Die Komponistin wurde von Mahler und Tschaikowsky geschätzt, wichtige Dirigenten setzten sich für sie ein, obwohl sie eine Suffragette war. Ihre Parabel «The Wreckers» könnte die erste Oper einer Frau sein, die dauerhaft ins Repertoire zurückkehrt.
Ihr populärstes Werk ist «The March of the Women». Seit der Uraufführung am 21. Januar 1911 auf der Pall Mall in London, bei einer Demonstration zur Feier der Entlassung von Aktivistinnen der «Women’s Social and Political Union» aus dem Holloway Prison, ist diese Hymne vieltausendmal gesungen worden. Ethel Smyth sass selbst ein Jahr später in Holloway ein. Der Grund: Sie hatte, gemeinsam mit anderen Suffragetten, die Fensterscheiben im Privathaus eines Ministers eingeschlagen.
Ihr Freund und Förderer, der Dirigent Sir Thomas Beecham, besuchte sie in der Haft. Er schildert in seinen Memoiren, wie die Frauen im Gefängnishof, im Kreis marschierend, aus voller Kehle diesen «war-chant» schmetterten, während die Komponistin, huldvoll aus dem Zellenfenster blickend, «in geradezu bacchantischer Ekstase den Takt dazu schlug, mit ihrer Zahnbürste». Nur eine von vielen wahren Geschichten, die sich alsbald in Anekdoten verwandelten. Die wilde Ethel ist als spleenige Britin in die Musikgeschichte eingegangen – paradoxerweise weniger um ihrer Musik willen als wegen ihrer freien Lebensführung, die dem viktorianischen Ideal von Weiblichkeit nicht entsprach.
Richtig ist: Sie liebte Männer, aber auch Frauen. Sie war selbständig und blieb unverheiratet. Richtig ist auch: Sie kämpfte zwei Jahre lang an vorderster Front für das Frauenwahlrecht. Smyth schrieb flammende Essays und Berge von Tagebüchern. In der Rezeptionsgeschichte aber spielt das Skurril-Biografische bis heute noch immer eine sehr viel grössere Rolle als die Tatsache, dass sie zu den kreativsten und erfolgreichsten Komponisten ihrer Generation gehörte.
«Ein wirklicher Komponist»
Ihre Hochbegabung wurde anerkannt, ihre Werke wurden aufgeführt. Nicht nur die Lieder und Kammermusiken – wie bei vielen Komponistinnen jener Zeit, die eher im Kleinen wirkten. Ethel Smyth komponierte für das grosse Publikum. Brahms und Wagner waren ihre musikalischen Idole, sie kannte die Stücke des jungen Richard Strauss, von Tschaikowsky lernte sie Instrumentieren. Allein sechs Opern brachte sie zur Uraufführung, inklusive Folgeaufführungen in Leipzig, Prag, Berlin, London und New York. Nicht nur Beecham, auch Arthur Nikisch, Gustav Mahler, Bruno Walter und Sir John Barbirolli setzten sich für sie ein. Diese Frau sei, erklärte Walter, nachdem er in Wien erste Kostproben aus «The Wreckers» am Klavier gehört hatte, «ein wirklicher Komponist».
Ethel Smyth verschwand nie ganz vom Radar, eigentlich muss sie heute nicht «wiederentdeckt» werden. Das durchaus launische Glück der frühen Aufführungsgeschichte schrieb sich fort, zu ihren Lebzeiten und darüber hinaus. In den 1970er und 1980er Jahren sorgten die Anfänge der musikologischen Genderforschung für eine erste kleine «Smyth-Renaissance». Aber neuerdings ist geradezu ein «Smyth-Boom» zu verzeichnen: Eine unbekannte Frauenoper nach der anderen taucht auf aus den Archiven – und was Smyth angeht: Sie ist die Mode der Saison.
