Wir leben im Zeitalter der Entzauberung. Wie geht man damit um? Cancel-Culture schafft jedenfalls nie das Schlechte aus der Welt.
Der Mensch ist ein Ordnungstier, er sortiert gerne, sogar die Dekaden. Die 1950er stehen für Biederkeit, die 1960er für Umbrüche, die 1990er für Hedonismus. Die 2020er Jahre gelten vielleicht einmal als das Jahrzehnt der Entzauberung, der Desillusionierung. Selten haben sich so viele Idole und Autoritäten in so kurzer Zeit selbst desavouiert, selten herrschte deswegen so viel öffentliche Erregung und Empörung. Stars, Prominente, Persönlichkeiten irritieren und enttäuschen, zu Lebzeiten oder postum, durch krude Äusserungen, durch anstössiges oder straffälliges Verhalten.
Menschen, zu denen man seit halben Ewigkeiten aufgeschaut hat, weil sie Grosses geschaffen oder geleistet haben – grandiose Musik komponiert, kluge Dinge geschrieben, Wissenschaften gefördert, Unrecht bekämpft –, entpuppen sich plötzlich als Pädophile, Putin-Sympathisanten, Frauenverprügler oder Judenhasser.
Überall gute Menschen?
Das Sünder- und Sündenregister ist lang, ein paar Beispiele: Der Pink-Floyd-Frontmann Roger Waters geriert sich als Antisemit und Israel-Boykotteur und unterstützt die Mär, die Nato sei schuld an Russlands Überfall auf die Ukraine. Der Vorzeige-Dissident Chinas und Liebling westlicher Kuratoren und Kunstkritiker Ai Weiwei kritisierte kürzlich die «signifikante Präsenz von Juden in den USA». Clarence Thomas, Verfassungsrichter der USA, liess sich, wie die Plattform Pro Publica recherchierte, über Jahre von einem Grossspender der Republikanischen Partei zu Luxusreisen, in VIP-Lounges von Stadien und auf Golfplätze der Schönen und Reichen einladen.
Die Sopranistin Anna Netrebko sympathisierte mit Putin. Die kanadische Literaturpreisträgerin Alice Munro wusste, dass ihr zweiter Mann ihre Tochter Andrea als Kind jahrelang sexuell missbraucht hatte, aber sie schwieg und hielt zu ihm, über dreissig Jahre lang. Der Dalai Lama forderte einen Jungen auf, seine Zunge zu lutschen. Der US-Bürgerrechtler Martin Luther King hat laut Jonathan Eigs jüngst erschienener King-Biografie in seinen 39 Lebensjahren weit mehr betrogen und plagiiert, als man bisher geahnt hatte.
Geschichte handele fast nur von schlechten Menschen, die später gutgesprochen worden seien, befand Friedrich Nietzsche. Heute verhält es sich umgekehrt: überall gute Menschen, die später als Schurken auffliegen.
Wie geht man damit um? Darf man noch über Bill Cosby, der Frauen sexuelle Gewalt antat, und seine Sketche lachen? Kann man weiter zu Michael Jacksons «Beat It» tanzen, obwohl der kleine Jungs befummelte? Sollte man die tausend Strassen, die hundert Schulen in den USA, die Martin Luther Kings Namen tragen, umbenennen?
Oft geht es um Geschmacksgrenzen
Geht das überhaupt, zu unterscheiden zwischen Künstler und Werk, zwischen Person und Produkt, Leistung, Worten, Taten? Nein, geht nicht, heisst es von Anklägerseite, das wäre unmoralisch, es würde die Opfer verhöhnen, Boykott muss sein, also canceln. Doch die Cancel-Culture hat sich disqualifiziert. Zu oft wird in ihrem Namen eingeschüchtert und denunziert, zu oft geht es nur um Geschmacksgrenzen statt um erwiesene Missetaten, zu selten um frauenhassende, gewaltverherrlichende Texte von Rappern und Hip-Hoppern; denn die sind mehrheitlich schwarz und stehen damit unter Minderheitenschutz.
Cancel-Culture zielt vor allem auf die selbstbestimmten Feinde einer selbsterklärten linken Moralpolizei. Sie mag das eine oder andere Gewissen beruhigen, sie schafft aber nicht das Schlechte aus der Welt. Natürlich kann man Bücher aus Bibliotheken bannen, Konzerte absagen, Biografien einstampfen, Verträge kündigen; doch in letzter Konsequenz wäre nur noch die astreine Kunst makelloser Künstler gelitten – so wie es autoritäre Regime handhaben.
Das Böse unterscheidet nicht zwischen Celebritys und Staubgeborenen, und Berühmtsein bewahrt nicht vor Schandtaten. Solche Tatsachen gehen gerade im Lärm der Entrüstungsreflexe unter. Caravaggio war wegen Totschlags verurteilt und aus Rom verbannt. Norman Mailer stach 1960 im Rausch auf seine Frau ein. William Burroughs erschoss die seine, ebenfalls besoffen. Pablo Picasso war bekanntermassen sein Leben lang ein misogyner Mistkerl, Alfred Hitchcock ebenfalls.
