Cochinita pibil gehört zu den grossen Klassikern der Küche von Yucatán. Traditionell wird das Schweinchen in einem Pib geschmort, einem Erdofen, wie er in diesem Teil Mexikos typisch ist.
Cochinita pibil – Hals vom Schwein mit Bitterorange und Annatto geschmort und zerpflückt
Orientierungslos stottert ein Wanderfalter durch die offene Türe, zittert auf die nackte Glühbirne zu, die gleissend hell unter dem Strohdach hängt, versucht erst mit den Beinchen zu landen, wirft sich dann mit den gelb leuchtenden Schwingen gegen das heisse Glas, wieder und wieder. Plötzlich, als hätte ihn der Schnäpper einer unsichtbaren Peitsche getroffen, wird der Körper auf meinen Tisch geschleudert, die Flügel kleben sofort an einer Ölspur fest, jede Bewegung reisst die Schwingen jetzt in Fetzen, doch immer noch zappelt das Tier, will es, muss es zurück auf seine Route.
Die Wirtin tritt an meinen Tisch, zupft ein Serviettchen aus der Plastikbox, wischt den Falter mitsamt dem Öl von dem lackierten Holz weg, zerknüllt das Papier zu einer Kugel, drückt sich diese in die Höhlung der Linken, legt einen kleinen Schreibblock mit rosafarbenen Linien darüber, wendet mir ihr Gesicht zu und lässt eine müde Freundlichkeit in ihre Runzeln gleiten: «Guten Abend, mein Herr, was möchten Sie denn essen?»
Ich bin der einzige Gast im Restaurant Doña Tina, das mitten in Tulum an der Carretera Federal 307 liegt, einer nahezu kurvenlosen Fernstrasse, die von Cancún bis Chetumal der Ostküste von Yucatán folgt. Alle anderen Touristen stehen gleich nebenan bei «La Chiapaneca» für Tacos an – das Lokal wird von «Lonely Planet» in den höchsten Tönen gelobt. Immerhin bin auch ich nicht ganz zufällig hier. Ein Strassenhändler, bei dem ich um Minuten zu spät einen Teller Kutteln essen wollte, legte mir Doña Tina als «bueno y barato» («gut und günstig») an mein hungriges Herz.
In dem grossen, luftigen Raum fühlt man sich fast wie in einem Gotteshaus oder wenigstens wie im Mehrzwecksaal einer Kirchgemeinde. Direkt neben mir, auf einem runden Tischchen mit weisser Häkeldecke, steht eine stattliche Madonna, beleuchtet von einer Kerze im Glas, verehrt mit einer eigenwilligen Mischung aus künstlichen Blüten, frischen Hortensien und Rosen. An einem Pfeiler ist mit Klebestreifen ein Schild befestigt, das die geistliche Lage unmissverständlich klärt: «Dies ist ein katholisches Haus. Wir akzeptieren keine Propaganda, weder von Protestanten noch von anderen Sekten. ¡Viva Cristo Rey!» An der Rückseite des Lokals, vor einer Wand, die mit einem schwarzen Tuch verhängt wurde, steht ein weiterer Altar. Im Zentrum, silbern gerahmt, das schwarz-weisse Foto einer jungen Frau mit einer etwas altmodischen Frisur.
Ich deute auf das Bild und frage, ob das vielleicht Doña Tina sei. Doch die Wirtin zieht bloss die Augenbrauen hoch, lacht dann, als hätte ich einen leicht deplatzierten Scherz gemacht, und fragt mich erneut, was ich essen wolle.
«Was können Sie mir denn heute empfehlen?»
«Wir sind berühmt für Zitronensuppe und für Cochinita pibil.»
«Gut, dann nehme ich das.»
«¿Los dos?»
«Con gusto!»
«Si quiere . . .»
