In Brienz, wo gerade für 40 Millionen Franken ein Entwässerungsstollen gebaut wird, leben 80 Personen. Wäre es nicht ökonomischer, jedem Dorfbewohner eine halbe Million zu geben und ihn ziehen zu lassen?
Zum Beispiel Guttannen. 1057 Meter über Meer, 270 Bewohner, gelegen am historischen Säumerweg Via Sbrinz. 1999 riss eine Lawine Baumstämme mit, knickte Hochspannungsleitungen und begrub 10 Kühe und 25 Hühner unter sich. 2005 löste starker Regen einen der grössten Murgänge der Alpen aus und füllte die Dorfstrassen mit Schlamm, Schutt und Steinen.
Seither taut der Permafrost jeden Sommer etwas mehr auf, die Bäche tragen immer mehr Geschiebe und Geröll mit. Bereits 2013 wurde darüber diskutiert, ob man einen Teil des Dorfes aufgeben sollte. Doch die 60 Menschen, die dort leben, blieben im Vertrauen auf die Statistik. Studien hatten ergeben, dass die Wahrscheinlichkeit eines Murgangs nur wenige Prozent betrug. Wer Angst hat, hat das Dorf mittlerweile verlassen. Die anderen wollen bleiben. Mein Guttannen, meine Heimat.
Im Juli dieses Jahres sagte Lukas Rühli, der Forschungsleiter der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse, einen Satz, der ihn noch lange verfolgen sollte: «Es gibt sicher einzelne Täler und einzelne Siedlungen, für die sich die Frage stellt, ob sie in Zukunft aufrechterhalten werden können.» Unwetter hatten im Wallis und im Tessin grosse Schäden angerichtet. Der Schweizerische Versicherungsverband ging in einer ersten groben Schätzung davon aus, dass die Unwetter versicherte Gesamtschäden von 160 bis 200 Millionen Schweizerfranken verursacht hatten.
In den betroffenen Gebieten reagierte man empört. Bergbewohner mögen es nicht, wenn Unterländer auf ihre Kosten anfangen zu rechnen, und sie mögen es erst recht nicht, wenn man über sie redet wie Henry Morton Stanley im 19. Jahrhundert über die Afrikaner.
Rühli hat nie gefordert, dass die Schweiz Dörfer aus ökonomischen Gründen aufgeben muss. Aber er hat eine Frage aufgeworfen, die sich der Schweiz in Zukunft immer öfter stellen wird. Wann muss ein Dorf aufgegeben werden? Und wer entscheidet eigentlich, ob Menschen ihre Heimat verlassen müssen? Der Bund? Die Kantone? Die Mehrheit?
In Brienz, wo die Menschen ihre Häuser bis Sonntag verlassen haben müssen, stellt sich diese Frage bereits zum zweiten Mal. 80 Menschen leben noch im Dorf. Weil der Hang oberhalb der kleinen Siedlung – gesättigt von enormen Wassermengen – immer schneller abrutscht, wird gerade ein Entwässerungsstollen gebaut. 40 Millionen Franken kostet das Bauwerk. Eine halbe Million Franken für jede Einwohnerin, jeden Einwohner.
Im schlimmsten Fall müssen die Investitionen in die Sicherheit abgeschrieben werden. Der Stollen wird erst Ende 2027 fertig. Vielleicht hat ein Schuttkegel das Dorf Brienz dann bereits unter sich begraben.
Wäre die Schweiz eine Diktatur oder ein von Beamten in der Hauptstadt verwalteter Zentralstaat, wären Dörfer wie Brienz wohl schon lange geräumt. Im ersten Fall durch Zwangsräumung, im zweiten durch Raumplanung, Verbote und den Verzicht auf staatliche Unterstützungsgelder.
Die Schweiz ist anders. Evakuiert wird, wenn akute Lebensgefahr besteht, nicht aus ökonomischem Kalkül. Das Land lässt sich seine Berge einiges kosten. Der interkantonale Finanzausgleich und verschiedene Fördertöpfe sorgen dafür , dass sich der Alpenraum nicht entvölkert. Rein rechnerisch lohnt sich das für die Menschen in den Alpen nicht. Schon vor zwanzig Jahren ergab eine Studie des Schweizerischen Nationalfonds, dass jeder Bergbewohner mit 3300 Franken pro Jahr unterstützt wird. Trotzdem lag das Einkommen 21 Prozent unter dem schweizerischen Durchschnitt.
Laut Bund leben 1,8 Millionen Menschen in potenziell gefährdeten Gebieten. Was das bedeutet, erfuhren 2014 die Besitzer einer Liegenschaft im begehrten Weggis am Vierwaldstättersee. Die Gemeinde hatte 2005 den Abbruch von fünf Häusern am Fuss der Rigi beschlossen: Die Gefahr durch Steinschlag war enorm gestiegen.
Die Liegenschaftenbesitzer zogen die Enteignung bis vor Bundesgericht. Doch dieses entschied, die Massnahme diene der Sicherheit der Bewohner, und lehnte eine Entschädigung nach Baulandwert ab. Aus einer wertvollen Liegenschaft mit Seeblick wurde ein Abbruchobjekt.
Die Schweiz hat kein Interesse daran, dass sich der Alpenraum entvölkert und alle in die Agglomeration ziehen. Der interkantonale Finanzausgleich trägt viel zum Zusammenhalt des Landes bei. In einer direkten und föderalistischen Demokratie, die ihr Selbstverständnis auch aus dem Mythos der Alpen herleitet, werden keine Dörfer per Federstrich aufgehoben, jedenfalls nicht aus finanziellen Gründen.
Doch für Siedlungen und Liegenschaften in Hochrisikogebieten stellt sich die Kosten-Nutzen-Frage spätestens seit der zweiten Evakuierung von Brienz. Zuerst den Betroffenen selbst. Noch vor einem Jahr war Rühlis Einwurf ein Tabubruch. Heute ist er ökonomische Realität.