Im letzten Jahr haben doppelt so viele Menschen der katholischen Kirche den Rücken gekehrt wie im Vorjahr. Auch die Reformierten leiden.
Der katholischen Kirche gehe es derzeit wie den Einwohnern von Brienz in Graubünden, sagt Urs Brosi von der Organisation der kantonalen Landeskirchen: «Wir wissen, dass der Berg kommt – stoppen können wir ihn nicht.» Der Berg, das ist im Fall der Kirche die Säkularisierung. Diese führt zu einem rasanten Schwinden durch die Austritte der Mitglieder.
Und dieser Exodus hat im letzten Jahr nochmals grössere Ausmasse angenommen: 67 000 Personen sind aus der katholischen Kirche ausgetreten – das sind fast doppelt so viele wie 2022. Das zeigt die neuste Kirchenstatistik des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) in St. Gallen.
Der Grund für diesen Rekordwert ist offenkundig: Die Missbrauchs-Studie, die im September 2023 erschien und 1000 Fälle von Übergriffen dokumentierte, brachte der Kirche einen gewaltigen Reputationsschaden ein. Ebenso weitere Medienberichte über heute noch amtierende Bischöfe, die problematische Priester aktiv schützten oder zu wenig energisch gegen sie vorgingen.
Irrelevante Kirche
Die Zahlen der Kirchenstatistik würden «laut sprechen», sagte der abtretende St. Galler Bischof Markus Büchel bei der Präsentation der Statistik. «Die Austritte resultieren zu einem grossen Teil aus Empörung und Enttäuschung über die katholische Kirche, über die Verantwortlichen und nicht zuletzt über die Bischöfe. Dem stellen wir uns.» Die Kirche sei für viele Menschen «irrelevant» geworden, konstatiert Büchel. «Jetzt müssen wir bescheidener werden.»
Auch die Zahl der katholischen Taufen sank weiter, nur während der Corona-Jahre lag sie noch tiefer. Längst können die jungen Neumitglieder die Verluste durch Todesfälle nicht mehr kompensieren. Die gesamte Zahl der Schweizer Katholiken liegt bei nur noch knapp 2,8 Millionen. Das sind 400 000 weniger als im Jahr 2014. Damals erreichte die Kirche ihren historischen Höchststand an Mitgliedern – allerdings nur dank der starken Zuwanderung aus Südeuropa.
SPI-Leiter Arnd Bünker spricht von einem «Trend der Entfremdung». Die Eltern würden noch in der Kirche bleiben, nähmen aber immer weniger am Kirchenleben teil und liessen ihre Kinder nicht mehr taufen. «So bricht eine oft jahrhundertealte Tradition der familiären Weitergabe der Kirchenmitgliedschaft ab.»
Die Engagierten sind noch da
Immerhin würden frühere Erfahrungen zeigen, dass von Empörung getriebene Austrittswellen wieder abebben, sagte Bünker. Er rechnet entsprechend für 2024 nicht mit neuen Rekordwerten. Und wie eine Umfrage im Bistum St. Gallen ergab, bleibt die Zahl der Freiwilligen relativ konstant. Den Kirchen brechen also die distanzierten Mitglieder weg, der «harte Kern» der Engagierten bleibt ihnen jedoch noch erhalten – jene Leute, die das soziale Leben in den Kirchgemeinden prägen.
Auf den ersten Blick ist erstaunlich, dass auch die Reformierten nach der Publikation der Missbrauchs-Studie 30 Prozent mehr Austritte hinnehmen mussten. Doch schon in der Vergangenheit hatte sich gezeigt, dass sich Berichte über sexuelle Übergriffe bei den Katholiken ebenfalls auf die Protestanten auswirken.
Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), weist darauf hin, dass es eine langfristige Erosion der reformierten Basis gebe. Viele Mitglieder seien institutionell nur noch lose mit der Kirche verbunden. «Die mediale Präsenz des Missbrauch-Themas hat sie an ihre Kirchenmitgliedschaft erinnert und den längst beschlossenen Austritt umsetzen lassen», meint Famos.
Reformierte Selbstkritik
Den Fehler will sie nicht allein bei der römisch-katholischen Kirche suchen. Famos übt auch Selbstkritik: «Es ist uns in vielen Fällen nicht gelungen, glaubwürdig, relevant und nahe bei den Menschen zu sein, die dann ausgetreten sind.»
Dennoch titelt die EKS eine Medienmitteilung fast schon trotzig: «Reformierte Kirche verliert Mitglieder, bleibt aber starke gesellschaftliche Kraft». Die diakonischen, kulturellen und sozialen Angebote der Kirche würden Menschen in allen Lebenslagen erreichen, betont Famos.
«Denken Sie an die Deutschkurse für Migranten, an kirchliche Orte, an denen Kaffee, eine Spielecke und ein offenes Ohr gegen die Vereinsamung helfen, oder an die oft eintrittsfreien Kulturveranstaltungen und Konzerte.» Auch die «Letzte Hilfe»-Kurse seien ein Erfolg. Dort tauschen sich Menschen darüber aus, wie sie ihre Angehörigen beim Sterben begleiten können.