Tatsächlich ist die Sopa de lima, die wenig später auf meinem Tisch steht, eigentlich bereits eine Hauptspeise – eine gesäuerte Brühe mit viel Hühnerfleisch und rohen Zwiebeln, in der man Tacos einweicht, bis sie eine wächserne Konsistenz annehmen. Dann wird Cochinita aufgetischt, ein Knäuel aus orangebräunlichem, in Fasern zerpflücktem Schweinefleisch, aus dem ein leicht klebriger Saft in den Teller läuft. Dazu gibt es rote Zwiebeln, Reis, ein Stück Avocado, schwarze Bohnen, eine Sauce aus grünem Habanero-Chili und Tortillas. Das Fleisch schmeckt nach gekochten Kräutern, nach Früchten, nach feuchtem Leder, leicht säuerlich, leicht scharf, leicht bitter und auf eine Weise voll und saftig, die in der Gegend des Kiefergelenks eine Art Kräuseln provoziert – als zittere da plötzlich ein uralter, animalischer Nerv unruhig in seinem zivilisierten Schlaf.
Cochinita pibil gehört zu den grossen Klassikern der Küche von Yucatán. Cochinita nennt man hier ein Cochinillo, ein junges Schwein, ein Spanferkel, heute wird das Gericht jedoch oft mit Schulter oder Hals zubereitet. Pibil bedeutet, dass das Schweinchen traditionell in einem Pib geschmort wird, einem Erdofen, wie er für die Küchentradition in diesem Teil Mexikos typisch ist. Schon die alten Maya sollen, längst vor Ankunft der ersten Spanier, Fleisch auf diese Weise zubereitet haben. Da der Vorgang aufwendig ist, wird er, heute zumindest, meist nur noch im Rahmen von grösseren Festen praktiziert.
Für die Marinade, in der das Fleisch einige Zeit ziehen sollte, werden zwei Zutaten verwendet, die sehr typisch sind für die Küche von Yucatán und auch in vielen anderen Rezepten (Tikin xic, Poc chuc, Relleno negro) eine Rolle spielen: Bitterorange und Annatto. Orangen wurden von den Spaniern in der Neuen Welt eingeführt und wachsen in Yucatán heute in jedem Garten. Annatto (Bixa orellana), auch Achiote oder Ruku genannt, sind die Samen eines Strauchs, der überall im tropischen Mittelamerika wild vorkommt. Die rötlichen Körnchen haben nur wenig Aroma, gelten aber dennoch als Gewürz. In präkolumbianischer Zeit wurden sie als Medizin und zum Färben eingesetzt. Die Maya zum Beispiel benutzten Achiote, um ihrer Trinkschokolade eine Ähnlichkeit mit Blut zu geben. In Europa setzt man Annatto seit dem 18. Jahrhundert ein, um Käse (Cheddar, Mimolette, Shropshire Blue) zu färben, an Ostern auch Eier.
Annatto bekommt man in guten Gewürzhandlungen, Drogerien oder Geschäften mit Spezialitäten aus Mittelamerika. Es wird auch als Paste verkauft, eine bekannte Marke heisst El Yucateco. Annatto lässt sich nur schwer durch andere Zutaten ersetzen, denn es verleiht dem Gericht seine charakteristische, orangebräunliche Farbe. Bitterorangen werden jeweils um die Weihnachtszeit herum aus Spanien und Italien in die Schweiz importiert, jedoch auch dann bloss in spezialisierten Geschäften angeboten. Man kann sie durch eine Mischung aus Orangen-, Grapefruit- und Limettensaft ersetzen. Cochinita pibil ist kein besonders scharfes Gericht, und nicht in allen Rezepten kommen auch Chilis mit in die Marinade.
