Die herausragende Position des Technologie- und Weltmarktführers bei grossen bildgebenden Geräten schlägt sich im Aktienkurs nicht nieder. Die Labordiagnostik und der übergriffige Grossaktionär Siemens beeinträchtigen das Bild. Die Nummer neun im Dax bleibt ein Hoffnungswert.
Ob seit Jahresbeginn oder über fünf Jahre: Europas grösstes Medizintechnikunternehmen Siemens Healthineers hängt beim Aktienkurs über die meisten Zeiträume hinter dem deutschen Aktienindex Dax und hinter dem EU Healthcare Index zurück. Selbst der krisengebeutelte niederländische Rivale Philips hat seit Anfang 2024 besser abgeschnitten.
Ab vergangenem Mittwoch, nach dem Bericht über das Schlussquartal des Geschäftsjahres 2023/24 (per Ende September), schoss der Kurs wenigstens auf das Niveau von Anfang 2024 zurück. Zuvor hatte die Zurückhaltung der Kunden in China wegen der dortigen Antikorruptionskampagne der Zentralregierung lange auf die Stimmung gedrückt.
Dass das mit 57 Mrd. € Börsenwert neuntschwerste Dax-Unternehmen mit einem starken Schlussquartal seine Jahresprognose erreichte, daran hatten viele Investoren nach einer Prognosesenkung von Philips Ende Oktober nicht mehr geglaubt. Die Ergebnisse seien «viel besser als befürchtet», kommentierte Stifel-Analyst Dylan Van Haaften.
Das vierte Quartal war das stärkste – wieder einmal
Die «Erleichterungsrally» (David Schäfer, Fondsmanager von Union Investment) kam auch, weil der Ausblick realistischer und damit glaubwürdiger ausfiel als befürchtet: Healthineers-Konzernchef Bernd Montag und Finanzchef Jochen Schmitz prognostizieren für das laufende Geschäftsjahr 5 bis 6% Umsatzanstieg und einen Gewinn je Aktie von 2.35 bis 2.50 €. Die Vorperiode wurde mit einem Umsatzplus von vergleichbar 5,2% (Prognose: 5 bis 7%) auf 22,4 Mrd. € und einem Gewinn von 2.23 € (Prognose: 2.10 bis 2.30 €) je Aktie abgeschlossen.
«Historisch war Siemens Healthineers immer eher zu optimistisch. Daraus hat man gelernt und nun einen konservativen Ansatz gewählt», lobt Union-Fondsmanager Schäfer. Der neuen Prognose zugrunde liegt die Annahme, dass der Umsatz in China im ersten Halbjahr um einen mittleren bis hohen einstelligen Prozentsatz sinken und im zweiten – gegenüber einem schwachen Vorjahreswert – stabil bleibt.
Vorsichtig («prudent») nennt das Management dies, da es Raum lässt, die Ziele zu übertreffen. «Viel besser» sei diese Art der Kommunikation, findet auch Stefan Blum, Portfoliomanager der Schweizer Fondsgesellschaft Bellevue Asset Management. Blum hat Siemens Healthineers in seinem Medtech & Services Fonds übergewichtet.
Die 75%-ige Siemens-Tochter besticht durch eine herausragende Marktposition in der bildgebenden Diagnostik (Imaging) sowie – seit dem Kauf des US-Weltmarktführers Varian – auch in der Strahlentherapie. Bei Grossgeräten wie Computertomographen (CT) und Magnetresonanztomographen ist Healthineers seit je Qualitäts-, Technologie- und Weltmarktführer vor der ehemaligen General-Electric-Sparte GE Healthcare sowie Philips. Die Ebit-Marge der Imaging-Sparte betrug im vergangenen Geschäftsjahr 21,8%.
Siemens könnte den CT-Markt auf Jahre dominieren
Der Medtech-Markt wächst strukturell, da die Weltbevölkerung zunimmt und die Menschen immer älter werden. Zugleich sind die Eintrittsbarrieren im innovationsgetriebenen Imaging-Geschäft besonders hoch: Der Markt für Grossgeräte war jahrelang ein Oligopol der drei Anbieter Siemens, GE und Philips.
Zwar greifen chinesische Wettbewerber mit United Imaging an der Spitze stärker an. Dies dürfte aber vor allem Philips treffen, der allmählich die kritische Masse für die teure Forschung und Entwicklung fehlt. GE Healthcare profitiert vom starken US-Heimatmarkt und ihrer Weltmarktführerschaft bei den kleineren Ultraschallgeräten, die in den meisten Arztpraxen zu finden sind.
Nach den Magnetresonanztomographen hat sich Healthineers zuletzt auch bei CT technologisch an die Spitze gesetzt – mit der Chance, diesen Markt auf Jahre zu dominieren.
