Ein früherer Richter wird wegen Vergewaltigung einer Praktikantin verurteilt. Der Prozessverlauf vor dem Churer Gericht sorgte für Empörung.
Erneut stösst ein Vergewaltigungsfall in der Schweiz auf grosses Interesse. Am Dienstag hat das Regionalgericht Plessur in Chur einen Mann verurteilt, weil er seine damalige Praktikantin vor drei Jahren vergewaltigt habe. Besondere Brisanz hat der Fall, weil der Verurteilte selber als Richter tätig war. Das Gericht sprach den Mann zusätzlich wegen Drohung und sexueller Belästigung schuldig. Es verurteilte ihn zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr und elf Monaten sowie zu einer Geldstrafe von insgesamt 5400 Franken. Das geht aus einer Medienmitteilung des Gerichts hervor.
Die Strafe wird allerdings nur bedingt ausgesprochen. Lässt sich der Verurteilte während einer Probezeit von zwei Jahren nichts zuschulden kommen, muss er die Strafe nicht antreten. Einzig eine Busse in Höhe von 2300 Franken muss der Mann bezahlen. Pikant dabei: Hätte das Gericht eine um einen Monat höhere Freiheitsstrafe ausgesprochen, hätte der Verurteilte die Strafe unbedingt absitzen müssen. So sieht es das Strafgesetzbuch (StGB) vor. Die Bündner Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren beantragt.
78 Prozent sind in einer Umfrage für härtere Strafen
Das für eine Vergewaltigung eher tiefe Strafmass dürfte die Debatte über eine weitere Verschärfung des Sexualstrafrechtes weiter anheizen. Schon seit längerer Zeit werden Schweizer Gerichte für angeblich zu milde Urteile bei schweren Sexualdelikten kritisiert. So sagte die Erste Staatsanwältin des Kantons Basel-Landschaft, Patrizia Krug, kürzlich in einem Interview mit der NZZ, die Gerichte sähen selbst bei sehr brutalen Fällen von der Höchststrafe ab: «Ich frage mich oft, was es braucht, damit das Gericht eine höhere Strafe ausspricht.» Auch eine Umfrage im Auftrag des «Nebelspalters» zeigte kürzlich, dass 78 Prozent der Befragten höhere Strafen für Vergewaltiger fordern.
Weil die schriftliche Begründung im Churer Vergewaltigungsfall bis jetzt nicht vorliegt, lässt sich noch nicht im Detail sagen, wie das Gericht zu seinem Strafmass gekommen ist. Bei Personen, die nicht vorbestraft sind, sind bedingte Strafen selbst bei schweren Delikten jedoch keine Seltenheit. Dennoch sorgen solche Urteile regelmässig für Unverständnis, so im vergangenen Jahr auch in Zürich: Damals sprach das Bezirksgericht einen 23-jährigen Mann wegen der Vergewaltigung eines Au-pairs schuldig. Dennoch verhängte das Gericht auch in diesem Fall nur eine bedingte Strafe in Höhe von 22 Monaten.
Rechtskommission will Strafmass diskutieren
Die Kritik an angeblich zu milden Urteilen zielt auf einen Effekt, auf den Ermittler schon lange aufmerksam machen: Viele Opfer von Sexualdelikten zögern, Anzeige zu erstatten – aus Angst, dass ein Strafverfahren zur Tortur wird, während die Beschuldigten am Ende doch verschont bleiben. Das Thema ist deshalb ein politischer Dauerbrenner. Auch während der Debatte über das neue Sexualstrafrecht wurde für Vergewaltigung mit Nötigung von mehreren Parteien eine Mindeststrafe von zwei Jahren gefordert. Der Antrag erwies sich als nicht mehrheitsfähig. Letzte Woche hat die Rechtskommission des Nationalrates angekündigt, im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen erneut zu prüfen, «ob die Regeln der Strafzumessung im Strafgesetzbuch allenfalls zu konkretisieren sind».
Der Kommissionsentscheid wurde nicht zuletzt aufgrund eines Bundesgerichtsurteils getroffen, das für grosse Empörung gesorgt hatte. Das Bundesgericht hatte darin gesagt, dass eine «relativ kurze Dauer» einer Vergewaltigung ein Grund für eine Strafmilderung sein könne. Inzwischen hat das Bundesgericht die «unangemessene Formulierung» korrigiert: Es stellte im Oktober in einem weiteren Urteil klar, dass die Dauer einer Vergewaltigung bei der Strafzumessung «in keinem Fall zugunsten des Täters berücksichtigt» werden dürfe. Umgekehrt könne es sich erschwerend auf die Schuld des Täters auswirken, wenn die Länge der Tat auf eine erhöhte kriminelle Energie schliessen lasse.
Wenn das Opfer für die Tat mitschuldig sein soll
Manchmal vermisse sie den Fokus auf die Täterschaft und auf das, was sie getan habe, kommentierte die Staatsanwältin Krug die anhaltende Debatte gegenüber der NZZ. Auch dies zeigte der Churer Fall gut. Zwar gelangte das Gericht nach zweitägiger Verhandlung zum Schluss, dass die Aussagen der Frau glaubhaft sind. Doch zuvor sah sich diese laut Schilderungen von Prozessbeobachtern mit Formulierungen konfrontiert, die ihre Mitschuld an der Tat implizieren.
So wollte einer der Richter im Verlaufe der Verhandlung von der Frau wissen, ob sie nicht hätte die Beine stärker zusammenpressen können, um der Vergewaltigung zu entgehen. Die Frage löste Empörung und eine spontane Kundgebung aus. Die Verteidigung argumentierte kurz darauf, die Frau sei eine «Femme fatale» gewesen, die nicht mehr in der Lage gewesen sei, das von ihr entfachte Feuer zu löschen.
Die Befürworterinnen und Befürworter des revidierten Sexualstrafrechtes erhoffen sich, dass solche Muster als Folge der Modernisierung des Vergewaltigungs-Tatbestandes zurückgedrängt werden können. Das neue Recht ist am 1. Juli in Kraft getreten. Der Churer Fall, der sich 2021 ereignete, wurde noch nach altem Recht beurteilt. Inwiefern sich die Reform auf den Umgang mit Opfern von Sexualdelikten vor Gericht positiv auswirken wird, wird sich also erst in einigen Jahren zeigen.