Während ich im Restaurant Doña Tina auf die Rechnung warte, fällt mir wieder ein, dass Cochinita pibil im Western «Once Upon a Time in Mexico» eine Art Leitmotiv darstellt. Johnny Depp, der einen CIA-Agenten mimt, bestellt das Gericht bei jedem Besuch in einem Lokal, dazu Tequila mit Zitrone. Er erschiesst sogar einen Koch, weil ihm dessen Puerco pibil «zu gut» schmeckt und er «das Gleichgewicht im Land wieder herstellen» will.
Lustigerweise geht in ebendiesem Moment die Küchentüre auf, und drei rundliche Damen treten heraus, gefaltete Schürzen unterm Arm und Handtaschen am Handgelenk. Die letzte knipst die Lichter über dem Herd aus. Sie trippeln an meinem Tisch vorbei, winken scheu, kichern und verschwinden in der Nacht. «Gracias, su cochinita pibil está muy rica!», rufe ich den Köchinnen nach, doch ich glaube nicht, dass sie mich noch hören.
Zutaten (für 6 Personen)
- 1,5 kg Hals vom Schwein
- 2 TL Koriandersamen
- 1 TL Kreuzkümmel
- 3 g Zimtstange, zerbrochen
- 3 Gewürznelken
- 5 TL Annatto
- 3 TL Piment
- 2 TL getrockneter Oregano
- 1 TL getrockneter Thymian
- 3 TL Salz
- 6 Knoblauchzehen
- 1 Habanero-Chili, entkernt und gehackt
- 1 TL Zucker
- 250 ml Orangensaft, entspricht dem Saft von 2 Orangen
- 150 ml Grapefruitsaft, entspricht dem Saft von 1 Grapefruit
- 100 ml Limettensaft, entspricht dem Saft von 1 Limette
- 2 Bananenblätter
- Etwas Salz zum Abschmecken
Zubereitung (Marinierzeit 24 Stunden, 4,5 Stunden Vorbereiten und Schmoren)
- Schweinefleisch der Länge nach in sechs Tranchen zerlegen.
- Koriander, Kreuzkümmel, Zimt und Nelken in einer nicht beschichteten Stahlpfanne rösten, bis es duftet.
- Geröstete Gewürze, Annatto und Piment in einer elektrischen Kaffeemühle zu einem Pulver verarbeiten. Mit Oregano, Thymian und 3 TL Salz vermischen.
- Knoblauch, Chili und Zucker im Mörser zu einer Paste zerreiben.
- Orangen-, Grapefruit- und Limettensaft mit der Gewürzpaste und der trockenen Gewürzmischung verrühren. Marinade mit dem Fleisch vermischen und 24 Stunden im Kühlschrank ziehen lassen.
- Bananenblätter säubern und in zwei Bahnen so in einem grossen, ofentauglichen Topf auslegen, dass ein Stück der Blätter über den Rand hinausragt. Schweinshals und Marinade hineingeben. Blätter über dem Fleisch zuklappen. Deckel aufsetzen, Topf in den 150 °C heissen Ofen schieben, 4 Stunden schmoren lassen. Das Fleisch sollte zu Beginn der Kochzeit ganz von Marinade bedeckt sein. Je nach Topf kann es nötig sein, etwas Wasser hinzuzufügen.
- Fleisch aus dem Blätterpaket heben, Sauce auffangen. Blätter entsorgen. Fleisch mit zwei Gabeln in längliche Fasern zerzupfen und mit der Sauce in einen frischen Topf geben.
- Vor dem Essen das Fleisch nochmals ungefähr 20 Minuten köcheln lassen, bis nur noch wenig Sauce übrig ist. Mit Salz abschmecken.
- Man kann die Cochinita in Tortillas packen und so als Taco mit den Fingern verzehren. Ich serviere das Fleisch auch gerne mit weissem Reis, der die Sauce gut aufnimmt. Rote Zwiebeln geben dem Gericht Frische, ein Stück Avocado macht das Gefühl im Mund lieblicher, schwarze Bohnen steuern Stärke bei, und die Habanero-Sauce sorgt für Feuer am Gaumen.