere Bühnen. 1990 landeten sie gar in der Grammy-Verleihung, wo sie den Award als «Beste Newcomer» abholten, um dann mit Playback aufzutreten.
Sie hätten damals «die Lüge umarmt», sagt Fabrice Morvan. Tatsächlich liessen sie sich von der leeren Hybris zu erstaunlichen Aussagen hinreissen. Es sei schwieriger, einen Milli-Vanilli-Titel zu singen als einen Beatles-Song, soll Rob behauptet haben. Nach dem Hochmut aber kam prompt der Fall. Nachdem bei einem Konzert das Playback steckengeblieben und eine zufällige Phrase endlos wiederholt worden war, mussten Rob und Fab von der Bühne fliehen. Später weckte auch der Playback-Auftritt bei der Grammy-Verleihung die Skepsis in der Öffentlichkeit. Die Musikindustrie verdiente allerdings so gut am Erfolg von Milli Vanilli, dass niemand scharf war auf die Wahrheit.
Das längliche Ende
Dass ausgerechnet Frank Farian zum Spielverderber wurde, hatte ebenfalls mit Geld zu tun. Um den Produzenten zu grösseren Zahlungen zu zwingen, hatten Rob und Fab ihm gedroht, selbst mit einem Geständnis an die Öffentlichkeit zu gehen. Den Erpressungsversuch seiner frechen Pop-Zöglinge bestrafte der Pop-Produzent, indem er ihrer Karriere ein jähes Ende bereitete.
Die beiden Filme erleiden zuletzt ein ähnliches Schicksal wie ihre falschen Helden. Der Aufstieg von Milli Vanilli bietet ihnen Farbe, Dynamik und Glamour. Die Entlarvung des Fake-Projekts sorgt für einen dramatischen Höhepunkt. Dann aber ist die Luft draussen. In dem Versuch, Rob und Fab auf ihrem traurigen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit zu begleiten, führen beide Filme zuletzt selbst in die Untiefen von Langweile und Verzettelung.