Der Startschuss fiel 2022 in Glyndebourne mit «The Wreckers», einem grossen tragischen «Seapiece» in drei Akten, das nachweislich als Inspiration für Benjamin Brittens «Peter Grimes» gedient hat. Das Stück gilt als Hauptwerk Smyths, längst gibt es eine Gesamteinspielung, aufgenommen 1994 in der Royal Albert Hall. In Glyndebourne präsentierte man es in der quellenkritisch recherchierten französischsprachigen Originalfassung «Les Naufrageurs», mit rund dreissig Minuten mehr Musik als bis dato bekannt. Seither folgten Produktionen von weiteren szenischen Smyth-Werken: «The Boatswain’s Mate» in London und Buxton, «The Forest» in Wuppertal und Berlin und «The Prison» am Theater Darmstadt. Gegenwärtig sind zwei Neuinszenierungen von «The Wreckers» zu besichtigen, in Karlsruhe und in Meiningen; das Staatstheater Schwerin legt im Februar 2025 mit einer dritten nach.
Ertrinken, versinken
Szenisch lohnender ist die konventionelle Karlsruher Arbeit von Keith Warner. Musikalisch dagegen, auch was die Sängerbesetzung anbelangt, lautet die Empfehlung: auf nach Meiningen. Hofkapelle und Chor haben hier unter der Leitung des Generalmusikdirektors Killian Farrell enorm an Format gewonnen. Er ist erst dreissig, aber schon ein gestandener Kapellmeister, der absolute Präsenz herstellt, von der ersten scharf geschneiderten Unisono-Fanfare an. Tonmalerisch brandet das Meer ans Riff im wuchtigen Vorspiel, bevor der erste pseudofromme Choral ertönt. Aber es gibt auch, leitmotivisch implantiert schon zu Beginn, betörend melodiensatte Soli, die auf die langen lyrischen Arien und Duette im zweiten Akt vorgreifen.
In phantastisch mobilen Chor-Tableaus erzählt «The Wreckers» die alltägliche Story, wie Lynchjustiz entsteht. Eine verarmte Dorfgemeinschaft verwandelt sich in einen mörderischen Mob. Planmässig werden die Feuer des Leuchtturms gelöscht, um Handelsschiffe zum Kentern zu bringen. Deren Ladung wird gekapert, die Besatzung getötet – und zwar, wie es der Pfarrer von der Kanzel predigt: mit dem Segen des Herrn. Damit opfert die Gesellschaft ausser Gewissen und Moral auch die eigene Jugend.
Thursa und Marc heissen die beiden jungen Menschen, die sich dem Mordgeschäft widersetzen. Sie zünden heimlich Leuchtfeuer an, werden erwischt, verurteilt und sterben gemeinsam den Liebestod: ertrinken, versinken in einer zugesperrten Felsenhöhle, als die Flut steigt. Ein grosser Mezzosopran ist da gefordert (Karis Tucker), ein echter Heldentenor (Alexander Geller). Bedauerlich nur, dass der Regisseur Jochen Biganzoli der vielschichtigen Wucht der spätromantischen Musik bloss ein schnödes Lehrstück entgegenstellt: mit leerer Bühne und politischen Schlagworten, schwarz auf weiss gemalt, wie auf einem Flipchart. Als wäre das Opernhaus eine Klippschule. Katharsis funktioniert anders.
Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet kleinere Opernhäuser mit gutem Beispiel vorangehen in Sachen Smyth. Jetzt wäre es an der Zeit für die grossen Häuser und Festivals, Flagge zu zeigen. Wie wäre es zum Beispiel in Salzburg, Aix oder Zürich mit der vierten Oper von Smyth, «The Boatswains’s Mate», die letztmals 2014 am Luzerner Theater gezeigt wurde, mit schönem Erfolg? Sie ist kurz und lustig, das Risiko entsprechend überschaubar: eine einaktige Buffa, in der viel getrunken und geschossen wird. Nebenbei hat Ethel Smyth in diesem Stück ihren Suffragettenmarsch an passender Stelle noch einmal weiterverarbeitet.