Anfang Dezember wird Healthineers auf der RSNA, der von der Radiological Society of North America ausgerichteten Weltmesse für Radiologen, ihren bisher nur in Forschungseinrichtungen eingesetzten «Photon-Counting CT» erstmals in einer günstigeren, für kommerzielle Krankenhäuser attraktiven Variante vorstellen. Dann würden Investoren womöglich realisieren, dass Healthineers sein Wachstum beim Verkauf von CT beschleunigen werde, vermuten die Analysten von Stifel.
Das Besondere am photonenzählenden CT: Er ermöglicht eine verlässliche Diagnose über den Zustand der Herzkranzgefässe, ohne dass dafür ein chirurgischer Eingriff nötig ist. Ein grosser Fortschritt, werden doch 60% der invasiven Kathetereingriffe nur zur Diagnose durchgeführt. CEO Montag prognostiziert, die Technologie werde «über die Zeit der Standard in der gesamten CT-Industrie», vergleichbar mit den vor einem Vierteljahrhundert eingeführten «Multislice»-CT (Mehrzeilen-CT).
Healthineers hat die photonenzählende CT als erste am Markt eingeführt und gegenüber der Konkurrenz laut Montag fünf Jahre Vorsprung. Dies werde so bleiben, «weil wir auch in der Industrialisierung und der Weiterentwicklung der Applikationen schon weiter sind». Die Stifel-Analysten rechnen vor, dass von den 70‘000 weltweit installierten CT etwa 30‘000 in den nächsten fünf Jahren ersetzt werden müssen. CT tragen bei Healthineers derzeit etwa einen Drittel zum Umsatz der Imaging-Sparte von zuletzt 11,8 Mrd. € bei.
Montag hatte die 2003 begonnene Entwicklung photonenzählender CT persönlich vorangetrieben, erst als CT-Chef, dann als Imaging-Chef und ab 2015 als Konzernchef. «Um ein solches High-Tech-Produkt zu entwickeln und dann auch produzieren zu können, braucht es einen sehr langen Atem», lobt Bellevue-Fondsmanager Blum. «Das kann nicht jeder».
Kräftiges Wachstum bei höherer Marge verspricht auch der 2021 für 16,4 Mrd. $ akquirierte Strahlentherapiespezialist Varian. Nach anfänglicher Schwäche profitiert Varian zunehmend von Synergien mit Siemens Healthineers, auch dank deren globaler Aufstellung.
«Varian läuft extrem gut und passt auch von der Kultur her gut», konstatiert Blum. «Der einzige Rivale Elekta aus Schweden hinkt Meilen hinterher.»
In der Bildgebung und Strahlentherapie sind Marktpositionen, Wachstum und Marge so gut, dass Siemens Healthineers eigentlich eine kräftige Bewertungsprämie gegenüber GE Healthcare und Philips verdient hätte.
Dennoch notieren die Aktien des Konzerns derzeit nur beim 20-fachen des für 2025 erwarteten Gewinns und damit unter den 23, die man im Schnitt seit dem Börsengang 2018 zahlen musste. Schweizer Medtech-Marktführer wie Alcon und Straumann sind erheblich höher bewertet.
The Market beschreibt die Ursachen des Bewertungsrückstands und diskutiert, ob sie überwunden werden können.
1. Die jüngere Börsenhistorie ist gemischt
Nach dem Börsengang 2018 konnte das Management lange überzeugen und veröffentlichte im November 2021 für 2023 bis 2025 ehrgeizige Ziele für das Wachstum von Umsatz (vergleichbar jährlich +6 bis 8%) und bereinigtem Gewinn je Aktie (jährlich +12 bis 15%). Der Aktienkurs erreichte sein Rekordhoch von 67 €.
Dann aber verdarben mehrere Faktoren die Pläne: der Ukrainekrieg mit der folgenden Inflation, Turbulenzen bei Varian, die schwierige Sanierung der Labordiagnostik und ein Abschreiber auf die 2019 für 1 Mrd. € akquirierte US-Chirurgierobotikfirma Corindus. Mitte 2023 machte die Anweisung von Chinas Zentralregierung, die Beschaffung im Gesundheitswesen mit Blick auf mögliche Korruption zu untersuchen, die dortigen Krankenhäuser nervös.
Bei der Prognose vor einem Jahr ging das Management davon aus, dass die Zurückhaltung der chinesischen Kunden sich bis zum Chinese New Year im Februar 2024 gelegt haben wird. Dieser Vorhersage lief man seither hinterher. Der Vertrauensverlust wiegt schwer, soll aber nun mit der Änderung der Kommunikationsstrategie wettgemacht werden.
2. Das China-Risiko
Experten schätzen, dass auch nach dem Ende der Antikorruptionskampagne das frühere Wachstum in China nicht zurückkehrt. «Der Druck der Zentralregierung, einheimische Hersteller zu bevorzugen, steigt», sagt Alexander Brown, Analyst des Mercator Institute for China Studies (Merics) in Berlin.