Unsere Lieblinge benahmen sich immer schon daneben. «Menschen sind senkrechte Schweine», soll Edgar Allan Poe einst gesagt haben. John F. Kennedys, Martin Luther Kings oder Ike Turners Frauenverachtung und Untreue waren bereits zu deren Lebzeiten bekannt. Damals fiel anstössiges Verhalten Prominenter aber oft unter eine Art Immunität, oder auch unter Kunstfreiheit. Frauen, erst recht Kinder und Jugendliche, wurden in weiten Teilen der Gesellschaft nicht für voll genommen; mit Anschuldigungen gegen einen erfolgreichen Ehemann, Vater, Bekannten brauchten sie gar nicht erst zu kommen. Also ging vieles unter oder kam gar nicht erst auf.
«Parasoziale Beziehungen»
Was heute alles ändert, ist die Eigendynamik des Internets, die Pest viraler Dauerexponiertheit. Mit den #MeToo-Skandalen um Harvey Weinstein 2017 verselbständigten sich Sensibilität und Klagemut, aber auch Empörungskuscheln und Opferkult. Betroffene trauen sich aus der Deckung, es wird mehr bezichtigt und weniger toleriert. Soziale Netzwerke sind ein Brandbeschleuniger. Da ist zum einen der digitale Druck, als Promi Stellung zu beziehen, Privates zu posten, im Gespräch zu bleiben, die Follower bei Laune zu halten, ihnen Futter zu liefern. Und da ist zum anderen die Wirkung der Homestory auf Insta, des Strandfotos auf X, der Tour-Ankündigung auf Facebook: richtet sich natürlich alles an mich, direkt und persönlich. Taylor Swift, Elyas M’Barek, T. C. Boyle – meine Kultfiguren laden mich in ihr Leben ein.
Soziale Netzwerke stifteten «parasoziale Beziehungen», so die amerikanische Autorin Claire Dederer, und machten glauben, Künstler und Publikum seien einander vertraut. So entstünden Identifikationen, die anfällig seien für grosse Emotionen und eben auch für persönliche Enttäuschungen, wenn Vorbilder fehlträten. In ihrem Buch («Genie oder Monster: Von der Schwierigkeit, Künstler und Werk zu trennen», 2023) spricht Dederer von «enttäuschter Liebe». Denn jenseits des Aufmerksamkeit-Boheis lauert stets der Abgrund. Das digitale Gedächtnis vergisst nichts. Jede noch so alberne Äusserung, jeder noch so kleine Ausrutscher passiert im Scheinwerferlicht und kann zum Shitstorm mutieren.
Mit Erfolg und Ruhm geht keine höhere Moral einher, selbst wenn wir die unseren Ikonen so gerne umhängen. Im Gegenteil: Führt Ruhm nicht auf Abwege? Millionen Klicks auf Spotify oder Netflix, Millionen verkaufte und heruntergeladene Alben, Bücher oder Eintrittskarten können Allmachtsphantasien auslösen, das Gefühl, über Dingen, Menschen und Gesetzen zu stehen, sich mehr erlauben zu können als die armseligen Normalos da draussen, die einen unbeirrt zum Heiligen stilisieren.
Populärer als Jesus
Die wiederum machen es sich nicht nur mit Canceln zu einfach, sondern auch mit Bewundern. Klar, wer lässt sich nicht gerne von Kultfiguren blenden und einseifen? Fühlt sich gut an, macht Spass, pinselt den Bauch. «Das Herz will, was es will», schrieb Amerikas Nationaldichterin Emily Dickinson treffend. Einst erfolgreiche Unternehmer wie Jeffrey Epstein (der amerikanische Investmentbanker, der Minderjährige sexuell ausbeutete) oder René Benko (der österreichische Immobilienbankrotteur) wussten und wissen, wie man Verbündete ködert: indem man die Adabeis dieser Welt in seine Villen und auf seine Jachten einlädt und sie so in moralische Sippenhaft nimmt.
Fanatismus ist etwas sehr Menschliches – man möge sich Aufnahmen kreischender und ohnmächtiger Fans auf einem beliebigen Beatles-Konzert in Erinnerung rufen. Dasselbe gilt für Gnadenlosigkeit: Im Sommer 1966 verbrannten bibeltreue Christen in Tennessee und Mississippi Beatles-Platten – wegen Gotteslästerung. Die Beatles seien nun populärer als Jesus, hatte John Lennon gemeint. Eine Feststellung, so richtig wie rotzig.
Gerade weil das Web uns heute so viel wissen und teilhaben lässt, sollte man aufgeklärteren Zeiten auch aufgeklärteres Verhalten abverlangen. Der Vergötterung Nüchternheit beimischen, das würde vor Dederers «enttäuschter Liebe» schützen. Man krame Roland Barthes’ Aufsatz «Der Tod des Autors» (1968) hervor. Der französische Literaturkritiker forderte damals, mündige Leser möchten den Inhalt eines Werks bitte schön eigenverantwortlich deuten.
Man könnte sich an Daniel Barenboim ein Beispiel nehmen. Er, der Jude, schätzt, wie er es nennt: die «musikalische Einzigartigkeit» eines Richard Wagner, Verfasser antisemitischer Hetzschriften wie «Das Judenthum in der Musik» (1869). Von Stummschalten hält Barenboim nichts. Er dirigiert Wagner, sogar in Israel. Er hält die Debatte um einen umstrittenen Komponisten wach – indem er ihn aufführt.
Ein Patentrezept gibt es nicht. Idole von heute können sich morgen als Mogelpackung erweisen. An ihren Werken sollte man sich weiter ergötzen, alles andere Staatsanwälten und Richtern überlassen.