Noch produzieren lokale Anbieter wie United Imaging eher einfachere Maschinen. Sie legten jedoch auch an Kompetenz im Bereich der High-End-Geräte zu und seien auf bestem Weg, auch hier Marktanteile zu gewinnen, glaubt Brown. Gemessen an den Stückzahlen haben die westlichen Anbieter in China bereits in den vergangenen Jahren massiv Anteile verloren, wenn auch in einem schnell wachsenden Markt.
Gemessen am Wert der in China verkauften Imaging-Geräte ist Healthineers nach eigenen Angaben die Nummer eins vor GE und United Imaging.
Das Risiko scheint begrenzt zu sein: Durch das starke Wachstum in anderen Regionen, besonders in den USA (+11%), ist Healthineers‘ China-Anteil im vergangenen Geschäftsjahr um 2 Prozentpunkte auf 11% gesunken.
3. Die Labordiagnostik ist ein Klotz am Bein
Zur Labordiagnostik kam Healthineers durch einen historischen Irrtum der Mutter: Siemens kaufte 2006 und 2007 für 11 Mrd. € drei Hersteller von Laborsystemen, um diese gemeinsam mit den bildgebenden Geräten zu vertreiben. Doch die budgetierten Synergien realisierten sich nie.
Erst beim Börsengang 2018 wurde mit Atellica eine erste gemeinsame Laborplattform präsentiert. Vor zwei Jahren rang sich das Management durch, die Vorgängersysteme auslaufen zu lassen, obwohl dadurch erst einmal Einnahmen verlorengehen. Inzwischen wächst der Verkauf der Atellica-Systeme kräftig, doch die Marge steigt nur langsam. Denn das Geld wird nicht mit dem Verkauf der Anlagen, sondern mit dem Verkauf der Tests verdient. Nach 5,3% Ebit-Marge in 2023/24 soll die Sparte im laufenden Geschäftsjahr 200 bis 400 Basispunkte mehr liefern.
Mit ihrem schwachen Wachstum und der mickrigen Marge verstellt die Sparte den Blick auf die Stärke der anderen Geschäfte. «Die Labordiagnostik war seit Jahren eine Bremse», sagt Union-Mann Schäfer. Gemäss Finanzkreisen hat das Management vor einem Jahr einen Verkauf analysiert, aber verworfen.
Stattdessen erzählt Montag die Story, man habe «zwei Kerne»: die Geschäfte rund um Imaging sowie die Labordiagnostik. Immerhin scheint er keine übergrosse Bindung zu spüren: «Es ist keine Religion, im Labordiagnostikgeschäft zu sein, aber wir fühlen uns mit der Situation sehr wohl.» Blum plädiert dafür, die Sparte weiter zu sanieren, bevor man sie verkauft oder an die Börse bringt: 10% Marge solle sie dafür schaffen, «das kann noch ein bis anderthalb Jahre dauern».
Konzerninsider halten es allerdings für fraglich, ob Grossaktionär Siemens eine Trennung von der Sparte erlauben würde.
4. Der bremsende Grossaktionär
Neben der Labordiagnostik ist der Siemens-Anteil von 75% der wohl stärkste Deckel auf dem Healthineers-Kurs. Insidern zufolge melden immer wieder bedeutende Pensionsfonds Interesse an, grössere Aktienpakete zu erwerben, verwerfen dies aber wegen des geringen Streubesitzes und der niedrigen Liquidität der Aktien.
Ende Oktober keimte Hoffnung auf, als Siemens‘ Finanzchef Ralf Thomas ankündigte, zur Finanzierung der 10 Mrd. $ schweren Altair-Übernahme möglicherweise 5% abzustossen. Siemens‘ Aktionäre fordern seit langem eine Reduktion oder Abtrennung des Healthineers-Anteils. Allerdings bleibt abzuwarten, ob Siemens die Aktien wirklich verkauft. Die Verringerung auf 72%, die Siemens bei der Varian-Übernahme ankündigte, trat nie ein.
Bei Siemens-CEO Roland Busch gebe es eine «feste emotionale Barriere» gegen die Anteilsreduktion, sagt ein Siemens-Manager. Die Abnabelung verlaufe schwierig, auch wenn Montag offiziell proklamiert, keinen direkten Einfluss der Mutter zu verspüren. Erst seit dem Frühjahr 2024 hat Healthineers einen mitbestimmten Aufsichtsrat, dem Siemens-Finanzchef Thomas vorsitzt. Manche klagen, sie fühlten sich fast geführt wie eine Siemens-Division.
Fazit: Siemens Healthineers ist einer der wenigen kotierten Hightech-Marktführer aus Deutschland. Allein Marktposition und Perspektiven bei Imaging sollten höhere Kurse rechtfertigen. Medtech war zuletzt an der Börse zwar angesichts einer scheinbar unendlichen Tech-Rally weniger en vogue; das kann sich schnell ändern. Die Labordiagnostik und Grossaktionär Siemens dürften das Kurspotenzial aber noch auf absehbare Zeit in Grenzen halten.